Saarland, Blieskastel und der „Bürgergarten“
Stadt-Land-Beziehungen im Bliesgau und der Zerfall von Hotellatschen sowie des größten Menhirs in Mitteleuropa.
Kapitel 7 der Fahrt durch alle Bundesländer (Kap. 1 – Kap. 2 – Kap. 3 – Kap. 4 – Kap. 5 – Kap. 6 und hier das ganze Buch). Nach rund 900 Kilometern durch Deutschland erlebe ich in Città Slow Blieskastel, wie das Biosphärenreservat Bliesgau ökologisch und ökonomisch ausgerichtet ist. Und wie mein Fußweg durch die „essbare Stadt“ zum Abenteuer gerät.
Regenpause an einem Juni-Vormittag. In Blieskastel, im östlichen Saarland, spreche ich bei Pia Schramm am Paradeplatz vor. Schramm ist – Atem holen – stellvertretende Geschäftsführerin des Biosphärenzweckverbands Bliesgau, zuständig für Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit.
Schramm spendet mir die kurze Zeit vor der Mittagspause, um mir rasch die fachlichen Eckpunkte des Reservat-Zweckverbandes zu servieren:
- urbane Biodiversität
- Nachhaltigkeit der Stadt
- Ausbau Stadt-Land-Beziehungen.
Mit seiner Bevölkerungsdichte über dem Bundesdurchschnitt ist das „Bliesgau-Reservat“ eher städtisch geprägt (siehe Clip, unten). Trotzdem gibt es ausgedehnte Streuobstwiesen, alte Buchenwälder und urige Auenlandschaften. Im südlichen Teil des Biosphärenreservats soll nahezu die Hälfte aller bundesweit vertretenen Orchideenarten vorkommen.
Hauptstadt des Bliesgaus ist Blieskastel. Es dehnt sich über eine Fläche groß wie Paris, besitzt aber nur etwa 22.000 Einwohner. Schramms abschließender Rat: oben im Bürgergarten die essbare Stadt erleben, aber schnell! Offen ist der Bürgergarten momentan nur, solange noch Arbeiter zugange sind – nur noch eine knappe Stunde.
Das hört sich viel an. Aber ich habe ein Handicap. Mein Schuhwerk.
Bestreite ich nicht eine der 24 Radetappen, gehe ich gern zu Fuß – aber lieber nicht in Radschuhen. So unbequem! Außerdem bin ich gewarnt, weil zu Beginn meiner Deutschlandfahrt nach dem Matschwald bei Leisterförde eine Intensivreinigung vornehmen musste.
Mit im Minimalgepäck habe ich Barfußlatschen: hauchdünne Gummilappen, die den Fuß umschließen. Und jeden Zeh einzeln.
Die Spezies der gemeinen Hotelschlappe
Aber Gummi treibt Schweiß. Deswegen schlüpfte ich an jenem Junitag einfach in die windigen Dinger, die auf dem Zimmer waren – in die Spezies der gemeinen Hotelschlappe. Als Frau Schramm mein Fußkleid erblickt, sehe ich ihr allerdings an, dass sie an der Ernsthaftigkeit meiner Reportermission zweifelt.
Als ich mich um 12.30 Uhr von Frau Schramm verabschiede, muss rasch entscheiden:
- Soll ich mit den schon nicht mehr so blütenweißen Schlappen die hundert Höhen- und tausend Streckenmeter hinauf zum Bürgergarten tapern?
- Oder erst Schuhwerk wechseln im Hotel, dann aber womöglich nicht mehr in den Garten kommen?
Zwei Minuten später eiere ich unter den erstaunten Blicken und spitzen Kommentaren einer hessischen Seniorengruppe über die Pflasterbuckel der Fußgängerzone. Die Schlappen passen sich dem runden Pflaster perfekt an, aber damit sie mir an den Füßen bleiben, muss ich seitlich eiernd ausschreiten.
Für die lange Treppe zur Oberstadt sind die Schlappen alles andere als angepasst. Die Stufen sind rau und voller Steinchen. Akuter Schlappenzerfall tritt ein.
Oben lockere ich sitzend kurz die Füße und Waden. Die Sitzbank teile ich mit einem Mann in Mönchskutte, Bruder Jakub, wie sich herausstellt. Er ist Franziskaner, aus der Gegend von Krakau und hat mit fünf Brüdern vor einigen Jahren Blieskastels Kloster von den Kapuzinern übernommen. Die starben aus. Aber Blieskastel fand Experten im Ausland.
Ein Beispiel erfolgreicher Arbeitsmarktpolitik, um klerikalen Fachkräftemangel auszugleichen.
Kostprobe der essbaren Stadt
Hastig schlurfe ich mit schmerzenden Sohlen weiter zum Bürgergarten. Als ich durchs Tor zockle, packen Arbeiterinnen und Arbeiter eben Utensilien auf einen Bauwagen mit offener Ladefläche. Sie sind im Aufbruch. Ach bitte, rufe ich, Frau Schramm schickt mich, ich komme als Reporter extra von weit her, um zu berichten. Die Menschen mustern mich ungläubig. Ich kann mir vorstellen, wen sie sehen: einen leicht dürren, schwer ausgemergelten Mann im Dress eines Radfanatikers, darüber ein abgewirtschaftetes Gesicht mit tiefen Augenringen, Strubbelhaar, und unter dem Dress: graue, halb zerfetzte Hotelschlappen.
Frau Schramm? Kennt hier niemand. Weil die Arbeiter wegen Ratlosigkeit innehalten, vermag ich mit gezücktem Presseausweis Zeit zu schinden. Nun eilt die Chefin des Trupps heran, mit der ich eine Interview-Runde starte. Die Schlappen allerdings drehen keine Runde mehr; sie haben den Bürgergarten nicht mehr verlassen. Ich überzeuge Nicole Bayer, mir rasch, vor Feierabend, das Konzept der essbaren Stadt zu erklären – hier der Clip (danach kostenpflichtiger Abschnitt).
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Biosphäre und Regionalvermarktung
Mitte Januar 2021 forderte der Chef des Saarländischen Bauernverbandes, Hans Lauer, im SR2-KulturRadio, die Landwirte sollten sich besser organisieren, um dem Druck der, Zitat, „ungefähr acht Lebensmittel-Giganten in Deutschland“ etwas entgegenzusetzen. Mögliche Strategien, dem Preisdruck auszuweichen, umfassen eine stärkere Regionalisierung der Vermarktung. Laut Lauer könnte beispielsweise auch dazu gehören, dass Landwirte Blühflächen zum Kauf anbieten, für Verbraucher und Institutionen. Diese würde damit einerseits in Klimaschutz investieren und andererseits dafür den Landwirten einen Ausgleich liefern.