Insekten: früher ekelig, heute lecker

Unser Essen verändert sich. Insekten sind auf dem Vormarsch. Ein Zukunftszenario

vom Recherche-Kollektiv die ZukunftsReporter:
9 Minuten
In Deutschland ungewöhnlich, in Asien Alltag. Blick in die Verkaufstheke eines Straßenverkaufs in Thailand: fritierte Insekten.

Stellen wir uns einmal vor, wie sich unsere Ernährung verändern könnte. Der Verbraucher akzeptiert Massentierhaltung wegen der Treibhausgase und der Klimakrise nicht mehr. Trotzdem ist nicht alles Bio, was im Kühlschrank liegt. Die Lebensmittelindustrie hat rechtzeitig mit neuen Produkten reagiert, und unsere Kinder interessieren sich plötzlich dafür, was in ihrem Essen steckt. Ein Zukunftsszenario der ZukunftsReporter.


„Papa, kannst du mir noch mal eine Geschichte aus der Landwirtschaft erzählen, die sind immer so schön“. Der kleine Lukas liegt schon im Bett, will aber noch nicht schlafen. Sein Vater zeigt Verständnis. „Soll ich dir nochmal eines der Videos auf dem Tablet anstellen?“, fragt Chris Janneck, der am Bett seines Sohnes sitzt. „Nein, erzähl lieber noch mal von dem Bauernhof, wo wir am Wochenende waren. Von den Schweinen in der Obstwiese oder von den Rindern mit den großen Hörnern. Wie heißen die noch mal?“ „Hereford Rinder“, antwortet Chris. Wie sehr sich Kinder heute für die Ernährung interessieren, denkt er. Chris fährt gern zum Bauernhof, sie kaufen dort auch ein. Lukas kennt aus dem Kindergarten viele Veganer oder Vegetarier, einige waren sogar Aquaner. Aber die Familie Janneck hat sich gegen eine Beschränkung entschieden. Das Fleisch, das sie essen, stammt vom einem der Bauernhöfe ihrer Region, der auch eine große Insektenzucht in den Hallen aufgebaut hat, in denen früher Tausende Schweine untergebracht waren. Der Hof setzt auf größte Transparenz bei der Produktion. Seit es so viele neue Quellen für Eiweiße, Aromastoffe und die anderen Zutaten der Industrieprodukte gibt, werden die herkömmlichen Nutztiere nur noch für besondere Zwecke gezüchtet. Wenn ein Huhn ein Ei legt, kann man ziemlich sicher sein, dass es zum Frühstücksei wird und nicht als Proteinanteil im Kuchen oder in Nudeln verschwindet. Chris und Lukas standen vor einem dieser gläsernen Behälter, in dem Larven krabbeln, die später zu einem Proteinbrei verarbeitet werden. „Oder soll ich Dir von den Würmern erzählen? Weißt Du noch, wie wir versucht haben, die zu zählen?“ „Ja“, antwortet Lukas, „das war lustig. Das geht gar nicht. Sind viel zu viele, Drölfzigtausend.“ Chris schmunzelt, weil sein Sohn immer neue Wörter erfindet, wenn ihm Zahlen fehlen. Lukas Augen falllen doch noch zu und sein Vater schleicht sich aus dem Zimmer. Chris wirft einen Blick in den Kühlschrank, denn seine Frau kommt bald von der Arbeit zurück und sie wollen noch gemeinsam essen. Kochen würde er nicht, sie haben noch genug Pasten und Aufstriche, die sie bei verschiedenen Läden kaufen. Er hackt ein paar Paprika, die er unter das Insektenmousse rühren will. Dazu gibt es frische Obst- und Gemüsepasten mit Joghurt, Hirse, Reis, Quinoa oder Weizen als Grundstoff. Zudem will er noch zwei kleine Pfannkuchen mit dem 3D-Drucker produzieren. Die gibt es in verschiedenen Geschmacksrichtungen. Seine Frau bevorzugt Vanille oder Bärlauch, er legt lieber die herzhafte Kartusche für Zwiebel/Schinken-Geschmack ein. Die Produkte aus dem Pfannkuchendrucker gelten nicht als besonders gesund, aber er mag ihren Geschmack. Und günstig sind sie auch, so kann sich die Familie auch Fleisch und Fisch leisten, deren Preise durch die Veränderungen in der Landwirtschaft gestiegen sind. Am Donnerstag kommen die Eltern zu Besuch, dann soll es Rinderfilet mit Kartoffeln und frisch zubereitetem Gemüse geben. Ein klassisches Gericht von früher, das sie heutzutage nur selten essen, weil die Pasten doch sehr praktisch sind und jeden Monat neue Kombinationen auf den Markt kommen.

„Papa!, Papa!“ Lukas ist wach geworden und Chris schaut nach ihm. Er sitzt im Bett und zeigte auf die Wand. „Guck mal, eine Spinne“, sagt der Junge. Chris entdeckt das Spinnentier an der Unterseite eines Regalbretts. „Wie schön die ist“, sagt Lukas, „und wie schnell die laufen kann. Ob die morgen früh wohl noch da ist, wenn ich aufstehe? Dann könnte ich mir die genauer anschauen.“ „Bestimmt. Aber jetzt musst Du schlafen. Morgen früh geht es zum Kindergarten. Mama und ich müssen arbeiten“, sagt Chris. Er will seinen Sohn ablenken, sonst würde Lukas noch lange nach der Spinne schauen und erst in einer Stunde einschlafen. Die Kinder haben das Ekelgefühl vor Insekten völlig verloren, denkt Chris. Kein Wunder, das große Insektensterben hatte dem Krabbelgetier viel Aufmerksamkeit und Respekt gebracht und der hohe Proteingehalt sie sogar auf die gleiche Stufe zu anderen Nutztieren gehoben. Lukas hat sich entschlossen, kein Huhn zu essen, weil er die Tiere so niedlich findet. Aber feingehackte getrocknete Würmer mag er gern, am liebsten als Brei mit Joghurt und etwas Bienenhonig.

Erste Versuche mit Insekten im Supermarktregal verliefen gut. „Wir sind mit dem Absatz sehr zufrieden. Vor allem in städtischen Märkten verkauft sich Insekten-Food gut", beschrieb ein Sprecher der Schweizer Lebensmittelkette Coop im Mai 2018 gegenüber dem Fachmagazin „Food aktuell" die Bilanz eines neunmonatigen Testlaufs in Europa. Damals hatte die Kette Burger, Bällchen und Energieriegeln aus Insekten im Programm. Im Juni erweiterte Coop das tierische Angebot um verschiedene Snack-Mischungen mit ganzen Mehlwürmern, Grillen und Nüssen. Ganz ähnlich ist das Angebot deutscher Supermarktketten: Kaufland bietet Buffalowürmer in der Geschmacksrichtung Sauerrahm/Zwiebel und Mehlwürmer in Knoblauch und Kräuter an. Der Preis für eine 18-Gramm-Packung liegt bei 6,99 Euro, was einem Kilopreis von mehr als 300 Euro entspricht.

Die Bilder in unserem Kopf sollen sich ändern

Sollen Insekten als Nahrung in Deutschland populär werden, muss sich das Image ändern. In erster Linie geht es darum, das Ekel-Gefühl, das viele Europäer im Gegensatz zu Asiaten mit dem Verzehr von Insekten verbinden, zu verdrängen Die Hochschule Fresenius in Köln hat einer Gruppe von 180 Testessern Schokopralinen mit Mehlwürmern angeboten. Die eine Hälfte der Freiwilligen wurde zuvor mit Werbeslogans konfrontiert, die die gesundheitsförderlichen und umweltfreundlichen Aspekte von Insekten als Nahrungsmittel betonten. Der anderen Hälfte wurden die Insekten als Luxusprodukt und trendiges Lifestyle-Objekt inszeniert/präsentiert. In dieser Gruppe probierten mehr Menschen (76 %) die Pralinen als in der umweltbezogenen Gruppe (61%). Diese Studie wurde von dem Schweizer Hersteller Essento unterstützt.

Häufig ist der tierische Bestandteil im Produkt kaum noch direkt zu erkennen. Nudeln mit Insektenbeimischung profitieren den Herstellern zufolge von deren leicht nussiger Note. Der finnische Lebensmittelkonzern Fazer bietet seit Herbst 2017 nach eigenen Angaben als erstes Unternehmen der Welt ein Heuschrecken-Brot an. Jedes Brot enthält demnach 70 Heuschrecken, die zu Pulver vermahlen und mit gewöhnlichem Mehl vermischt wurden. Der Gewichtsanteil der Heuschrecken am Brot betrage etwa drei Prozent. Ein Bäckermeister in Bielefeld arbeitet gemeinsam mit Studenten der Universität an einem Dinkelbrot, in dem 20 Prozent des Mehls durch gemahlene Mehlwürmer ersetzt wurden.

Die Aussicht, dass insektenhaltige Lebensmittel seit 2018 durch die Änderung der Novel-Food-Verordnung europaweit zugelassen werden können, hat viele Start-ups motiviert. Studenten der FH haben im „Food Lab Münster“ beispielsweise ein Proteinpulver auf Basis von Buffalo-Würmern auf den Markt gebracht. „Wir haben über ein halbes Jahr lang an den optimalen Zutaten und dem Geschmack gefeilt“, sagt Tim Dapprich, einer der Entwickler, in einer Pressemitteilung. „Letztendlich sind neben Insektenprotein vor allem Erbsen- und Hanfprotein sowie natürliches Vanille-Aroma enthalten.“ Dapprich gesteht ein: „Dass Buffalo-Würmer enthalten sind, merkt man nicht.“ Das Produkt richtet sich vor allem an Sportler, die das Pulver als Proteinshake mit Milch, Haferdrink, Obst und Honig konsumieren sollen. Bei der Burgerkette „Hans im Glück“ steht seit Februar ein Insektenburger mit dem Namen „Übermorgen“ auf der Karte. Nach Angaben der Kette besteht etwa ein Viertel des Bratlings aus feingemahlenem Buffalo-Wurm, den Rest bilden vegetarischen Zutaten wie Sojabohnen, Eier und Gewürze.

Doch der ganz große Andrang auf europaweite Genehmigungen der Insekten als Bestandteil der Zutatenliste bleibt noch aus. Zwar betonen die Befürworter des Insektenfoods, dass mehr als 2000 Arten essbar seien. Aber die für die Risikobewertung zuständige Behörde, die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA), bearbeitet derzeit nur sechs Anträge auf Einschätzung der gesundheitlichen Gefahren. Ihr Gutachten bildet die wissenschaftliche Grundlage für eine mögliche Zulassung durch die EU-Kommission oder die Mitgliedsstaaten. Ohne Sicherheitsbewertung werden selbst solche Insekten nicht marktfähig, die in anderen Ländern schon seit Jahrzehnten gegessen werden. Für drei Arten läuft das Verfahren bereits: für getrocknete Grillen (Gryllodes sigillatus), getrocknete Mehlwürmer (Tenebrio molitor) und für ganze und gemahlene Buffalowürmer (Alphitobius diaperinus).

Insekten gelten als gesund und haben eine gute Ökobilanz

Dabei spricht aus ernährungsphysiologischer Sicht einiges für Insekten als Nahrung. Sie besitzen zumeist einen hohen Proteinanteil. Mehlwürmer, Grillen und Heuschrecken enthalten ähnliche Proteine wie Fisch, Rind und Huhn und sind reich an ungesättigten Fettsäuren. Noch stärker sind die ökologischen Argumente. Insekten sind bei der Umwandlung von Futtermitteln in essbare Anteile etwa doppelt so effizient wir Hühner, mindestens viermal effizienter als Schweine und zwölfmal besser als Rinder. Das bedeutet, dass wesentlich weniger Ackerfläche für Pflanzen als Tierfutter benutzt werden muss. Die Daten schwanken bei den Insektenarten, aber um beispielsweise ein Kilogramm Grillen zu züchten, müssen lediglich 1,7 kg Futtermittel bereitgestellt werden. Insekten verursachen deutlich weniger Treibhausgase und benötigen weniger Wasser als herkömmliche Nutztiere. Die meisten Anbieter des Insektenfoods züchten die Tiere aber nicht selbst, sondern kaufen sie ein.

Der Begriff Massentierhaltung ist im Falle der Insekten nicht negativ besetzt. Im Gegenteil: Die Würmer mögen das. Die Aufzucht der Tiere erfolgt unter kontrollierten und den europäischen Hygienestandards entsprechenden Bedingungen. Beim Futter haben die meisten Produzenten hohe Ansprüche: Der niederländische Hersteller Proti-Farm schreibt: „Das Futter besteht aus GMP+-zertifizierten, vegetarischen Nebenerzeugnissen, die im Einklang mit der Europäischen Futtermittelverordnung stehen. Die Nebenerzeugnisse haben den Vorteil, dass vorher nicht für den Menschen nutzbare Erzeugnisse durch die Insekten in hochwertige und proteinreiche Lebensmittel umgewandelt werden können." Die Tötung der Tiere kommt ohne Betäubungsmittel aus. Insekten sind wechselwarme Tiere, bei niedrigen Temperaturen stellen sie ihren Stoffwechsel ein. Sie werden also tiefgefrostet und dann zermahlen. Allerdings ist die Wurmzucht nur ein Teil der Insektenproduktion. Zusätzlich bedarf es noch einer Erhaltungszucht, in der die Käfer gezüchtet werden, die die Eier legen, aus denen die Würmer sich als Larven entwickeln.

Der Verbraucher wird entscheiden, ob Insekten auf dem Teller in Europa eine Chance haben.