Neues Entzündungssyndrom bei Kindern im Zusammenhang mit Covid-19

Warum wir dringend mehr über das seltene, rätselhafte PIMS-TS wissen müssen

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Strichmännchen in gezeichneten Häusern symbolisieren die häusliche Quarantäne während der Corona-Pandemie.

Am 21. April, gut eine Woche nach Ostern, wird das 11-jährige Mädchen ins Krankenhaus eingeliefert. Seit drei Tagen hat es Fieber, der Bauch tut weh und nicht nur der Nacken, der ganz Körper schmerzt, die Muskeln fühlen sich steif an. Dazu kommen Durchfall und Übelkeit. Zwei Tage später muss das Mädchen auf die Kinderintensivstation des St Mary`s Hospital in London verlegt werden. Ihr Zustand verschlechtert sich, die Entzündungswerte im Blut steigen dramatisch an.

Was ist die Ursache? Eine bakterielle Infektion ist es nicht, Laboruntersuchungen des Blutes und Urins auf Bakterien fallen negativ aus. Während die Ärzte noch rätseln, verschlimmert sich die Lage weiter. Das Herz wird immer schwächer, der Herzmuskel des Kindes ist entzündet. Das Mädchen wird 16 Tage lang an eine Maschine angeschlossen, die sein Blut außerhalb des Körpers mit dem nötigen Sauerstoff versorgt.

Ein PCR-Nachweis auf das neue Coronavirus Sars-CoV-2 ist zunächst unklar, einmal negativ, einmal positiv ausgefallen. Die Röntgenaufnahme der Lunge zeigt deutliche Verschattungen und damit Entzündungsherde im Gewebe an. Das Mädchen wird mit hohen Dosen eines entzündungshemmenden Medikamentes behandelt. Ihr Zustand verbessert sich. Lunge und Herz funktionieren nach und nach wieder fast normal. Der Herzmuskel ist im Bereich der linken Herzkammer jedoch noch vergrößert, das rechte Herzkranzgefäß leicht erweitert.

Kawasaki-ähnliche Erkrankung auffällig häufig während der Sars-CoV-2-Pandemie

Die 11-Jährige in London ist kein Einzelfall. Zeitgleich mit dem Höhepunkt der Sars-CoV-2-Pandemie werden auch in anderen besonders betroffenen Regionen der Welt Kinder in die Krankenhäuser eingeliefert, die an einem Entzündungssyndrom leiden. Das Krankheitsbild ähnelt dem seltenen Kawasaki-Syndrom (KS) – einer Entzündung der Blutgefäße – das der japanische Kinderarzt Tomisaku Kawasaki vor gut 50 Jahren zum ersten Mal beschrieb.

Das Kawasaki-Syndrom, an dem in Japan jährlich 265, in Europa 5 bis 8 je 100.000 Kinder unter 5 Jahren erkranken, äußert sich neben anhaltendem Fieber zum Beispiel auch durch geschwollene trockene Lippen, Hautausschlag, Bindehautentzündung, Schwellungen und Rötungen an Händen und Füßen sowie Abschuppen der Haut an den Fingern.

Sind auch die Herzkranzgefäße von der Entzündung betroffen, kann es zu einem Herzinfarkt kommen oder das Gefäß weitet sich, ein Aneurysma entsteht – Komplikationen, die tödlich enden können. Um dem zu entgehen, ist eine rechtzeitige Behandlung wichtig. Meist kommen hochdosierte Immunglobuline und andere immununterdrückende Medikamente zum Einsatz, die das aufgebrachte Immunsystem besänftigen, die Entzündung bremsen.

In einer Meldung vom 4. Mai 2020 machte das New York City Health Department auf 15 Fälle bei Kindern zwischen 2 und 15 Jahren aufmerksam, die von den Symptomen her identisch mit dem KS waren oder diesem weitgehend glichen.

Am 13. Mai berichteten italienische Ärzte im Fachmagazin „The Lancet“ über ungewöhnlich viele Kinder mit einem Kawasaki-ähnlichen Entzündungssyndrom im Zentrum der Epidemie in Italien, in der Lombardei. In der Zeit zwischen dem 18. Februar und 20. April behandelten die Klinikärzte 10 Kinder zwischen 3 und 16 Jahren und damit 30-mal mehr, als die Statistik sonst für eine solch kurze Zeitspanne erwarten ließ.

Ähnliche Beobachtungen machten Kinderärzte in England und Frankreich. Elizabeth Whittaker vom Imperial College London berichtet bei einer Online-Veranstaltung der European Academy of Paediatrics zu Covid-19 am 11. Juni von 58 Kindern in England. Ihr Kollege, der Kinderarzt und Experte für Infektionskrankheiten Albert Faye vom Robert Debré Universitätskinderhospital in Paris präsentiert bei der gleichen Veranstaltung die Daten von 156 Kindern, die in der Hochphase der Pandemie bzw. kurz danach mit zum Teil schweren Symptomen in die französischen Krankenhäuser eingeliefert wurden. Über die Hälfte der Kinder mussten intensivmedizinisch behandelt werden, ein Kind starb, berichtet Faye.

Zusammenhang mit Sars-CoV-2

Die Häufung während des Höhepunktes der Pandemie dürfte im Zusammenhang mit Sars-CoV-2 stehen. Bei rund der Hälfte der betroffenen Kinder in Frankreich fiel die PCR bzw. der Antikörper-Nachweis auf Sars-CoV-2 positiv aus, bei 16 weiteren war ein Kontakt zu Covid-19 Erkrankten gesichert. 8 der 10 betroffenen Kinder in der Lombardei hatten Antikörper gegen das neue Coronavirus im Blut.

Die Entzündungen bei den betroffenen Kindern treten in unterschiedlichen Ausprägungen auf. Weil es bei den meisten jedoch Unterschiede zum bekannten Kawasaki-Syndrom gibt – die Kinder sind älter (im Durchschnitt 7,5 statt 3 Jahre alt), die Entzündung im allgemeinen stärker und die Herzschäden verbreiteter und ausgeprägter – gehen Elizabeth Whittaker und ihre Kollegen davon aus, dass man es mit einem neuen Syndrom zu tun hat. Sie nennen es „PIMS-TS“, die Kurzversion von „Paediatric Inflammatory Multisystem Syndrom, temporale associated with Covid-19“.

Die US-amerikanischen Centers for Disease Control und die WHO bezeichnen das neue Krankheitsbild als „MIS-C“ (Multisystem Inflammatory Syndrome in Children). Die Diagnose eines „MIS-C“ erfordert laut CDC und WHO den Nachweis einer Sars-CoV-2-Infektion direkt beim betroffenen Kind bzw. den nachgewiesenen Kontakt zum Virus (etwa über positiv getestete Familienangehörige).

Michael Levin vom Imperial College London findet diese Vorgehensweise problematisch. Infektionen mit dem neuen Coronavirus lösen bei Kindern häufig keine oder kaum Symptome aus und Antikörpertests sind nicht universell verfügbar. Bei betroffenen Kindern könnte daher der Verdacht erst spät oder gar zu spät auf das neue Entzündungssyndrom fallen, viele Erkrankungsfälle würden womöglich übersehen.

Bisher sind weltweit rund 1000 Fälle von PIMS-TS bzw. MIS-C dokumentiert worden (Stand 29. Juni 2020), 2 bis 4% der betroffenen Kinder starben. Die WHO nennt folgende verdächtige Symptome bei Kindern, die auf ein Entzündungssyndrom nach einer Ansteckung mit dem neuen Coronavirus hinweisen: Fieber mindestens drei Tage lang und zusätzlich mindestens 2 dieser 5 Symptome:

  • 1. Ausschlag/Bindehautentzündung/Entzündungen an Hand/Fuß/Mund
  • 2. Blutdruckabfall/Schock
  • 3. Anzeichen von Funktionsstörungen des Herzens
  • 4. Anzeichen von Gerinnungsstörungen
  • 5. Akute Symptome im Gastrointestinaltrakt /Übelkeit, Erbrechen, Schmerzen, Durchfall

Was ist die Ursache?

Was ist die Ursache für die entgleisten Entzündungen? Ist es das Virus selbst? Ist es die Immunreaktion oder tragen andere, noch unbekannte Faktoren wesentlich bei, die die schädigenden Prozesse fördern?

Die Fragen sind schwer zu beantworten und selbst beim seit 50 Jahren bekannten Kawasaki-Syndrom noch ungeklärt. Offenbar besteht ein Zusammenhang zu Infekten, die die Entzündungsprozesse womöglich triggern. Möglicherweise reagiert das Immunsystem unkontrolliert, weil es sich einem (noch völlig unbekannten, „schwierigen“ ?) Antigen gegenübersieht.

„Die Ursache des Kawasaki-Syndroms ist unbekannt, die Krankheit steht jedoch in Zusammenhang mit Bakterien und ihren toxischen Produkten oder Viren und bestimmten Umwelteinflüssen“, sagt Kinderarzt und Immunologe Georg Holländer, der an den Universitäten ins Basel und Oxford forscht. Das Kawasaki-Syndrom wie auch jetzt das PIMS-TS sei das Ergebnis einer überschießenden Immunantwort. Dabei würden hohe Konzentrationen von Entzündungsfaktoren wie Interleukin-6 oder TNF-alpha freigesetzt. „Die Annahme, dass dem PIMS-TS eine überschießende Immunantwort zu Grunde liegt, ist auch durch die Tatsache gestützt, dass die erfolgreiche Behandlung des PIMS-TS (wie des Kawasaki-Syndroms) aus Immunglobulinen und Steroiden besteht, welche ihrerseits das Immunsystem herunterfahren“, sagt Holländer.

Genetisch bedingtes Risiko

Eine gewisse genetische Ausstattung erhöht das Risiko, an einem Kawasaki-Syndrom zu erkranken. Jungen sind im Durchschnitt häufiger betroffen als Mädchen, Ostasiaten häufiger als andere Ethnien. „Wir gehen daher davon aus, dass es eine gewisse genetische Empfänglichkeit gibt, die die unterschiedliche Häufigkeit der Erkrankung erklärt“, sagt Holländer. In der Vergangenheit wurden unterschiedlich ausgeprägte Genvarianten, die für wichtige Strukturen der Immunreaktion codieren (wie Immunglobuline, Antikörper-Rezeptoren und Erkennungsmoleküle auf T-Zellen) in einen Zusammenhang mit dem Kawasaki-Syndrom gebracht.

Aber auch andere Faktoren spielen eine Rolle. Das Kawasaki-Syndrom tritt auch in Asien in bestimmten Regionen häufiger als in anderen auf. Das könnte durch lokal unterschiedliche Belastungen der Umwelt mit Schadstoffen, den Wetterbedingungen und der Ausbreitung von Krankheitserregern erklärt werden, meinen Fachleute.

Auch PIMS-TS betrifft bevorzugt Jungen und bisher schienen vermehrt Kinder mit afroamerikanischen, hispanischen oder karibischen Wurzeln betroffen zu sein. In England sind laut den Zahlen, die Elizabeth Whittaker präsentiert, überdurchschnittlich viele Schwarze erkrankt.

Covid-19 bei Kindern: schwere Verläufe selten

Insgesamt ist die Erkrankung aber sehr selten. Nach wie vor gilt, was man recht schnell nach Beginn der Pandemie erleichtert feststellte: in der Altersgruppe der 0 bis 19-Jährigen erkranken nur wenige an Covid-19, schwere Verläufe oder gar Todesfälle nach der Infektion mit Sars-CoV-2 sind extrem selten. Selbst die Kinder, die beispielsweise in England mit Verdacht auf Covid-19 ins Krankenhaus eingeliefert wurden, konnten bisher zu 91% auf der Normalstation behandelt werden. Nur bei 2% bzw. 7% war eine Verlegung auf die Intensivstation bzw. Überwachungsstation nötig, beschreibt Elizabeth Whittaker.

Das bestätigt eine aktuelle Studie vom 25. Juni, die bisher größte, die 582 für Sars-CoV2 positiv getestete Kinder aus 25 europäischen Ländern einschließt. Covid-19 verlaufe im Allgemeinen bei Kindern, einschließlich Säuglingen mild, schlussfolgern die Studienautoren. Ein gewisser Anteil jedoch (hier 48 Kinder, 8%) erkranke schwer und müsse auf der Intensivstation behandelt, einige sogar (25 Kinder, 4%) künstlich beatmet werden, vier Kinder (alle älter als 10 Jahre, zwei davon mit schweren Vorerkrankungen) starben.

Selbst nach milden Verläufen kann es in Ausnahmefällen Komplikationen geben. Treten nach der akuten Infektion plötzlich Fieber und andere Symptome des neu beschriebenen Entzündungssyndroms auf, sollte schnell gehandelt werden. „Die Erkrankung kann offensichtlich auch bei Patienten auftreten, die anfangs nur unter geringen Covid-19 Symptomen gelitten haben“, sagt Georg Holländer. Denn wenn PIMS-TS rasch erkannt und behandelt wird, können schwere Schäden an Herz und Lunge vermieden werden. Kinder müssen nicht beatmet werden, erleiden keine Herz- oder Gefäßschäden.

Bedeutung für die Impfstoffentwicklung

PIMS-TS tritt offenbar einige Zeit, zwei bis vier Wochen, nach der Ansteckung mit dem neuen Virus auf. Dafür spricht, dass bei den meisten der betroffenen Kinder zwar Antikörper gegen Sars-CoV-2, nicht aber das Virus selbst nachweisbar sind. Michael Levin, Kinderarzt und Experte für Infektionskrankheiten am Imperial College London, macht bei der Online-Veranstaltung der EAP auf einen interessanten Zusammenhang aufmerksam. Die Erkrankung trete anscheinend dann auf, wenn die adaptive Immunantwort in vollem Gange sei – also die T-Zellen und B-Zellen aktiv seien, die virusinfizierte Zellen angreifen bzw. Antikörper gegen das Virus produzieren.

Die Erkrankung ist selten. Laut aktuellen Zahlen, die das „New England Journal of Medicine“ nennt, gibt 2 Fälle des neuen Entzündungssyndroms auf 100.000 Menschen unter 21 Jahren. Offenbar sind aber einige Kinder (wegen ihrer genetischen Ausstattung) empfänglicher für PIMS-TS als andere. Dieses Wissen muss unbedingt bei der Durchführung der vielfältigen Impfstudien, die jetzt angelaufen sind, beachtet werden: was, wenn bei anfälligen Menschen auch die Impfung eine überschießende Immunreaktion, ein Entzündungssyndrom auslösen würde? Da eine solche Reaktion selten ist, würde sie womöglich erst bemerkt werden, wenn sehr große Studiengruppen getestet würden.

Offene Fragen zu PIMS-TS und dem neuen Virus – gerade auf dem Weg zu einem sicheren Impfstoff – gibt es genug: Welche Behandlungsform wirkt am besten? Wodurch wird die starke Entzündung ausgelöst? Welche Bevölkerungsgruppen haben ein erhöhte Risiko zu erkranken? Was sind die Langzeitfolgen von PIMS-TS? Welche Bedeutung hat die Erkrankung für die Entwicklung von Impfstoffen und den Einsatz von Rekonvaleszenzserum – sind hier auch Überreaktionen zu erwarten?

Quellen:

Fallbericht, 11-jähriges Mädchen: Elizabeth Whittaker auf der Online-Veranstaltung der European Academy of Paediatrics zu Covid-19 am 11. Juni 2020

Kawasaki disease shock syndrome or toxic shock syndrome in children and the relationship with COVID-19: https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0306987720313967

Berühmte Entdecker von Krankheiten: Tomisaku Kawasaki ließ sich nicht beirren: https://www.aerzteblatt.de/archiv/207498/Beruehmte-Entdecker-von-Krankheiten-Tomisaku-Kawasaki-liess-sich-nicht-beirren

An outbreak of severe Kawasaki-like disease at the Italian epicentre of the SARS-CoV-2 epidemic: an observational cohort study: https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140–6736(20)31103-X/fulltext

Paediatric multisystem inflammatory syndrome temporally associated with SARS-CoV-2 mimicking Kawasaki disease (Kawa-COVID-19): a multicentre cohort: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC7299653/

Childhood Multisystem Inflammatory Syndrome — A New Challenge in the Pandemic: https://www.nejm.org/doi/full/10.1056/NEJMe2023158?query=RP

Multisystem inflammatory syndrome in children and adolescents temporally related to COVID-19: https://www.who.int/news-room/commentaries/detail/multisystem-inflammatory-syndrome-in-children-and-adolescents-with-covid-19

Clinical Characteristics of 58 Children With a Pediatric Inflammatory Multisystem Syndrome Temporally Associated With SARS-CoV-2: https://jamanetwork.com/journals/jama/fullarticle/2767209

COVID-19 in children and adolescents in Europe: a multinational, multicentre cohort study: https://www.thelancet.com/journals/lanchi/article/PIIS2352–4642(20)30177–2/fulltext

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