Fahrradklima: Der große Wandel bleibt aus – trotz neuer Impulse durch Corona

Zwei Drittel von 230.000 Befragten fühlen sich beim Radfahren nicht sicher. Zumal in Städten bleibt die Situation mit ADFC-Durchschnittsnote 4 nach wie vor kritisch.

7 Minuten
Sonnenbeschienene Szene, in der Autor Martin C Roos ein Paar mit Kinderwagen anspricht, vor den dunklen Wolken, die über einem baumbestandenen Fuß- und Radweg dräuen.

Der Fahrradklima-Test des ADFC gilt als größte Umfrage zur Zufriedenheit von Radfahrerinnen und Radfahrern. Befragt wird alle zwei Jahre – 2020 zum neunten Mal. Rund 230.000 Radfahrer·innen stimmten ab und 1.024 Städte kamen in die Wertung. Heute stellen ADFC und Bundesverkehrsministerium gemeinsam die Umfrageergebnisse vor. In ausgewählte Details konnte ich vorab Einblick nehmen. Hier kommentiere ich einige der überraschenden und andere, erwartbare Ergebnisse. Anschließend blicke ich auf die kurz vor dem Fahrradklima-Test erschienene Radreiseanalyse, um die Trends in Sachen Fernradwege, Radregionen und beliebteste Bundesländer anzureißen.

Zunächst zum Fahrradklima-Test. In diesem nimmt der „Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club“ besonders die großen Städte ins Visier und sucht Schwachstellen in der Infrastruktur, zum Beispiel in Form schmaler oder häufig zugeparkter Radwege. Der ADFC stellt fest:

Außer Dresden und Bremen haben sich alle Großstädte über 500.000 Einwohner ganz leicht verbessert durchschnittlich von der Note 4,08 auf 4,02.

Kommentar RadelnderReporter: Das ist erstens eine marginale Verbesserung auf allemal noch niedrigem Niveau. Zweitens fehlen ältere Vergleichszahlen um zu beurteilen, ob diese 0,06 Notenstufen nur Scheinsignale darstellen innerhalb eines statistischen Grundrauschens.

Gemittelt über alle Städte, also die kleineren und kleinsten einbeziehend, konstatiert der ADFC:

Die Zufriedenheit der Radfahrenden bleibt weiter niedrig (Durchschnittsnote 3,9).
69 Prozent der rund 230.000 Befragten fühlen sich beim Radfahren nicht sicher.

Im Dschungel der Großstadt

Karlsruhe, Münster, Erlangen, Göttingen, Freiburg: In dieser Reihenfolge gruppieren sich die am besten bewerteten Großstädte – solche jenseits einer Einwohnerzahl von 100.000. Positiv hebt der ADFC vor allem Karlsruhe, Wiesbaden und Kiel hervor: Diese seien durch Beharrlichkeit fahrradfreundlicher geworden. Kommentar ADFC:

Gut, dass diese Städte beweisen, dass der Ausbau der Radwege nicht Jahrzehnte dauern muss.

RadelnderReporter: Die Platzhirsche unter den Radstädten verteidigen ihren guten Ruf. In Sozialen Medien mehren sich allerdings seit 2019 die Kommentare, diese Kommunen würden sich, sinngemäß zusammengefasst, zu sehr auf ihren Lorbeeren ausruhen, statt die Rad-Infrastruktur kontinuierlich weiter zu verbessern.

Auf der Deutschlandkarte haben Karlsruhe, Münster, Erlangen, Göttingen, Freiburg die besten Noten (knapp über 3). Die schlechtesten Noten besitzen Pforzheim, Remscheid, Bergisch Gladbach, Koblenz, Hagen, jeweils unter 4.
Die fünf am besten und am schlechtesten bewerteten Großstädte aus dem Fahrradklima-Test für 2020. Der ADFC lehnt sich ans System der Schulnoten an: Bestmögliche Note wäre die 1.

Laut ADFC wurden die Erwartungen in mehr als tausend Städten – kleinen und großen – eher enttäuscht. Schlusslichter in der Großstadtwertung sind Pforzheim, Remscheid, Bergisch Gladbach, Koblenz sowie Hagen.

RadelnderReporter: Am Beispiel von Nordrhein-Westfalen zeigt sich, dass viele Metropolen trotz punktueller Fortschritte in Sachen Radschnellwegen noch lange nicht in der ersten Radverkehrsliga spielen.

Der Malus der Ballungsgebiete

Extrem fiel mir das auf in Hagen – erneut Schlusslicht unter den Fahrradstädten. Mein Hagen-Erlebnis, festgehalten im Deutschlandbuch Zwei Räder, ein Land: „Schlimm war das Verkehrsaufkommen und das Gefühl, fehl am Platz zu sein mit meinem Vehikel vermeintlich niedriger Rangstufe. Der kleine Teil Hagens, den ich anschneide, hat kaum Radwege. Die Wenigen sind schmal, uneben, gefährlich. Als ich mich dem Recherche-Stopp nähere, lockt mich die Versuchung, das Weite zu suchen – schnell raus aus Hagen.“

Bergisch Gladbach umfuhr ich seinerzeit auf Anraten eines lokalen Radexperten weiträumig. Zumal es südseitig über Bensheim schicke Radfahr-Alternativen gibt. Bensheim ist heuer im Fahrradklima-Test um eine ganze Note besser als Bergisch Gladbach, Der südliche Nachbar Bensheim zeigt sich im Vergleich zu 2018 konstant im Klimatest – mit Note 3,7 im oberen Mittelfeld.

Pforzheim und Koblenz nahm ich bislang nicht unter die Räder. In den Regionen zwischen Hagen und Koblenz immerhin stellte ich frappante Unterschiede fest in Sachen Radinfrastruktur. Nachfolgend der Clip:

Martin C Roos steht mit seinem Rennrad am Geländer des Holbeinstegs, hinter ihm der Main vor der Skyline Frankfurts.
Weitaus entspannter durchs Bankenviertel traversiert als befürchtet: Der RadelndeReporter auf der Mainbrücke namens Holbeinsteg, zugelassen nur für Fußgänger sowie Fahrrad- und Rollerfahrer.

Aufsteiger Frankfurt

Im Ranking der Großstädte mit mehr als 500.000 Einwohnern ist Frankfurt der Newcomer. Die Mainmetropole landete auf Platz 3 hinter Bremen und Hannover. Kommentar ADFC:

Hier sehen die Befragten seit der Corona-Pandemie handfeste Signale für mehr Fahrradfreundlichkeit.

RadelnderReporter: Frankfurt war für mich schon vor Corona-Pandemie eine große positive Überraschung. Auf einer Radrecherche fuhr ich zum Beispiel aus dem Grünen nordwestlich der Heerstraße erstens gut ausgeschildert, zweitens schnurstracks und drittens recht gut abgeschirmt vom Autoverkehr durchs Zentrum an den Main (Foto oben).

Der ADFC zu den Siegern in der Extra-Kategorie namens „Aufholer“, nebst „Noten“:

Ausgezeichnet werden folgende Städte mit den stärksten Verbesserungen gegenüber dem letzten ADFC-Fahrradklima-Test:
  • Frankfurt, von 3,9 auf 3,7
  • Wiesbaden, von 4,4 auf 3,9
  • Würzburg, von 4,3 auf 4,1
  • Böblingen, von 4,3 auf 3,6
  • Landau/Pfalz, von 4,2 auf 3,6
  • Gaildorf, von 4,2 auf 3,5.

Sonderpreis für Berlin

Den Sonderpreis als Großstadt, die „seit Corona“ am meisten für den Radverkehr getan hat, erhält Berlin. 80 Prozent der Befragten sehen dort laut ADFC handfeste Signale für mehr Fahrradfreundlichkeit während der Corona-Zeit.

RadelnderReporter: Für die Umfrage mag eine Rolle gespielt haben, dass unterbewusst allein im bisweilen stark reduzierten Verkehrsaufkommen ein verkehrstechnisch beschönigtes Bild der Hauptstadt entsteht. Mitte März 2020 erlebte ich zu Beginn der Pandemie die drei Fahrspuren gen Brandenburger Tor völlig frei von motorisierten Fahrzeugen; östlich, auf der „Unter den Linden“-Seite, waren Tor und Platz so menschenleer wie selten.

Seltene Leere vor dem Brandenburger Tor, durch das von Westen die Sonne scheint: Auf dem Vorplatz sind lediglich drei Passant·inn·en zu sehen.
Nicht wegen der Lockdown-Leere, sondern unter anderem wegen 2020 vermehrt eingerichteter „Protected Bikelanes“ (geschützten Radfahrstreifen auf Hauptstraßen) erhielt Berlin im Rahmen des Fahrradklima-Tests vom ADFC einen Sonderpreis.

Der Fahrrad-Boom im Corona-Jahr

Nur Metropolen und Städte im Blick zu haben, was das „Fahrradklima“ anbelangt, klammert das Gros der Bevölkerung aus. Häufig wird vergessen, dass in Deutschland über zwei Drittel der Menschen eher landwärts oder dörflich leben. Wie die Zeit vor einigen Jahren analysierte, leben hierzulande knapp 70 Prozent in Orten mit weniger als 100.000 Einwohnern.

Der Fahrradboom im Zuge der Pandemie erfasste Städte, Dörfer und Land gleichermaßen. Deutschlands Zweirad-Industrie verzeichnet fürs Jahr 2020 laut Pressedienst Fahrrad gut fünf Millionen verkaufte Fahrräder. Das bedeutet einen Zuwachs von rund 17 Prozent gegenüber 2019. Nie innerhalb der zwei Dekaden dieses Jahrhunderts entdeckten hierzulande binnen eines Kalenderjahres so viele Menschen das Fahrrad sozusagen völlig neu für sich, sei es für Alltag oder Freizeit.

Umso bedauerlicher ist, dass der dringend nötige Ausbau der Rad-Infrastruktur hinterherhinkt – obwohl das Bundesverkehrsministerium immer neue Rekordmittel für den Radwegebau zur Verfügung stellt. Mitte März monierte ADFC-Sprecherin Stephanie Krone gegenüber der Süddeutschen Zeitung:

Die Radwegenetze waren schon vor der Krise katastrophal, deshalb verschärfen sich jetzt die Probleme bei zunehmendem Radverkehr.

Radreisen in Deutschland

Es gibt noch viel zu tun, wenn Fernradwege einladend, sicher und komfortabel sein sollen“, hieß es vergangenes Jahr in einer Analyse des Magazins BusyStreets. Zumal in Freizeit und Urlaub avanciert das Fahrrad als der Deutschen liebstes Gefährt. Wie der ADFC Mitte März bekanntgab, unternahmen in Deutschland trotz verkürzter Urlaubssaison 3,5 Millionen eine Radreise. Davon wollen laut Umfragen mehr als Dreiviertel heuer erneut mit dem Rad verreisen.

1,8 Millionen Menschen verreisten 2020 das erste Mal mit dem Fahrrad.
Eine Frau und ein Mann rasten neben ihren Tourenrädern im Schatten zweier mächtiger, runzliger Baumstämme.
Jedes Jahr ermittelt der ADFC die in Deutschland beliebtesten Radfernwege, Radregionen und Bundesländer.

Gemäß Reiseanalyse des ADFC, die kurz vor den Fahrradklima-Testergebnissen publik wurde, waren im Jahr vor der Pandemie 5,4 Millionen Menschen in Deutschland auf kombinierter Rad- und Übernachtungstour.

Top-5 der Beliebtheitsskala in Deutschland

Radfernwege:

  1. Elberadweg
  2. Weser-Radweg
  3. Ostseeküstenradweg
  4. MainRadweg
  5. Donauradweg.

Bundesländer (ähnlich wie bereits im Vorjahr berichtet):

  1. Bayern
  2. Mecklenburg-Vorpommern
  3. Niedersachsen
  4. Nordrhein-Westfalen
  5. Baden-Württemberg.

Radregionen:

  1. Ostholstein
  2. Bodensee
  3. Münsterland
  4. Aller-Leine-Tal
  5. Emsland.

Zitat ADFC, Urheber der drei Rankings:

2020 hat sich Ostholstein als Neueinsteiger direkt den ersten Platz gesichert.

RadelnderReporter: Vermutlich hat in Sachen Radregionen eine Rolle gespielt, dass viele Menschen in ihrer Meersehnsucht und mangels sicherer Auslandsoptionen, zum Beispiel an Mittelmeer und Atlantik, die Nähe zur Ostsee suchten.

Der RadelndeReporter fährt mit seinem Renrrad nah der Abbruchkante am Brodtener Steilufer, unter dem sich die Fluten der Lübecker Bucht erstrecken.
Derart leer erlebte man/frau im Jahr 2020 die Steilküste zwischen Travemünde und Timmendorfer Strand selten: Während der Pandemie spülte sommerlicher Urlaubsdrang massenhaft Touristen an die Ostsee.
Eine Familie mit zwei Kindern hält mit den Rädern am Wasser vor Gifhorn, um sich anhand einer Faltkarte über die weitere Radroute zu informieren.
Die Radroute an der Aller – hier bei Gifhorn – gehörte unter den Fernradwegen zu den Aufsteigern des Jahres 2020 (siehe Auflistung oben). Das entspricht dem vom ADFC propagierten Credo „Deutschland per Rad entdecken“: Bekannte Flussradwege bleiben Klassiker, aber neue Regionen geraten in den Fokus von Radtourist·inn·en.