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Die jungen Menschen in Europa verlieren die Lust am Lesen. Maschinen könnten diese Aufgabe übernehmen. Ein Zukunftsszenario.

vom Recherche-Kollektiv die ZukunftsReporter:
11 Minuten
Symbolfoto zur Pisa-Studie: kleine Kinder lesen in einer Bibliothek

Stellen wir uns einmal vor, das Lesen kommt in Europa mehr und mehr aus der Mode. Viele Menschen haben die Lust auf Bücher verloren und wechseln zu Hörbüchern. Moderne Technik erlaubt den fast völligen Verzicht auf das Lesen. Eine App wertet Briefe und E-Mails aus, Sprachnachrichten werden populärer. Die Fähigkeit zu schreiben besitzt nur noch eine gebildete Elite. Doch die meisten Menschen vermissen die alten Kulturtechniken nicht. Ein Zukunftsszenario der ZukunftsReporter.


Benedikt Larson schickt eine Nachricht an seine Frau Carolin. Er wird nicht rechtzeitig zuhause sein, um Sohn Erik zum Fußballtraining zu bringen. „Zu spät. Fußball“, sagt er leise in das Mikro seiner Lesemaschine. Auf dem Display erscheinen die Optionen, die das Gerät für ihn bereithält. Larson tippt auf das Bild seines Sohnes und wählt einen der Vorschläge der Maschine aus. Nach vier Klicks ist alles erledigt: Larson hat kein Wort geschrieben, aber seine Familie ist informiert. Carolin erhält die Nachricht beim Einkaufen. Sie hat ihr Handy so eingestellt, dass Nachrichten von Benedikt direkt auf ihr Ohr gegeben werden. Sie hört lieber seine Stimme als in den Textnachrichten zu suchen. Carolin liest schon lange nicht mehr. „Ich schaffe es doch nicht, Erik zum Training zu bringen“, hört sie. „Okay. Heute Abend kommt Mutter. Bist Du pünktlich zum Essen da?“, spricht Carolin in ihr Headset. Benedikt hört es in seinem kleinen Ohrlautsprecher und tippt auf den grünen Button.

Familie Larson liest seit Jahren nicht mehr als nötig. Wie die meisten Menschen beschränkt sie sich beim Lesen auf wenige Wörter: die Speisekarte im Restaurant, die Aufschrift auf einer Verpackung oder das Kino-Programm. Längere Sätze übernimmt die Maschine. Für die Nachrichten haben die Larsons Podcasts abonniert. Behörden und Unternehmen haben auf die Leseschwäche der Bevölkerung reagiert und Sprache immer weiter vereinfacht. Informationen über Produkte oder Rechnungen sind längst automatisiert. Verschiedene Strichcodes auf den Geräten, Verpackungen oder in Briefen bieten einen schnellen Zugang zu allen Details. Wer Hilfe benötigt, scannt den Code mit der Lesemaschine und ruft die kurze oder die lange Version einer Erklärung auf. Die nötigen Reaktionen lassen sich mit einem kurzen Sprachbefehl bearbeiten, den die Lesemaschine versteht: „Überweisung ausführen“.

Carolin hat dadurch mehr Zeit für Dinge, die ihr Spaß machen. Heute Abend wird sie für ihre Mutter ein neues Rezept aus einem Videochannel ausprobieren. Die Anleitung für das indische Curry mit Ananas und Artischocken dauert nur drei Minuten. Weil Carolin noch nie mit dem exotischen Gemüse gekocht hat, lässt sie sich kurz zeigen wie Artischockenherzen vorbereitet werden müssen. Nach dem Essen wird eine Maschine für Erik aus einer Detektivgeschichte vorlesen. Die Animation macht das besser als Carolin es könnte. Sie hat nie Spaß am Vorlesen gehabt, und meistens fehlt ihr die Zeit dafür. Modernde Vorlesemaschinen bieten verschiedene Varianten einer Geschichte an. Sie besitzen mehr Phantasie als die meisten Menschen. Erik sagt kurz, was ihn interessiert, und die Maschine passt sich an. Nur ausnahmsweise hört er ein Buch in der Urfassung, das seine Mutter empfohlen hat.

In der Firma widmet sich Benedikt Larson wieder dem Meeting, das gerade seine volle Aufmerksamkeit verlangt. Ein Chatbot hat den Raum reserviert und die Getränke organisiert. Das Management-Board diskutiert den Vertrag für ein Millionenprojekt. 3500 Seiten hat das Dokument, das kann kein Mensch lesen. Der Vertrag wurde von einer Management-Software erstellt, die sämtliche Standards europäischer Handelsverträge erfüllt und nach Unterzeichnung automatisch Informationsmaterial, Börsenmitteilungen und Pressematerial erstellt. Larsons Fachgebiet sind die Bedingungen zur Gewährleistung. Er interessiert sich nur für Passagen, die von rechtlichen Standards abweichen. Die Lesemaschine entdeckte 36 Stellen im Text mit einer Lesedauer von 142 Minuten. Larson hat zugehört und schon gestern, bei der Vorbereitung auf das Vertragsmeeting, 30 Stellen genehmigt. Drei Stellen überweist er der Rechtsabteilung zur Prüfung. Dort sitzen noch Experten, die komplizierte Texte verstehen.

Einer der Mitarbeiter der juristischen Lesegruppe schickt einen Ping auf Larsons Lesemaschine, der erlaubt mit einem Fingertipp die Übertragung auf seinen Ohrlautsprecher. Wie üblich im Telegrammstil. „Hallo Benedikt, hier ist Frank Schattauer, juristische Lesegruppe. Vertragsanalyse, Thema Gewährleistung, strittige Passage in Absatz 3.45/2 enthält viele unklare Formulierungen, Warnung der Rechtsabteilung, empfehle Gespräch.“

Larson freut sich, wie effizient die Kommunikation im Unternehmen geworden ist, seit sein Chef das Lesen und Schreiben in der Firma herabgestuft hat. Das war nötig, denn ein Drittel der Mitarbeiter hatte Probleme beim Lesen und Schreiben. Früher hätte sich Larson durch einen dreiseitigen Bericht mit Zusammenfassung wühlen müssen. Damit hatte er Zeit vergeudet und später doch den Kollegen anrufen müssen, um letzte Fragen zu klären. Der neue Telegrammstil ohne Sätze erleichtert Larson die Arbeit. Heute tippt er nur auf einen Button. Frank Schattauer ist bereit, an dem Meeting teilzunehmen, Sekunden später erscheint sein Gesicht auf dem Bildschirm. Er grüßt in die Runde.

Schauttauers Bericht fällt kurz aus: „Ich hatte sofort ein schlechtes Gefühl, als ich den langen Absatz gelesen habe. Der Satzbau ist kompliziert, viele eingeschobene Nebensätze. Sehr unübersichtlich. Außerdem häufen sich die Konjunktive. Unser Geschäftspartner befreit sich dadurch in mehreren Fällen von der Gewährleistungspflicht. Ihr müsst überprüfen, wie groß das verbleibende Risiko für uns ist. Wenn Euch meine Meinung interessiert: Ich halte das für einen Fall der neuen Grammatik-Kriminalität. Im Vertrag stehen komplizierte Sätze, die kaum noch jemand verstehen kann.“

Benedikt Larson erinnert sich an einen Gesetzentwurf der Regierung gegen die Grammatik-Kriminalität. Die Sprache in Vertragstexten soll noch einfacher werden. Sätze mit mehr als 20 Wörtern werden nicht mehr akzeptiert. Larson schiebt den fraglichen Absatz des Vertrags auf die Tagesordnung der nächsten Verhandlungsrunde. Heute fällt keine Entscheidung mehr, ob der Millionendeal genehmigt wird. Schattauers kurze Analyse schärft das Misstrauen des Managements.

Zurück im Büro hört sich Larson die 30 Passagen noch einmal an. Er erschrickt und hört genau zu. Fünf dieser Stellen lassen sich auch anders interpretieren, als er zunächst dachte. Ihm wird klar: Der Vertragspartner will sie aufs Glatteis führen. Larson flucht leise. „Vorschlag Larson: Wir nehmen den anderen Anbieter. Grund für die Absage: fehlendes Vertrauen.“ Noch am selben Abend stimmt das Management-Board der Entscheidung zu. Ein Schreibcomputer verschickt die Absage als zweiseitigen Brief mit allen notwendigen Anhängen.