Bäche im Alu-Bett, Seewasser mit Strontium

Schwindender Permafrost setzt bisweilen Metalle und Giftstoffe frei. Noch sind mögliche Gefahren überschaubar.

17 Minuten
Über einem weiß schimmernden Bachlauf zieht sich eine gletscherlose Wüste aus grauen und braunen Steinen hinauf in den blauen Himmel.

Mitten in der Ostschweiz sind immer mehr Hänge im Hochgebirge seltsam gelbbraun, manches Bachbett metallisch verfärbt. Die rätselhaften Hinweise eines Hüttenwirts führen auf die Spur auftauenden Permafrosts, hin zu Schwefelsäure und Schwermetallen. Und zur nicht abschließend beantwortbaren Frage: Bringt der Klimawandel inner- und außeralpin nicht nur ein Versiegen vieler Wasserreserven, sondern auch noch eine „Giftstoff-Spende" aus den Gipfelregionen?

Knallgelber Schilderwald mit Hinweisen für Radfahrer und Wanderer auf der Alp Flix, hinter der ein spitzes, hohes Bergmassiv aufragt.
Unten Ferienidylle, oben schleichende chemische Zersetzung. Mitten in den Albula-Alpen. Graubünden, ragt der 3.378 Meter hohe Piz d'Err (rechter Bildteil). In Permafrost-Zonen des Err-Albula-Granits entsteht, bedingt durch den Klimawandel, verstärkt Schwefelsäure, die toxische Elemente aus dem Fels löst.

Schwefelsäure, ganz „natürlich“

Was aus dem Bergbau bekannt ist, passiert auch im Hochgebirge – dort, wo zum Beispiel Granit vorkommt: Schwefelhaltiges Gestein verwittert stark (Auslöser ist antauender Permafrost). Schwefelsäure entsteht und löst Spurenelemente, die talwärts in Seen und Bächen landen.

Das meiste bleibt unsichtbar. Aber das Aluminium fällt teils krass ins Auge. Wie auf dem Titelfoto. Als sogenanntes Hydroxysulfat kreiert Aluminium „weiße Bäche“ – sichtbares Signum unsichtbarer Vorgänge, die Forscher endlich genauer unter die Lupe nehmen.

Spurensuche in der Schweiz

Zugtunnel, Viadukte, Schleifen wie bei einer Bilderbuch-Modellbahn: Die Rhätische Bahn ist auf der Albulastrecke das schönste und umweltfreundlichste Mittel, um ins Val Bever zu gelangen. Talaufwärts liegt die Jenatsch-Hütte 2.672 Meter über Meereshöhe. Allerdings bei Ankunft in einem ungemütlichen Wolkenmeer.

Anderntags strahlt die Sonne in den Frühstücksraum, wo beglückte Hüttengäste zum Aufbruch drängen. Der Raum hat Fenster gen Süden, in ein einladendes Trogtal. Aber vorne an der Talöffnung sieht der Berg irgendwie krank aus: Ockergelbe und braune Schattierungen ziehen sich entlang des Piz Traunter Ovas.

Wenige Schneereste und viel loses, braunes, rotes und ockerfarbenes Geröll an einem Berghang.
Das Farbenspiel am Piz Traunter Ovas rührt daher, dass im Zuge schwindenden Permafrosts immer mehr mineralische Elemente oxidieren.

Die Flanken des Bergs gleichen großflächigen schorfigen Wunden. Was hat bloß der Traunter? Der Hüttenwirt meint, es habe mit Schwefel zu tun. Und Wissenschaftler seien „da schon dran“.

Schwefelsäure löst Metalle heraus

Weil näheres im Val Bever nicht zu erfahren ist, kontaktiert der Reporter nach Rückkehr zuerst einen Forscher aus Tirol. Roland Psenner, inzwischen emeritiert, einst Chef der Universitäts-Ökologie in Innsbruck, hat mit seiner Arbeitsgruppe seit über 25 Jahren Hochgebirgs-Gewässer im Visier und kennt sich mit Geochemie aus. Das Farbenspiel am Traunter erklärt Psenner so:

Kommt frisches eisenhaltiges Material an die Oberfläche, entstehen durch Oxidationen oft lebhafte Farben. Und bei Granit bildet sich Säure. Sie löst Metalle aus dem Gestein, die das saure Wasser mit ins Tal trägt. Mischt sich das mit normalem Bachwasser, sinkt der Säuregehalt. Dann sind die Metalle nicht länger löslich.

Das untersuchte Gewässer heißt Ova Lavirun und befindet sich in den Livigno-Alpen auf Schweizer Seite, unterhalb einer flachen Permafrost-Gipfelregion.

Forscher Christoph Wanner erklärt im WhatsApp-Gespräch, saure Herauswaschungen seien typisch für den Rand von Permafrostregionen, wenn die wasserführenden Hänge flach sind. Denn nur so wirke das Wasser lang genug ein, um das Sulfid des Pyrits in Schwefelsäure umzuwandeln.

Säure entsteht, weil Eis-Fels-Pakete zerbröseln

Permafrost-Experte Robert Kenner, der am WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung in Davos arbeitet, erklärt am Telefon: Luft-Oxidation allein reicht nicht, um die verstärkte Bildung von Schwefelsäure aus Pyrit heraus zu erklären.

Im Eisinnern gibt es Schwefel- und Eisenbakterien, die die Oxidation katalysieren und dabei Energie zum Leben gewinnen.

Dass Schwefelsäure Aluminium aus dem Gestein löst, ist vergleichsweise harmlos. Bedenklicher liest sich der Umstand, dass im Bach namens Ova Lavirun und in anderen Gewässern hohe Konzentrationen teils giftiger Spurenelemente gemessen wurden. Im Ova Lavirun lagen zum Beispiel Mangan- und Nickelwerte teils hundertfach über den Grenzwerten (Abbildung).

eine Tabelle mit Zahlen und Text [AI]
Mangan, Nickel, Aluminium und Strontium zeigen in manchen Hochgebirgs-Gewässern Werte weit über dem EU-Trinkwasserlimit von 50 (Mn), 20 (Ni) bzw. 200 (Al) Mikrogramm pro Liter (µg/l) Betroffen ist nicht nur die Schweiz (CH), sondern auch Österreich (AT) und Italien (IT); alle Zahlenangaben der Tabelle in µg/l. Die Tabelle stammt aus „Berg 2022“, ISBN 978–3–7022–3977–0.

Wanner und Kollegen wollen jetzt an verschiedenen Standorten Graubündens ein kontinuierliches Monitoring installieren, um über das Jahr die Frachten der ausgewaschenen Spurenelemente zu bestimmen. Und um zu sehen, ob und wie sich die Frachten im Zuge der Zeit verändern.

Gefahr für das Wasser im Tal?

Lassen es die chemischen Verhältnisse in Gebirgsbächen nicht teilweise zu, dass giftige Elemente bisweilen sogar in tiefe, siedlungsnahe Höhenlagen gelangen? Dazu Wanner:

Grundsätzlich sehe ich das Problem als nicht besonders groß – angesichts von Abgeschiedenheit und Höhenlage der untersuchten Bäche. Gelangt das Wasser in dichter besiedelte Gebiete, verdünnen sich die Inhaltsstoffe. Isolierte Alpwirtschaften können allerdings durchaus betroffen sein.

Wanner bezieht sich auf einen Bericht im „Vinschger“. Das Journal zitiert den Landesgeologen Volkmar Mair mit einer Aussage, wonach die Lazaunhütte im hinteren Schnalstal, also auf der Südseite der Ötztaler Alpen gelegen, wegen hoher Nickel- und Aluminiumkonzentrationen eine andere Wasserquelle bekommen musste.

Betroffen sein dürfte aber auch das Schutzgebiet Lazauner Moose, das gemäß einem Bericht der Umweltschutzgruppe Vinschgau von den Flurbesitzern aus dem Lazaunbach künstlich bewässert wird, um dort Forellen und Saiblinge zu kultivieren.

Unter einem Alugestänge hantieren drei Forscher auf einer schwimmenden Plattform mit einem übermannshohen Probenrohr.
Laut „Aquatic Geochemistry“ vom Sommer 2020 nähern sich im Leìt-See, unweit der gleichnamigen Hütte in der Schweiz, die Nickelkonzentrationen dem Trinkwasserlimit. Deswegen, so schreibt das Forscherteam, sollten Trinkwasser-Werte überwacht werden. Foto: Wissenschaftler untersuchen den Grund eines Sees in den Ötztaler Alpen.

Geo-Mikrobiologe Beat Frey meint, im alpenweiten „Long-Term Monitoring“ gebe es bislang keine auffälligen Befunde in den Wasser-Messstationen.

Allerdings sollte man noch einmal hinterfragen, ob die Messstandorte, wie sie jetzt existieren, ausreichend sind. Ich denke schon, dass man das Netzwerk um einige kritische Standorte erweitern könnte.

Und wie sieht es in Österreich aus? Dort hat man ein schweres Forschungsgeschütz aufgefahren.

Österreich kennt sich aus mit HeavyMetal

HeavyMetal hieß ein Projekt, in Auftrag gegeben von der Regierung, gefördert von Bundesländern und anderen Institutionen sowie federführend koordiniert von der Uni Graz. In der Einführung des Abschlussberichts heißt es:

Klimamodelle prognostizieren für die Alpen eine Erwärmung von etwa vier Grad Celsius bis 2100, was (…) zu einem verstärkten Abschmelzen des Eises im Permafrost führen wird. In diesem Zusammenhang ist auch eine Veränderung des Wasserhaushaltes im hochalpinen Raum zu erwarten.
Vor einem Gipfelpanorama erstreckt sich eine lange Geröllzunge gen Tal, an deren Spitze sich Schmelzwasser sammelt.
„RG HeavyMetal“ hieß in Österreich ein Großprojekt, das die Schwermetall-Freisetzung aus „Rock Glaciers“ (RG) zum Forschungsgegenstand hatte. Auf deutsch heißen diese Phänomene des Permafrosts „Blockgletscher“; sie sind, wie dieses Tiroler Exemplar, eine Mixtur von Geröll und gefrorenem Wasser – das im Zuge des Klimawandels sommers nicht nur an der Oberfläche auftaut.

Im Abschlussbericht heißt es,

dass sich die Quellwasserbelastung durch Schwermetalle, vor allem Nickel, mit teilweise einem Vielfachen des Grenzwertes der Trinkwasserverordnung, im Wesentlichen auf den Großraum der Ötztaler Alpen (…) beschränkt und dort primär an Quellen intakter Blockgletscher gebunden ist. Eine befürchtete Ausbreitung in den westlich und östlich angrenzenden Alpenraum hat sich nicht bestätigt.

Blockgletscher – kurz erklärt in der Legende oben stehenden Fotos – sind keineswegs selten. Allein in Österreich verteilen sich fast 5.800 Exemplare aufs Hochgebirge.

Geowissenschaftler der Uni Graz koordinieren seit 2020 ein HeavyMetal-Nachfolgeprojekt. Es heißt AlpCatch und zielt darauf ab, die Bedeutung der Blockgletscher als „Grundwasser“-Speicher bei unterschiedlichen meteorologischen Bedingungen zu untersuchen. Der federführende Wissenschaftler Gerfried Winkler zum derzeitigen Kenntnisstand:

Wir haben in fünf Testgebieten Messstellen, die stündlich Wassertemperatur, elektrische Leitfähigkeit und Wasserstand erfassen. Zusätzlich werden monatlich Proben genommen, sofern die Messstellen erreichbar sind.

Das Monitoring ist auf zwei Jahre angesetzt und umfasst die Gebiete Vergaldatal, Radurschltal, Hintereggengraben, Lantschfeldgraben und Ingering/Gaal.

Sechsjähriger mit rotblondem Schopf liegt an einer Bachkante, den Mund ins Wasser getaucht.
Ein Kind stillt seinen Durst unterhalb des Jamtalferners aus dem Gletscherbach. Tierische Verunreinigungen sind nicht zu erwarten. Aber sind es ebenso wenig geochemische Verunreinigungen?

Und die Moral der Geschicht’ über Schwefelsäure, Schwermetalle, Alu-Bäche? Sollen Wanderer in den Hochalpen zukünftig neben der dicken Rolle Klopapier ein kleines Röllchen pH-Papier in die Deckeltasche des Rucksacks stecken? Wenn sich das dann oberhalb von 2600 Metern, im Bereich des auftauenden Permafrosts, rötlich verfärbt, hieße das „Vorsicht, saures Wasser! Kann voll unsichtbarer Giftstoffe stecken!”

Es könnte auch nicht schaden, geologisches Grundwissen aufzufrischen: Wo bestehen die Hochalpen nicht aus Kalk oder Dolomit, sondern aus Gneis und Granit? Granit enthält immer Aluminium und häufig das schwefelhaltige Pyrit, dem Grundstoff „natürlicher” Schwefelsäure hoch oben am Berg.

Panikmache jedoch ist nicht angesagt. Christoph Wanner, der Schweizer Experte in Sachen Weiße Bäche:

Wenn man so ein saures oder belastetes Wasser einmal trinkt, wird man nicht schwer krank.

Man wird eher süchtig danach, mehr solcher spannenden Bergchemie zu ergründen. Zum Beispiel im sogenannten Err-Albula-Granit, wie es Emil Ott vor hundert Jahren taufte. Und wie es sich zu noch immer von Eis gekrönten Gipfeln auftürmt im Osten der Schweiz.

Über dem Foto eines scheinbar vom Berg in ein Wolkenmeer springendenen Bergsteigers prangt das Edelweiß-Logo des Alpenvereins sowie der Schriftzug BERG 20222.
Dieser Beitrag ist eine modifizierte Fassung von den Seiten 200 bis 207 im kürzlich erschienen Alpenvereins-Jahrbuch „Berg 2022“ (Autor: Martin C Roos; Bild: Ausschnitt des Buchcovers), ISBN 978–3–7022–3977–0.