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Vogelfreunde, raus aus der Defensive! Festrede zum Jubiläum des Dachverbands Deutscher Avifaunisten
Vogelschützer, raus aus der Defensive! Plädoyer für einen Naturschutz, der mehr Konflikte wagt
Feldlerche, Rebhuhn, Kiebitz und Co. brauchen eine Lobby, die sich entschiedener als bisher für sie einsetzt. Sonst werden wir die Letzte Generation sein, die sie noch in natura erlebt hat. Eine Festrede – und ein Weckruf
Der vorliegende Text ist eine Rede, die ich am 29.10.2022 zum 50 jährigen Jubiläum des Dachverbands Deutscher Avifaunisten gehalten habe. Ich dokumentiere sie hier in weitgehend ungekürzter Fassung.
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde der Vogelwelt,
ich möchte Ihnen zunächst von einem kleinen Beobachtungserlebnis erzählen. Mitte Juni war das, ich war in einem Wald südlich von Hamburg unterwegs, da sah ich auf einer Lichtung neben dem Weg plötzlich einen Vogel aus der Kategorie KBU – klein, braun, unscheinbar. Er saß da, sagte nichts. Und während ich noch grübelte, ob das jetzt eine junge Grasmücke oder ein ausgebleichtes Rotkehlchen sei, hob er ab, machte einen kurzen, lassoförmigen Rundflug, schnappte nach etwas, das ich nicht sehen konnte, und setzte sich wieder. Da war es klar.
Ich ahne, was Sie jetzt denken. „Ein Grauschnäpper, na ja – nett, aber nichts Besonderes.“ Stimmt! Für mich war dieser Grauschnäpper aber doch speziell, denn ich habe ihn nicht irgendwo gesehen. Er war der erste, den ich in Planquadrat Ni173 registriert habe, meinem Zählrevier für das Monitoring häufiger Brutvögel.
Erleuchtung beim Vogelzählen
Ich betreue dieses Revier seit vier Jahren, was für Monitoring-Maßstäbe natürlich ein Wimpernschlag ist. Aber doch lange genug, um die meisten Vögel, die darin vorkommen, mit Vor- und Zunamen zu kennen. Die Misteldrossel vom Parkplatz, den Wintergoldhähnchen-Clan an der Wildschweinsuhle, den letzten Gartenbaumläufer vor der Autobahn. Wenn dann plötzlich ein Vogel auftaucht, den ich in den 15 Revierbegehungen vorher nicht gesehen oder gehört habe, dann ist das – ja, wie eine kleine Erleuchtung. Als wenn der Wald etwas preisgeben wollte, das er bisher verborgen hat.
Ich habe in der Zählsaison 2022 mehrere solcher Beobachtungserlebnisse gehabt, in denen davor übrigens auch. Ich kann also ohne Übertreibung sagen, dass der Dachverband Deutscher Avifaunisten (DDA) mir und vermutlich Hunderten anderer Zählerinnen und Zähler regelmäßig zu vogelkundlichen Erleuchtungen verhilft. Und das, finde ich, ist schon Grund genug, den DDA zu feiern. Zusätzlich zu vielen anderen Gründen.
Ich stehe aber nicht nur hier, um Sie zu feiern. Als Journalistin ist es vor allem meine Aufgabe, Fragen zu stellen, auch unbequeme. Meine unbequeme Frage an Sie lautet: Warum kenne ich Sie erst seit fünf Jahren?
Avifaunistik – was ist das überhaupt?
Ich bin kein Hardcore-Orni, aber ich beobachte Vögel, seit ich lesen und schreiben kann, und schon als Kind habe ich gelegentlich die von meinen Eltern abonnierte Mitgliederzeitschrift des Deutschen Bundes für Vogelschutz studiert – so hieß der NABU damals noch. Der DDA aber war für mich bis vor Kurzem eine unbekannte Größe. Und nicht nur für mich: Wenn ich den DDA im Gespräch mit vogel- und naturbegeisterten Freunden erwähne, muss ich meist erklären, wer Sie sind, und auch, was man genau unter „Avifaunistik“ versteht.
Woran liegt das?
Ich weiß, dass es auf diese Frage ein paar einleuchtende Antworten gibt, glaube aber auch, dass die heute nicht mehr so richtig überzeugen. Warum ich das so sehe, und was ich mir für die Zukunft von Ihnen und für Sie wünschen würde – dazu gleich mehr.
Zunächst aber möchte ich kurz erzählen, wie ich Sie vor fünf Jahren dann doch kennengelernt habe und sogar im weitesten Sinn zu Ihrer Mitarbeiterin geworden bin.
2017 habe ich bei Vorrecherchen für mein Buch „Federnlesen“ einen kundigen Vogelfreund besucht: Hannes Dörrie, Vorsitzender des Arbeitskreises Göttinger Ornithologen. Wir unterhielten uns mehrere Stunden lang übers Vögelbeobachten, Vögelzählen, Vögelschützen, ich hatte eine sehr steile Lernkurve, und irgendwann zeigte mir Hannes den ADEBAR, den Atlas deutscher Brutvogelarten.
Ich war total beeindruckt von dieser kiloschweren Datenmasse, vor allem aber davon, wie diese Daten aufbereitet waren. Ich erinnere mich besonders lebhaft an die Verbreitungskarte der Haubenlerche. Die sah nämlich so aus, als hätte die deutsche Wiedervereinigung nie stattgefunden: Gut 90 Prozent der gesamten Population war hinter dem einstmaligen Eisernen Vorhang versammelt, nur ein paar kleinere Trupps harrten in Mainfranken und der Lüneburger Heide aus. Auf der Seite daneben war in verständlichen Worten beschrieben, warum die Karte so aussah. Wichtigste Stichworte: Brachflächenrückgang, Gefährdung durch streunende Hauskatzen.
Ein Statistisches Bundesamt für Vögel
Spätestens beim Anblick dieser Karte war ich so fasziniert, dass ich zwei Dinge beschloss: 1. Ich will dieses Buch besitzen, 2. Ich will die Leute kennenlernen, die dieses Buch gemacht haben.
Dann habe ich mich nach Münster eingeladen – als Journalistin kann man das ja, das ist das Schöne an unserem Beruf –, und dort haben sich drei Leute einen ganzen Arbeitstag lang Zeit genommen, mir den DDA und seine Arbeit zu erklären, nämlich Johannes Wahl, Christopher König und Sven Trautmann. Und ich hatte wieder eine sehr steile Lernkurve.
Ich wusste bis dahin nur, dass der DDA so eine Art Statistisches Bundesamt für Vögel ist. Also Beobachtungsdaten sammelt und auswertet. Aber ich hatte keine Ahnung, was für gewaltige Datenströme Sie verarbeiten, wie viele verschiedene Monitoring-Programme Sie betreuen. Allein ornitho.de verzeichnete damals schon knapp 100 Millionen Meldungen! Von diesem Portal für Vogelbeobachter hatte ich natürlich gehört, aber ich hatte keinen Begriff davon, was für eine unglaubliche Innovation diese Webseite für die Vogelkunde ist – und zwar für Hobbybeobachter ebenso wie für die Wissenschaft.
Ich lernte, dass man aus den Beobachtungen der Nutzer – damals waren es gerade über 100.000 – praktisch den gesamten Flugverkehr über Deutschland in Echtzeit verfolgen kann. Also sieht, wann genau die ersten Feldlerchen oder Waldlaubsänger bei uns eintreffen, wie viele Bläss- und Saatgänse gerade in Norddeutschland rasten, wie groß der Einflug von Seidenschwänzen im Winter ist und wie viele Alpenbraunellen im Frühjahr versehentlich zu weit fliegen und im Flachland landen. Was dann wiederum einen Massenzug von Ornis auslöst.
Ich habe aber auch gelernt, dass der Erkenntniswert der Ornitho-Daten an Grenzen stößt, weil die meisten Nutzer nicht nach bestimmten Vorgaben melden, sondern nach Lust und Laune. Sie melden eher Eisvögel und Alpenbraunellen als, zum Beispiel, Grauschnäpper und Feldsperlinge; sie melden die erste Feldlerche des Jahres eher als die 15., und sie beobachten eher in vogelreichen Schutzgebieten als in der Normallandschaft vor der Haustür.
Daten sammeln – aber die richtigen
Und weil die Ornitho-Nutzer so sind wie sie sind, reichen ihre Daten letztlich nicht, um die großen Fragen hinter den Zahlen zu beantworten: Wie sich die Populationen verschiedener Arten über Jahre und Jahrzehnte entwickeln, weshalb die einen zu-, die anderen abnehmen, was man tun kann, um vor allem letztere effektiver zu schützen.
Alle diese Fragen, das erfuhr ich von Sven Trautmann und seinen Kollegen, lassen sich im Prinzip beantworten, und zum Teil sind sie sogar schon beantwortet: dank systematischer Zählungen wie dem Monitoring häufiger Brutvögel.
Ich habe mich dann erkundigt, was es braucht, um bei diesem Monitoring mitzumachen, und die Antwort der drei DDA-Experten war – ja, auch eine Art Erleuchtung. Sie hat mir nämlich zum ersten Mal richtig bewusst gemacht, dass meine bescheidene ornithologische Expertise einen Wert hat. Dass meine Freude am Beobachten und Bestimmen nicht nur ein schräges Hobby ist, sondern einen Beitrag zur Erforschung und zum Schutz der Vogelwelt leisten kann. Das war eine beglückende Erkenntnis, aber zugleich hat mir ein bisschen das Herz geblutet. Weil mir klar wurde, dass ich schon viele Jahre früher mit dem Zählen hätte anfangen können; dass mein Name sogar im ADEBAR gestanden hätte – wenn ich gewusst hätte, dass es den DDA gibt.
Vogelschutz in Deutschland: Im Kleinen oft erfolgreich, im Großen noch zu wenig
Sie erklärten mir damals auch, dass es zwischen DDA und dem Naturschutzbund NABU eine Art inoffizielle Arbeitsteilung gibt: Die einen sitzen im Maschinenraum und liefern die Daten, die anderen nutzen diese, um damit Kampagnen zu fahren, Lobbyarbeit für den Vogelschutz zu machen – in der Politik und in der Öffentlichkeit.
Mir hat diese Arbeitsteilung damals durchaus eingeleuchtet. Aber heute tut sie das nicht mehr. Daran sind indirekt auch Sie schuld, beziehungsweise Ihre Daten.
Neulich kam die Rote Liste der Brutvögel für Niedersachsen raus, das Bundesland, in dem ich wohne. Und auf die Gefahr hin, dass ich kurz die Feststimmung versaue: Ein paar Zahlen möchte ich doch zitieren. Goldammer, Girlitz, Heckenbraunelle, Feldsperling, Grauschnäpper: minus 30 Prozent allein seit 1996. Rebhuhn, Tafelente, Wachtelkönig, Silbermöwe, Feldlerche, Fitis, Bluthänfling, Gartengrasmücke: mindestens minus 50 Prozent seit 1996. Haubenlerche: gerade noch zwei Reviere bei Lüneburg. Haselhuhn, Brachpieper, Goldregenpfeifer: ausgestorben oder verschollen.
Während ich die Zahlen anguckte, dachte ich an die vielen tollen Initiativen zu Vogel- und Naturschutz, die es in Niedersachsen ja zum Glück gibt. All die Life-Projekte und Agrarumweltmaßnahmen, das Aktionsprogramm Niedersächsische Gewässerlandschaften, das Volksbegehren Artenvielfalt, den Niedersächsischen Weg und, und, und. Im Kleinen hat das sicher schöne Erfolge gebracht – ich denke da etwa an das Limikolen-Eldorado am Dümmersee, den Kranichboom in der Diepholzer Moorniederung, den neuen Wiedehopf-Hotspot in Lüchow-Dannenberg.
Aber all das reicht halt nicht. Wenn man sich die Gesamtentwicklung der Vogelwelt anguckt, sowohl die der Arten als auch der Individuen, dann stellt man fest, dass es eigentlich seit Jahrzehnten nur in eine Richtung geht: abwärts. Und wenn man die Bestandskurven selbst der noch häufigen Arten in die Zukunft verlängert, dann sieht man, dass es rein rechnerisch nur eine Frage von ein paar Jahren ist, bis wir der letzten Feldlerche, der letzten Mehlschwalbe, der letzten Silbermöwe Adieu sagen müssen.
Das kann es doch eigentlich nicht sein. Aber was ist es dann?
Sie alle kennen den Elefanten, der bei sämtlichen Diskussionen zum Thema Vogel- und Naturschutz im Raum steht: die intensive Landwirtschaft. Dieser Elefant ist riesig und bis heute weitgehend immobil. Aber, um im Bild zu bleiben: Elefanten sind nicht am Boden festgewachsen; man kann sie schon bewegen, wenn auch nur zentimeterweise. Und ich glaube, dass auch wir Vogelfreundinnen und -freunde künftig mehr Elefanten bewegen könnten als bisher – nicht nur den einen.
An dieser Stelle hätte Ihnen gern einen knackigen Aktionsplan präsentiert, nach dem Muster: „Was der DDA jetzt tun muss – erstens, zweitens, drittens.“ Aber das kann ich nicht. Ich bin keine PR-Strategin, keine Campaignerin, deshalb wäre es anmaßend, wenn ich Ihnen konkrete Ratschläge gäbe. Aber wünschen darf ich mir was. Hier sind drei Dinge, über die Sie vielleicht auch schon mal nachgedacht haben.
Als erstes würde ich mir wünschen, dass Sie mehr aus Ihrem Maschinenraum rauskommen. Dass Sie die Kommunikation Ihrer Daten nicht anderen überlassen, sondern sie selbst übernehmen; direkter, offensiver, auf vielen Kanälen. Ich habe immer wieder den Eindruck, dass es bei vielen Leuten noch gar nicht so richtig angekommen ist, wie es um die Vögel steht, und dass ihr Rückgang überhaupt ein Problem ist. Ich rede jetzt nicht von den Leuten, die das Artensterben aus Prinzip leugnen oder kleinreden, nach dem Motto, „was wollt ihr denn, auf meinem Hof gibt's noch genug Schwalben.“
Umweltschutz wird immer mehr mit Klimaschutz gleichgesetzt
Was mir mehr Sorgen macht, sind diejenigen, die sich im Prinzip für Umweltthemen interessieren, womöglich sogar engagieren – aber den Biodiversitätsschwund dennoch kaum wahrnehmen, jedenfalls nicht als Thema von besonderer Relevanz. Diese Leute stellen mittlerweile die große Mehrheit der Umweltinteressierten, und das hat Gründe, auf die ich hier kurz eingehen möchte.
In den vergangenen Jahrzehnten hat sich in der Umweltdiskussion, vor allem der öffentlichen, der Schwerpunkt nachhaltig verschoben. Als ich anfing, über Umweltthemen zu schreiben, in den 1990er Jahren, da stand das Wort „Umwelt“ noch vor allem für die sichtbaren Naturphänomene unserer Umgebung – für Landschaften, Gewässer, Tiere, Pflanzen. Das hat sich nach und nach geändert; diese klassischen Themen sind zusehends in den Hintergrund gerückt, und „Umweltschutz“ ist inzwischen zum Synonym für „Klimaschutz“ geworden.
Klimaschutz ist natürlich ein Megathema, und dass es mittlerweile ganz oben auf der politischen Agenda steht, ist absolut richtig und überfällig. Aber Klimakrise und Klimaschutz dominieren die Umweltberichterstattung mittlerweile derart, dass viele das, was Umwelt sonst noch ausmacht, nur noch als Nischenthema wahrnehmen, oder als Seitenaspekt des Klimathemas. Und das finde ich fatal.
Übrigens ist das nicht nur mein Eindruck: Eine Gruppe kanadischer Wissenschaftler hat 2018 die gesamte Medienberichterstattung zum Thema Umwelt seit 1990 analysiert und festgestellt, dass über Klima im Durchschnitt achtmal häufiger berichtet wird als über Biodiversität. Und dass die gestiegene Aufmerksamkeit für Klimaschutz keineswegs anderen Umweltthemen zugutekommt; das öffentliche Interesse an Biodiversität ist seit 1990 leider nicht gewachsen.
Wir Journalistinnen mit Expertise in Sachen Vogelkunde und Naturschutz versuchen natürlich, dagegenzuhalten und das Ungleichgewicht in der Umweltberichterstattung zumindest ansatzweise auszugleichen. An dieser Stelle: Shoutout an meine Kolleginnen und Kollegen von den Riffreportern, besonders an Thomas Krumenacker, der so etwas wie eine Ein-Mann-Nachrichtenagentur für Vogelkunde ist.
Aber wir Umweltjournalisten alter Schule sind leider viel zu wenige. Und gerade, wenn es um Konfliktthemen geht, zum Beispiel die Frage der Vereinbarkeit von Windkraftausbau und Naturschutz, oder die Dringlichkeit einer ökologischen Agrarwende, stehen wir oft auf verlorenem Posten. Nicht weil uns die Argumente ausgingen. Sondern weil uns von der Gegenseite ein erschreckendes Maß an Unverständnis und Ignoranz entgegenschlägt. Der Tenor ist immer der gleiche: „Hört mal, wir kämpfen hier für die Rettung des Planeten, für die Zukunft der Welternährung, und ihr macht euch Sorgen um ein paar blöde Vögelchen?“
In solchen Momenten wünsche ich mir, dass jemand mit der Bazooka kommt. Mit einer Info-Bazooka, die in schnellem Takt harte Zahlen, aktuelle Daten, anschauliche Grafiken zur Lage von Vogelwelt und Natur raushaut. Und die sofort mit einem Sperrfeuer von Fakten dagegenhält, wenn irgendein Lobby-Verein wieder Desinformation produziert. Wenn zum Beispiel Vertreter der Agrarbranche behaupten, dass Brachflächen nichts für die Biodiversität bringen, sondern den Hunger in Afrika verschärfen.
Oder wenn die ARD zur besten Sendezeit eine Doku über Windkraft-Konflikte bringt, die Vogel- und Naturschützer in die Nähe von Klimawandelleugnern und Rechtsradikalen rückt. Oder wenn, ausgerechnet!, der Chef des Deutschen Naturschutzrings diese unselige Statistik zitiert, die den Zahlen von Vögeln, die Windrädern zum Opfer fallen, jene der Vögel gegenüberstellt, die durch Verkehr, Katzen oder Glasfassaden umkommen. Und daraus fälschlicherweise den Schluss zieht, dass Naturschäden durch Erneuerbare vernachlässigbar sind.
Nicht nur Vögel, auch Fledermäuse leben gefährlich
Ich hasse diese Statistik so sehr. Sie poppt in allen Windkraft-vs.-Naturschutz-Diskussionen auf wie ein multiresistentes Bakterium, und sie illustriert in deprimierender Deutlichkeit, wie naturfern die Umweltbewegung geworden ist. Es ist so traurig, dass man das heute tatsächlich erklären muss: dass Risikofaktoren für wildlebende Tiere sich in ihrer Wirkung addieren, weshalb auch kleinere zusätzliche Risiken Populationen zum Kippen bringen können; dass es in Deutschland nicht bloß „Vögel“, sondern über 320 verschiedene Vogelarten gibt, die je nach Größe, Lebensraum und Fortpflanzungsstrategie unterschiedlichen Bedrohungen ausgesetzt sind, und dass neben Vögeln auch Fledermäuse im Luftraum unterwegs sind, die jährlich nicht nur zu Zehn- sondern zu Hunderttausenden an Windrädern umkommen.
Also, es braucht die Info-Bazooka! Und wer könnte die besser bedienen als der DDA? Schließlich verfügen Sie nicht nur über einen unerschöpflichen Fundus an Daten, sondern über geballte ornithologische Expertise – ihre eigene und die ihrer 52 regionalen Mitgliedsorganisationen.
Und wenn Sie jetzt sagen, sorry, Öffentlichkeitsarbeit ist nicht so unser Metier, das soll lieber der NABU machen, dann sage ich Ihnen: Ja, das soll er! Aber das reicht nicht. Ich finde den NABU klasse und wichtig, bin da selbst Mitglied und kenne tolle Leute, die auf vielen verschiedenen Feldern gute Arbeit machen. Aber diese vielen Felder sind Teil des Problems. Der NABU ist, wie auch die anderen Umwelt-NGOs, ein Gemischtwarenladen, der für alle möglichen Themen zuständig ist: Außer für Vogel- und Naturschutz für Agrarpolitik, Müllvermeidung, Meeresschutz und natürlich Klimaschutz. Das führt manchmal zu Konflikten, bei denen leider häufig der Vogelschutz unter den Bus gerät.
Wie im Frühjahr 2021, als Vertreter des NABU-Bundesverbands gemeinsam mit einigen Grünen das berühmte Strategiepapier zum Windkraftausbau verfassten. Darin stellten sie unter anderem eine der Grundfesten des Vogelschutzes zur Disposition, nämlich den individuellen Artenschutz. Was die Grünen in ihrem Osterpaket natürlich dankbar und konsequent aufgegriffen haben.
Naturschutz – entweder konsequent oder gar nicht
Ich war damals so wütend, dass ich fast aus dem NABU ausgetreten wäre. Bin ich dann doch nicht, aber ich habe seitdem einen Wunsch, den ich jetzt endlich öffentlich aussprechen kann. Es ist der zweite Wunsch auf meiner Liste, der den ersten praktisch einschließt: Ich wünsche mir eine eigene Vertretung für die Vogelwelt.
Die Schweiz hat die Vogelwarte Sempach, Großbritannien hat die Royal Society for the Protection of Birds, die USA haben die Audubon Society. Und Deutschland, finde ich, braucht einen DBV reloaded, einen Deutschen Bund für Vogelschutz, der sich diesem Namen wirklich verpflichtet fühlt. Er kann auch anders heißen, DDA 4.0 zum Beispiel, aber dann müssten Sie einer breiteren Öffentlichkeit erstmal erklären, was Avifaunisten sind. Der neue DDA oder DBV sollte sich ausschließlich und kompromisslos für Vögel und Biodiversität einsetzen.
Das „kompromisslos“ meine ich wörtlich. Denn wenn die vergangenen Jahrzehnte eines gezeigt haben, dann dies: dass all die Versuche, Ökologie und Ökonomie zu versöhnen, eigentlich immer damit enden, dass die Natur vor die Hunde geht. Vögel haben nun mal, wie überhaupt alle Lebewesen, bestimmte Minimalansprüche, was Nahrung, Nistgelegenheiten und Schutz vor Fressfeinden angeht. Wenn man diese Ansprüche mit Rücksicht auf menschliche Begehrlichkeiten nur so halb erfüllt, dann hat man sie gar nicht erfüllt und irgendwann keine Vögel mehr. So einfach, so traurig.
Eine effektive Vogellobby sollte sich nicht darauf beschränken, Öffentlichkeitsarbeit für Vögel zu leisten, sondern sich als ihre politische Interessenvertretung verstehen. Dazu gehört auch ein aktivistischer Flügel, den ich „Birders for Future“ nennen würde.
Wenn Sie beim Wort „Aktivismus“ an Kartoffelbrei, Tomatensuppe und Sekundenkleber denken – das meine ich nicht. Obwohl ich große Sympathie für die Aktivisten der „Letzten Generation“ habe.
Die „Birders for Future“ hätten auf Jahre hinaus genug zu tun
Ich denke beim Stichwort „Aktivismus“ eher an den Goldregenpfeifer. Genauer: an die letzten Goldregenpfeifer von Niedersachsen. Die brüteten bis vor zwölf Jahren noch in einem Moorgebiet im Emsland, das EU-Vogelschutzgebiet ist. Leider wurde es nach seiner Unterschutzstellung weiter großflächig abgetorft, illegal zwar, aber mit Duldung der Naturschutzbehörden.
Ich stelle mir nun vor: Wenn die „Birders for Future“ Anfang des Jahrtausends mal ein paar Wochen lang die Zufahrtsstraßen zum Abbaugebiet blockiert und diese behördlich abgesegnete Naturzerstörung publik gemacht hätten – dann hätten sie die Abtorfung vielleicht rechtzeitig gestoppt und der Goldregenpfeifer hätte überlebt.
Hätte, wäre, wenn. Jetzt ist es leider zu spät. Aber mir fallen auf Anhieb drei, vier aktuelle Vogelhotspots ein, auf die dringend aufmerksam gemacht werden müsste, und ich bin sicher: Bei einer Spontanumfrage unter Ihnen kämen so viele solcher Hotspots zusammen, dass die Birders for Future die nächsten paar Jahre mehr als ausgelastet wären.
Nun sind Sitzblockaden unter freiem Himmel eher was für robuste Naturen, weshalb die Birders for Future noch eine zweite Abteilung bekommen sollten – eine, die eher auf Indoor-Aktivismus spezialisiert ist. Ihr Symbolvogel könnte die Haubenlerche sein, als Referenz an die berühmten Haubenlerchen von Walldorf. Die haben womöglich sogar europäische Rechtsgeschichte geschrieben – weil die Naturschutzbehörde des Rhein-Neckar-Kreises nicht den Kopf vor der öffentlichen Meinung eingezogen, sondern, mit Berufung aus das Artenschutzrecht, ein temporäres Ausgangsverbot für Hauskatzen verfügt hat. Leider passiert so etwas immer noch viel zu selten.
Guter Rat in Sachen Umweltrecht ist nicht immer teuer
Es gibt in Deutschland ziemlich gute Naturschutzgesetze, und die Möglichkeiten, diese einzuklagen, waren noch nie so gut wie heute – das sagen mir jedenfalls Leute, die sich auf diesem Gebiet auskennen. Die sagen mir aber auch, dass die Kluft zwischen dem, was durchgesetzt werden könnte und dem, was durchgesetzt wird, noch nie so groß war wie heute.
Und die Gründe dafür sind nicht so offensichtlich, wie es scheint. Ja, Klagen kosten Geld, aber das ist überschaubar; ja, man muss sich dazu ein bisschen in Umweltrecht auskennen, aber das Wissen kann man sich aneignen. Und es gibt Juristinnen und Juristen, die Natur- und Umweltschützer bei ihrem Einsatz für den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen sogar ehrenamtlich unterstützen.
Der entscheidende Grund für die Klagescheu vieler Naturschützer, so mein Eindruck, ist ein anderer: die Hemmung, Konflikte auszutragen. Und die Hoffnung, dass sich die Natur letztlich doch mit guten Argumenten und fantasievollen Kampagnen retten lässt.
Aber das wird nicht passieren. Und je schneller wir uns von dieser Illusion verabschieden, desto besser. Ich hoffe auf den neu aufgestellten DDA und die Birders for Future.
Ich habe noch einen Wunsch auf meiner Liste, der, glaube ich, mit links zu erfüllen ist – wenn der neue DDA erstmal eine feste Größe in der deutschen Umweltschutzszene geworden ist.
Das Monitoring häufiger Brutvögel umfasst insgesamt 2637 Flächen. Davon sind zurzeit knapp 700 vakant, warten also auf einen Zähler oder eine Zählerin. Das sollte sich schnell ändern. Ich wünsche mir und Ihnen, dass die zurzeit verwaisten Zählreviere schnellstens besetzt werden. Damit die Avifaunistik und der Vogelschutz in Deutschland eine noch bessere Datengrundlage bekommen. Aber nicht nur deswegen.
So klingt mein Monitoring-Revier – ein Mischwald südlich von Hamburg – an einem frühen Morgen im März: Wintergoldhähnchen, Amseln, Singdrosseln, ein Zaunkönig und, en passant, ein Erlenzeisig.
Jedes Mal, wenn ich in meinem Wald unterwegs bin, denke ich: Vogelfreundinnen und -freunde, Ihr wisst ja gar nicht, was euch entgeht, wenn ihr nicht mitzählt! Vogelmonitoring hat eine ganz andere Qualität als das bloße Beobachten; ich habe das Gefühl, die Vogelwelt dadurch nochmal ganz neu und intensiver kennengelernt zu haben. Ich kann jetzt zum Beispiel endlich Kohlmeisen von Tannenmeisen unterscheiden; ich habe gelernt, wie Fichtenkreuzschnäbel rufen, habe die Flüsterlieder von Waldlaubsängern drauf und das Lautrepertoire von Kleibern. Aber das ist nicht alles.
Es gibt diese speziellen Momente, die man nur beim Zählen erlebt. Diese ersten Minuten nach der Ankunft im noch stockdunklen Wald, wenn man in die Stille hineinhorcht und plötzlich das erste Rotkehlchen an zu zirpen fängt. Die Freude darüber, wenn die einzige Misteldrossel des Zählgebiets wieder an derselben Stelle singt wie im vorigen Jahr. Das Staunen, wenn ein jahrelang vakanter Nistkasten erstmals mit einer Kleiberfamilie besetzt ist. Und die Erleichterung, wenn man feststellt, dass man die Goldhähnchen auch in dieser Saison immer noch hören kann.
Für mich sind solche Momente jedes Mal ein Fest. Und ich würde mich einfach freuen, wenn noch viel mehr Menschen dabei mitfeiern würden.