Spätfolgen durch Covid-19 – was sind die Ursachen?

Die Pandemie wird eine Welle chronischer Erkrankungen nach sich ziehen. Doch durch welche Vorgänge im Körper werden diese Spätfolgen der Infektion mit dem neuen Coronavirus Sars-CoV-2 ausgelöst?

vom Recherche-Kollektiv Postviral:
8 Minuten
Ein junger Mann sitzt erschöpft auf dem Boden. Sein Gesicht ist nicht zu sehen, er hat den Kopf auf seine verschränkten Arme abgelegt.

Die 28-jährige Ärztin hatte sich bei einer Patientin im Krankenhaus angesteckt und bekam die typischen Symptome: hohes Fieber, Husten, Kopfschmerzen. Sie fühlte sich abgeschlagen und müde. Jetzt, knapp fünf Monate später, ist die junge Medizinerin immer noch nicht fit. Sie arbeite zwar wieder, aber besonders im Dienst quäle sie die Müdigkeit, schildert sie im RiffReporter Magazin „#50survivors – Was es heißt, Covid-19 überlebt zu haben“. „Der Alltag fällt mir schwer, ich bin viel schneller erschöpft, (..) Welten von meiner eigentlichen Fitness entfernt. Ich fühle mich wie eine alte Frau (..). Corona hat mir meine Lebensenergie geraubt.“

Welche Spätfolgen gibt es, wie häufig sind sie?

Die 28-Jährige ist kein Einzelfall. 70 von 100 Männern und Frauen, die wegen Covid-19 im Krankenhaus lagen, haben auch Wochen und Monate nach der akuten Erkrankung noch gesundheitliche Probleme. Laut einer Studie der US-amerikanischen Centers for Desease Control sind auch nach moderatem Covid-19 mehr als ein Drittel der Betroffenen drei Wochen nach dem positiven Virustest noch nicht wieder fit.

Die Betroffenen leiden unter Erschöpfung, Kurzatmigkeit, Konzentrationsproblemen, (Kopf)Schmerzen, Husten, Riech- und Geschmackstörungen oder/und Appetitlosigkeit. In einer Analyse von Botschaften, die LongCovid-Betroffene bei Twitter gepostet hatten, machten indische Psychiater insgesamt über 90 verschiedene episodisch auftretende Symptome aus, die bei der Mehrzahl über längere Zeit (16 bis 20 Wochen) anhielten.

Langzeitschäden nach anderen Infektionskrankheiten

Sars-CoV-2 ist keinesfalls der einzige Krankheitserreger, der die Gesundheit eines Menschen auch nach der akuten Phase einer Infektion anhaltend beeinträchtigen kann. Nach einer durch andere Viren oder Bakterien verursachten Lungenentzündung braucht es für die Erholung nicht selten Monate. Manche Infekte ziehen Herzprobleme nach sich; Schmerzen und Erschöpfung sind eine häufige Folge von Infektionen mit dem Influenza-Virus, dem West-Nil-Virus oder mit dem Epstein-Barr-Virus, das das Pfeiffersche Drüsenfieber auslöst. Manche Bakterien oder das Zika-Virus können das „Guillain-Barre-Syndrom“ auslösen, bei dem die Immunzellen fälschlicherweise Nervengewebe in der Peripherie angreifen. Und auch einige der SARS-Patienten, die während der Epidemie im Jahr 2003 erkrankten, hatten über Jahre mit Erschöpfung, diffusen Schmerzen, Schwäche, Depression und Schlafstörungen zu tun.

Was die Langzeitschäden verursacht – eine Übersicht

Chronische Beschwerden können auftreten, wenn die Schäden irreparabel sind oder es für die Heilung eine längere Zeit braucht. Für die chronischen, wie auch für die akuten Symptome gibt es verschiedene Ursachen:

  1. Weil sich Viren oder krankmachende Bakterien im Körper vermehren, sterben infizierte oder andere empfindliche Körperzellen ab.
  2. Infiziertes oder auch gesundes Körpergewebe wird durch die Aktionen der Immunabwehr geschädigt, zum Beispiel durch die Freisetzung von Entzündungsstoffen oder Substanzen, die die Erreger attackieren sollen.
  3. Das Immunsystem gerät – längerfristig – aus der Balance und beeinflusst andere Organe ungünstig. Dazu kann auch das Zentrale Nervensystem gehören, das auf die Meldungen immunologischer Botenstoffe reagiert. Ein Phänomen, das wir alle kennen, wenn wir akut mit einem Infekt darniederliegen: Immunbotenstoffe wirken dann so auf bestimmte Hirnregionen ein, dass wir schlapp, müde und appetitlos sind und uns nur schwer konzentrieren können. In der akuten Phase einer Erkrankung unterstützt dieses typische „sickness behavior“ die Genesung, hält es länger an, kann die Erschöpfung selbst zur Erkrankung werden.
  4. Bestehende Krankheiten oder Krankheitsprozesse können sich durch den Infekt verstärken.

Direkter Schaden durch die Virusvermehrung

Das Virus schädigt potenziell zuerst einmal die Körperzellen, in denen es sich überhaupt vermehren kann. Sars-CoV-2 benötigt das Molekül ACE2 um sich an eine Zelle anzuheften, das Molekül TMPRSS2 wird gebraucht, um die Zelle zu kapern. Als mögliche „Virus-Hotspots“ im Körper, die diese molekulare Ausstattung mitbringen, machten Forscher bisher den Nasen-Rachenraum aus, die Atemwege, die Lunge, aber auch Zellen des Darmes, der Nieren, der Bauchspeicheldrüse und der Leber.

Wie folgenreich die Zerstörung von Körperzellen durch das Virus auch außerhalb der hauptsächlich betroffenen Atemwege sein können, zeigt zum Beispiel der Fall eines 19-Jährigen, über den jetzt Ärzte aus Kiel berichten. Der junge Mann war 5 bis 7 Wochen nach einer Infektion mit dem neuen Coronavirus zuckerkrank geworden. Vermutlich hatte das Virus die Insulinproduktion der Bauchspeicheldrüse massiv beeinträchtigt. Die „Beta-Zellen“ der Bauchspeicheldrüse, die das Insulin herstellen, tragen nämlich den Virusrezeptor ACE2. Möglicherweise gingen diese Zellen zugrunde, als sich das Virus in ihnen vermehrte.

Elektronenmikroskopische Aufnahme einer mit Sars-CoV-2 infizierten Körperzelle. Zu erkennen sind die sphärischen Viruspartikel, die von der Zelle produziert worden sind.
Viren, wie hier im Bild Sars-CoV-2, nutzen die molekulare Maschinerie der infizierten Körperzellen, um sich zu vermehren. Wenn die neuen Viruspartikel frei werden, stirbt die Zelle.

Kann sich Sars-CoV-2 in Nervenzellen vermehren?

Sars-CoV-2 kann bis in das Gehirn vordringen, aber ob sich das Virus auch in Nervenzellen vermehren kann, ist noch nicht geklärt. Zunächst schien es, als würden nicht die Nervenzellen, sondern sie umgebenden Unterstützerzellen wie Astrozyten oder Mikroglia infiziert werden können. US-Forscher aus Yale haben nun im Laborexperiment aber doch Hinweise gefunden, dass sich Sars-CoV-2 in den Nervenzellen (der Hinrinde) vermehren kann. Wie häufig das im Krankheitsgeschehen tatsächlich passiert und wie die Viren (in diesen Ausnahmefällen?) in das Gehirn gelangen, ist unklar. Sie könnten sich über das Blut ausgebreitet und schließlich die Blut-Hirn-Schranke überwunden haben oder direkt über die Riechschleimhaut und den Riechnerv ins Gehirn gekommen sein.

Je nach Studie berichten bis über 80% der Covid-19-Patienten von Riech- und Geschmacksstörungen. Die sensorischen Nerven des Riechnervs tragen keine ACE2-Moleküle auf ihrer Oberfläche. Die Virusrezeptoren befinden sich jedoch auf anderen Zellen des Riechepithels – das ist beim Menschen eine 5 bis 10 Quadratzentimeter große Fläche in den Nasenhöhlen, die aus Riechzellen, Stützzellen, Drüsen und anderen Zellen besteht. Vermutlich wird die Störung des Geruchssinns bei Covid-19 durch Schädigungen dieses Riechepithels verursacht und nicht durch Verletzungen der Nervenzellen oder gar ein Eindringen des Virus in das Gehirn.

Die Ambitionen und Möglichkeiten des Virus, bis zum Nervengewebe des Gehirns vorzudringen, sind offensichtlich nicht sehr groß, sein „Neurotropismus“ laut Experten nicht sonderlich ausgeprägt. Zwar konnte das Virus bei einigen wenigen schwer erkrankten PatientInnen nach dem Tod im Gehirn nachgewiesen werden. Die Schäden, die es dort ausgelöst hatte, schienen aber weniger vom Virus direkt auszugehen, sondern mit der Antwort des Körpers auf das Virus zusammenzuhängen: den Entzündungsreaktionen, winzigen Blutungen oder kleinen Blutgerinnseln, die den empfindlichen Nervenzellen zu schaffen gemacht hatten.

Schäden durch das Virus und die Immunabwehr

Wie stark das Virus selbst und in welchem Ausmaß die Immunabwehr für die Gewebeschäden verantwortlich sind, lässt sich meist nicht genau auseinanderhalten. Bei schwerem Covid-19 steigt der Pegel an Entzündungsstoffen im Körper besonders hoch an. Virusinfizierte aber auch andere Körperzellen sterben im Eifer des Abwehrgefechtes. Wie stark die Schäden sind, ist individuell sehr unterschiedlich. Die Lunge ist betroffen, aber auch andere Organe, das Herz, die Nieren und Nebennieren, die Leber, das Gehirn.

Bei schweren Schäden bilden sich Narben im feinen Lungengewebe, der Gasaustausch ist vermindert, die Lungenkapazität sinkt, Kurzatmigkeit ist die Folge. Forscher vermuten, dass 10 bis 30% der Betroffenen zumindest mittelfristig einen Lungenschaden davontragen. In einer Studie hatten 70% der Patienten, die wegen Covid-19 im Krankenhaus gewesen waren, noch einen Monat später Probleme bei der Atmung, knapp 14% mussten auch zuhause mit zusätzlichem Sauerstoff versorgt werden.

Die aus dem Ruder gelaufene Entzündungsreaktion kann das Herz akut und folgenreich schädigen: Komplikationen sind Herzinfarkte, Herzversagen, Herzrhythmusstörungen. Häufig ist die Blutgerinnung gestört. Winzige Blutgerinnsel verstopfen die feinen Gefäße in verschiedenen Organen, sodass zu wenig Sauerstoff in die betroffenen Areale gelangt. Im Zusammenhang mit Covid-19 wurden bisher außergewöhnlich viele Schlaganfälle beobachtet. In einer Kohorten-Studie lag die Schlaganfallquote bei Betroffenen, die sich wegen Covid-19 im Krankenhaus aufhielten, bei 2 bis 6%.

Chronische Erschöpfung

Eines der am häufigsten genannten LongCovid-Symptome – und hier sind nicht nur die schweren Fälle betroffen- ist die Erschöpfung oder Fatigue. Vielen fällt es zunächst schwer, das Bett überhaupt einmal für eine längere Zeit zu verlassen. Die Erschöpfung kann viele Ursachen haben. Die Auseinandersetzung mit dem Virus hat den Körper (auch psychisch) Kraft gekostet. Die Kurzatmigkeit, Schlafstörungen oder gar Herzprobleme können ihren Teil beitragen.

Typische Symptome des Chronischen Erschöpfungssyndrom (Chronic Fatigue Syndrome, CFS) sind Konzentrations- und Gedächtnisprobleme, Niedergeschlagenheit und eine Erschöpfung, die sich trotz Ruhepausen zunächst nicht bessern will. Vom CFS sind Menschen auch in Zusammenhang mit anderen Virusinfektionen oder Krebserkrankungen betroffen; wie es dabei im Einzelnen zu der Erschöpfung kommt, weiß man noch nicht. Möglicherweise hat die heftige Auseinandersetzung mit dem Virus bleibende Spuren auch bei der Immunabwehr hinterlassen und erzeugt über das Wechselspiel zwischen Immun- und Nervensystem die Erschöpfungssymptome.

Auf die Pandemie wird eine Welle chronischer Erkrankungen folgen

Die Langzeitschäden durch Sars-CoV-2 sind aus vielerlei Hinsicht bedeutsam und erfordern große Aufmerksamkeit. Die Erforschung der Zusammenhänge ist extrem wichtig, um die chronischen Covid-Folgen zu verhindern bzw. adäquat behandeln zu können. Zurzeit weiß keiner, wer (wie lange) mit den Nachwirkungen zu kämpfen haben wird. Aktuell sind weltweit über 29 Millionen Covid-19-Fälle erfasst. Auf die Pandemie wird eine Welle chronischer Erkrankungen folgen, fürchten die Experten. Wie groß diese Welle tatsächlich ausfallen wird, ist unbekannt. Spätfolgen wird nicht nur die Person davontragen, die schwer erkrankte. Der Stuttgarter Radiologe Götz Martin Richter beschreibt im Fachmagazin „Science“ wie unberechenbar die Folgen der Coronavirus-Infektion sind: Ein mittelalter Mann mit milder Lungenentzündung sei auch drei Monate nach Covid-19 immer noch extrem müde und nicht in der Lage, wieder zur Arbeit gehen. Einer älteren Dame mit chronischer Leukämie dagegen, die fast am Virus gestorben wäre, gehe es bei minimalem Lungenschaden inzwischen wieder gut.

Quellen:

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