Kolonialismus-Debatte: Das Stuttgarter Linden-Museum stellt sich seiner Geschichte

Das traditionsreiche Museum zeigt, wie der Sammeleifer der Ethnologen mit kolonialer Politik zusammenhing. Manche Sammlungsobjekte bergen Überraschungen.

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Blau und rot akzentuierte Textblöcke und Grafiken auf Stellwänden.

Endlich wieder offen: Die Ausstellung „Schwieriges Erbe. Linden-Museum und Württemberg im Kolonialismus“ in Stuttgart. Seit November letzten Jahres ist sie aufgebaut, konnte aber im Frühjahr nur für wenige Wochen Besucher:innen empfangen. Nun soll sie bis zum 8. Mai 2022 laufen, damit Schulklassen und andere Gruppen Gelegenheit haben, an Workshops der „Werkstattausstellung“ teilzunehmen und Verbesserungsvorschläge zu machen. Das Projekt versteht sich als weitere Etappe auf dem Weg zur Neubestimmung des Stuttgarter „Völkerkundemuseums“. Nicht nur die Ausstellungsstrategie ist so noch nicht dagewesen, auch die umfassende Aufarbeitung der eigenen Geschichte hat überraschende Einsichten zutage gefördert.

Obstnamen sind unverfänglich. Aus der Tanga-Straße wurde die Quittenstraße, aus der Wissmann-Straße die Johannisbeerstraße und aus der Deutsch-Ostafrika-Straße die Aprikosenstraße. Nach dem Zweiten Weltkrieg bekamen in Stuttgart zahlreiche, während der Kolonialzeit benannte Straßen neue Namen. Mit dem Booklet der Ausstellung „Schwieriges Erbe Linden-Museum und Württemberg im Kolonialismus“ in der Hand, kann man auf den Spuren des kolonialen Stuttgart wandeln. Es verzeichnet eine Vielzahl von Denkmälern und Gedenktafeln, ehemaligen Versammlungsorten und Geschäftsstellen.

Die authentischen Orte machen die breiten Unterstützung des Kolonialismus im Südwesten sichtbar. Die Recherche fand im Rahmen der Vorbereitung der Werkstattausstellung statt, die sich als umfassende Revision der Geschichte des „Völkerkundemuseums“ begreift. Im Bereich der bildenden Kunst war die Kunsthalle Bremen 2017 im Rahmen des Projekts „Bremer Erinnerungskonzepts Kolonialismus“ Vorreiter eines postkolonialen Blicks auf die Geschichte einer renommierten kulturellen Institution.

Am Anfang des Stuttgarter Projekts stand die Erkenntnis, dass es so gut wie keine Literatur zur Entstehung des Linden-Museums gibt. Deshalb beauftragte das Linden-Museum 2018 den Kolonialismus-Forscher Heiko Wegmann, Initiator der Plattform freiburg-postkolonial, mit einer Studie zur Geschichte des Museums. Seine vorläufige Ergebnisse waren so „bedeutsam“, wie Direktorin Inés de Castro sagte, dass sich eine Ausstellung in eigener Sache aufdrängte. Die Inhalte lieferten in diesem Fall nicht Ethnolog:innen, sondern der Historiker Heiko Wegmann und Markus Himmelsbach, Historiker und Provenienzforscher am Linden-Museum.

Historische Fakten anschaulich machen

Wer die Ausstellung betritt, fühlt sich anfangs erschlagen von den Textmassen und Grafiken auf den Schautafeln. Doch dauert es nur wenige Minuten, bis der Zeitstrahl, die Diagramme und Karten mehr mitteilen, als ein homogener Text dies in kurzer Zeit könnte. Die Stuttgarter Kolonialbewegung war eng mit der Kolonialpolitik des Deutschen Kaiserreichs verflochten, personell und institutionell, und ihre Aktivitäten ragten tief in die Zeit des Nationalsozialismus hinein.

Schwarzweißfoto, das Schränke und Vitrinen zeigt, die mit ethnografischen Objekten vollgestellt sind.
Blick in die erste Dauerausstellung des Linden-Museums Stuttgart in der Gewerbehalle Stuttgart. Das Foto wurde um 1899 aufgenommen.
Vergoldete Figur eines sitzenden Buddha.
In einem Brief an Karl von Linden schrieb Carl Waldemar Werther freimütig, dass er die aus Tibet stammende Figur aus dem Tempel der 10.000 Buddhas in der Pekinger Kaiserstadt geplündert habe.
Lamellenwand, die beim Vorbeigehen unterschiedliche Bilder zeigt, unter anderem den Satz „Wer betrachtet wen?“.
Wer betrachtet wen? Visualisierung des Prinzips Völkerschau.