Den Kranichen fehlt das Wasser zum Brüten

In Norddeutschland fallen in diesem Frühjahr viele Feuchtgebiete durch Trockenheit als Neststandorte aus.

von Carl-Albrecht von Treuenfels
5 Minuten
Ein Kranichküken.

Zu wenig Niederschläge in den vergangenen Monaten und die Trockenheit des vergangenen Jahres machen sich in Norddeutschland zunehmend auf den Feldern, Wiesen, Weiden und in den Wäldern bemerkbar. Die Furcht vor einem erneuten Dürrejahr wächst. Nicht nur unter den Land- und Forstwirten, sondern auch unter den Vogelfreunden. Besonders die vielen norddeutschen Kranichschützer sind in Sorge.

Von den gut zehntausend in Deutschland nistenden Kranichpaaren brütet der Großteil in den nördlichen Bundesländern. Aus Mecklenburg-Vorpommern mit rund 4500, Brandenburg mit etwa 2750, Niedersachsen mit 1500 und Schleswig-Holstein – etwa gleichauf mit Sachsen-Anhalt – mit knapp 600 Paaren kommen von den Brutplatzbetreuern gleichlautende Meldungen in diesem Frühjahr: Weil das Wasser in der Landschaft fehlt, haben die meisten Kraniche nicht mit der Brut begonnen.

Wo um diese Zeit sonst ein einzelner Kranich in der Landschaft steht, während der Ehepartner oder die Partnerin gut getarnt und von knietiefem Wasser umgeben, auf dem Bodennest brütet, sind beide Vögel in der offenen Landschaft zu beobachten. Das ist ein sicheres Indiz dafür, dass keine Brut stattfindet. Entweder hat sie gar nicht erst begonnen oder das Paar hat sie abgebrochen.

Die Brutversuche haben bereits Mitte März begonnen

Die Kraniche haben in diesem Jahr früh in ihren norddeutschen Revieren mit der Balz begonnen. Paare, die im Herbst nicht mit den großen Zugverbänden ins südwestliche Europa weggeflogen waren und, von Jahr zu Jahr in zunehmender Zahl, auch im Winter die Stellung gehalten hatten, begannen schon ab Mitte Januar damit, lauthals ihre Gebietsansprüche für die Brutsaison kundzutun. Die Rückkehrer aus den Winterquartieren trafen ab Anfang Februar von Westen nach Osten in dichter Reihenfolge ein.

Die nicht in Deutschland ansässigen Vögel zogen später in Trupps weiter – nach Polen, in die baltischen Staaten und nach Skandinavien. So, wie es das Wetter zuließ und die Vögel aus Erfahrung wissen, wann sie mit steigenden Temperaturen sukzessive ihre östlichen und nördlichen Brutreviere beziehen können. Der Frühjahrszug läuft wesentlich schneller, konzentrierter und mit kürzeren Rastaufenthalten ab als der Herbstzug, der sich über mehrere Wochen hinzieht. Die Vögel wollen möglichst schnell ihre Brutgebiete erreichen.

Zwei Vögel am Nest in einem Erlenbruchwald, aber sie schauen voneinander weg. Vielleicht hängt bei Herrn und Frau Kranich der Haussegen schief?
Ein Kranichpaar mit einem Jungen, das am Vortag geschlüpft ist, und einem Ei, dessen Schale ein weiteres Küken die Schale 48 Stunden später sprengt.
Ein Kranich an seinem Brutplatz in einem Erlenbruchwald.
Wenn es nicht ausreichend feuchte Habitate gibt, setzt zwischen Kranichen Konkurrenz um Nistplätze ein.

Wo die Landschaft geeignete Voraussetzungen bot, haben einzelne in Deutschland brütende Kranichpaare bereits Mitte März mit dem Nestbau begonnen. Solange das Weibchen noch nicht das erste Ei auf die von Wasser umgebene Nestplattform gelegt hat, stehen die Paare gemeinsam in einiger Entfernung vom Nest beisammen und bestätigen sich mit lauten Duettrufen ihre gegenseitige Zuneigung.

Kraniche brauchen als Bodenbrüter knietiefes Wasser

Erst wenn das Gelege im Abstand von zwei bis vier Tagen mit zwei, gelegentlich mit drei Eiern vollzählig ist, beginnen Henne und Hahn abwechselnd mit der Brut. Wenn alles glatt abläuft, schlüpfen die Küken im Abstand der Eiablage nach 28 bis 30 Tagen, bleiben so lange auf der flachen Brutunterlage aus zusammengetragenen Schilfhalmen, Wasserpflanzen und dünnen Zweigen sitzen, stehen immer wieder auf, um das erstgeschlüpfte Küken zu hudern (wärmen) und das oder die verbliebenen Eier zu wenden, bis auch das zweite oder (selten) dritte goldbraun gefärbte Dunenjunge geschlüpft und getrocknet ist.

Ein nahes Foto eines Graukranichs.
Keine Großvogelart in Europa ist so gut erforscht und überwacht wie Grus grus, der Graukranich. Von den 15 auf der Erde vorkommenden Kranicharten ist unser Kranich nach dem in Nordamerika und dem nördlichen Sibirien lebenden Kanadakranich (Grus canadensis, englisch: Sandhill Crane) mit einer bisher auf 400.000 Vögel geschätzten Population die zweithäufigste Art. Jüngste Winterzählungen und Schätzungen beziffern allein die westliche Population sogar auf über 580.000 und die asiatische Population auf gut 120.000 Vögel. Das wäre ein Gesamtbestand von über 700.000 Graukranichen, nahezu ebenso viele wie Kanadakraniche. Ihr Verbreitungsgebiet zur Brutzeit reicht von England im Westen bis nach China im Osten. Ihre südlichsten Winterquartiere finden sie unter anderen Ländern in Indien und Afrika, dort vor allem in Äthiopien und im Sudan.
Ein Kranich liegt am Boden, er hat Farbringe am Bein, die ein Ornithologe kontrolliert.
Dass man heute so viel über das Verhalten der europäischen Kraniche weiß, liegt an den Erkenntnissen vieler Vogelkundler, die sich länderübergreifend in Arbeitsgemeinschaften austauschen. Dabei helfen seit den 1990er Jahren immer mehr Vögel, die mit farbigen Ringkombinationen und mit Satellitensendern ausgestattet sind. Seit 2009 gibt es die europaweite Datenbank für Wiederfunde farbig markierter und besenderter Graukraniche (ICORA = Internet-based Crane Observation Ring Archive). Sie wird von der Arbeitsgemeinschaft Kranichschutz Deutschland im NABU-Kranichinformationszentrum in Groß Mohrdorf bei Stralsund verwaltet und ständig aktualisiert. In fünf Sprachen werden dort gegenwärtig über 3350 Kraniche verfolgt. Mehr als 90.000 Wiederfunde wurden dokumentiert. Der Kreis von bisher sieben Projektländern wird von Jahr zu Jahr erweitert. Hunderte von haupt- und freiberuflichen Kranichfreunden beteiligen sich vor allem zur Zugzeit an den Rastplätzen beim Ablesen der für die einzelnen Länder unterschiedlichen und individuell.über Jahre rückverfolgbaren Farb- und Buchstabenkombinationen. Zusätzlich zu den bunten Kunststoffringen wird an einem Bein der markierten Vögel auch ein Aluminiumring mit individueller Buchstaben- und Zahlenkombination der Beringungszentrale Hiddensee des Landesamtes für Umwelt und Natur Mecklenburg-Vorpommern befestigt.
Kraniche im Flug, sie fliegen in einer sogenannten V-Formation mit einem Vogel an der Spitze. Das spart Energie, weil ein Vogel in Windschatten des anderen fliegen kann.
Die als Informationsträger ausgewählten Vögel werden als Jungtiere kurz vor dem Flüggewerden von „Greifertrupps“, meistens aus zwei bis drei erfahrenen sportlichen Ornithologen bestehend, in ihren Brutrevieren am Boden gefangen, vermessen, gewogen, um eine Blutprobe erleichtert, beringt und von Fall zu Fall mit einem kleinen Satellitensender versehen. Das alles dauert in der Regel wenig länger als zehn Minuten. Danach kehren die mit leichtem Ballast versehenen Jungvögel zu ihren in der Nähe wartenden Eltern zurück. Sie geben später jahrelang Auskunft über ihr Paarungs-, Brut- und Zugverhalten. Über die Kennzeichnung wurde etwa bekannt, dass es mit der früher gerühmten lebenslangen ehelichen Treue der Vögel doch nicht so weit her ist, und dass sich die Zugwege der europäischen Kraniche gerade in den letzten Jahren stark verändert haben. Auf den drei Hauptflugrouten, dem westeuropäischen, dem baltisch-ungarischen und dem osteuropäischen Zugweg, verschieben sich immer wieder die Zahlen und die Rastplätze, nicht zuletzt als Folge der Wetterbedingungen und der Eingriffe des Menschen in die Landschaften. So wurde erst kürzlich festgestellt, dass nicht wenige Kraniche im Herbst über die osteuropäische Route nach Nordafrika und von dort über Spanien auf der westlichen Route in ihre östlichen Brutgebiete zurückkehren. Und neben den bekannten Zugwegen über Nord- und Mitteldeutschland hat sich jüngst eine neue Route von Ost nach West über Bayern und Baden-Württemberg nördlich der Alpen etabliert. In Frankreich, wo viele Kraniche überwintern, gewinnt die Camargue zunehmend Bedeutung als Winterquartier, seitdem dort der Reisanbau floriert.
Schwarm von Kranichen.
Vor 30 Jahren brütete nicht einmal die Hälfte des heutigen Kranichbestandes in Deutschland. Erst nach der Wiedervereinigung konnten die ostdeutschen und die westdeutschen Kranichfreunde, die bis dahin getrennt und wegen mangelnder Kommunikationsmöglichkeiten unzureichend gearbeitet hatten, damit beginnen, ein bundesweites Monitoring aufzubauen: die Erfassung, Überwachung, Kontrolle und Dokumentation der Entwicklung der Kranichbestände wird heute in Länderarbeitsgemeinschaften geleistet und dann ausgewertet. Neben den regelmäßigen Zählungen an den wichtigsten Rastplätzen, an denen zeitweise jeweils mehr als 80.000 Kraniche für einige Tage oder Wochen im Herbst einfallen, geben die Farbmarkierungen einzelner Vögel auch Auskunft über manches individuelle Schicksal und abwechslungsreiche Lebensläufe zwischen den Zugrouten. So wurde ein im Juli 1989 in Mittelschweden beringtes Kranichweibchen im Oktober 2016 westlich von Stralsund beobachtet: im Alter von 27,5 Jahren. Wolfgang Mewes, Mitbegründer von „Kranichschutz Deutschland“, der über die Kraniche promoviert hat, erfasst seit langem das Alter von Kranichen mit Hilfe der Gelege in ausgewählten Nestern. Seit Jahrzehnten kontrolliert er weitgehend störungsfrei im mecklenburgischen Landkreis Parchim-Ludwigslust jährlich bis zu knapp 200 Nester. Anhand der Größe, Form, Färbung und Fleckung der Eischale erkennt er, ob es sich bei den zu ihren Brutplätzen über lange Zeiträume stets zurückkehrenden Weibchen um dieselben Vögel handelt. Denn die Form und Zeichnung der Eier verändert sich nach seinen Erkenntnissen im Lauf des Lebens nicht. So ist er überzeugt, dass eine „seiner“ freilebenden Kranichhennen über 30 Jahre alt ist und damit fast das Dreifache des üblichen Durchschnittsalters in freier Wildbahn erreicht hat.

Aber bei der Versorgung in den ersten Lebenswochen beginnt das Dilemma. Je früher im Jahr die jungen Kraniche aus ihren braunen oder olivfarbenen, gesprenkelten Eiern schlüpfen, desto weniger Bodeninsekten gibt es. So sterben viele Kranichküken, die in der zweiten Aprilhälfte das Licht der Welt erblicken, den Hungertod trotz fürsorglicher Betreuung durch die Eltern.

In diesem Frühjahr kommt die große Trockenheit als weitere Gefahr für den Kranichnachwuchs hinzu. Kraniche brauchen als Bodenbrüter knietiefes Wasser rund um ihr Nest, um sicher vor Feinden wie Wildschweinen, Dachsen, Füchsen und Waschbären zu sein. Um die wenigen genügend nassen Biotope wie Erlenbrüche, Moore, mit Schilf bewachsene Sölle und Feldkuhlen hat es zwischen vielen Paaren in den letzten Wochen intensive Auseinandersetungen gegeben. Mitunter streiten sich gleich mehrere Paare um einen potentiellen Brutplatz.

Denn Kraniche sind keine Koloniebrüter, die nah beieinander ihre Nester bauen, wie manche anderen Vogelarten. Kraniche brauchen genügend Platz um ihr Nest, damit die Jungen als „Nestflüchter“ in der weiteren Umgebung ausreichend Nahrung finden. Die Eltern tragen keine Beute zum Horst wie andere Großvögel, etwa Störche, Reiher, Flamingos oder Greifvögel.

Bringt die Trockenheit die Wasserverbände zum Nachdenken?

Die Situation der Kraniche macht deutlich, wie sehr in unserer Landschaft Feuchtgebiete fehlen. Zu den vielfältigen negativen Eingriffen gehört die Tätigkeit der Wasser- und Bodenverbände, die sich durch Zwangsabgaben in nicht unbeträchtlicher Höhe aller Eigentümer von land- und forstwirtschaftlicher Flächen finanzieren. Dadurch hat sich bundesweit ein Millionengeschäft etabliert, an dem neben Verbandsvertretern Baggerunternehmen und Verwaltungen verdienen.

Das Hauptziel der Wasser- und Bodenverbände ist der Entzug von Oberflächenwasser aus der Landschaft durch die jährliche „Unterhaltung“ – sprich das Ausbaggern – von Gräben, die Anlage und Reparaturen von Abflüssen und von Dränagen, also unterirdischen Fließrohren.

Auch viele Landwirte haben in der Vergangenheit wie verbissen darauf geachtet, jegliche Oberflächenfeuchtigkeit im Frühjahr von ihren Äckern und von ihrem Grünland zu verbannen. In diesen Wochen, da viele Felder, Wiesen und Weiden unter zu großer Trockenheit gelitten haben oder leiden und die meisten Senken, Kuhlen und Sölle ausgetrocknet sind, wird mancher Bauer vielleicht anfangen, über seinen Umgang mit der Bodenfeuchtigkeit nachzudenken. Er könnte seinen Feldern und Wiesen einen Teil ihre Nassstellen lassen und um sie herum ackern. Wasser- und Bodenverbände, gegen die schon verschiedentlich geklagt wurde, werden in Zukunft hoffentlich häufiger auf die Wiedervernässung setzen statt sich stets auf das Entwässern der Landschaft zu fixieren.