Per Rad durch alle Bundesländer: Von Ossis in Mecklenburg und Fischen aus der Elbe

Kapitel 2 aus „Zwei Räder, ein Land“, dem Deutschlandbuch des RadelndenReporters

11 Minuten
Martin C Roos mit seinem Interviewpartner, dem Elbfischer Panz.

Die Provinz macht unser Land aus, in dem nur ein Drittel der Bevölkerung in Großstädten lebt. Jenseits der Metropolen bin ich per Rad durch Deutschland getourt, staune im Norden über ein Ehepaar, das alte Apfelsorten rettet; im Süden, wie ein Rentner über Deutschland wettert. Nach Etappen im Westen glaube ich nicht länger, dass alle Schüler*innen jüngste deutsche Geschichte ignorieren; nach Etappen im Osten, dass nach der Einheit alles schief lief. Erlebnisse und Gespräche meiner 2451 Kilometer langen Fahrt durch alle Bundesländer habe ich aufgeschrieben in „Zwei Räder, ein Land“. Das Buch erscheint Kapitel für Kapitel in meinem Magazin. Bereits erschienen: Kapitel 1 Milch und Miseren in Holstein.

16 Länder per Rad, Kapitel 2

Blüten der Ostalgie in Mecklenburg

Zweiter Fahrtag: ›Heimat bewahren‹ begrüßt mich ein AfD-Plakat am Rande Boizenburgs. DDR-Heimat wird von der AfD wohl nicht gemeint sein. Dabei bietet Boizenburg den sogenannten Ostalgikern zwei anschauliche Objekte. Das eine ist essbar und schmeckt lecker. Im anderen Objekt kann man essen, aber es wirkt völlig geschmacklos. Aber der Reihe nach.

Von Leisterförde nach Boizenburg sind es zwanzig flache Kilometer, gesäumt von Wald und bespielt vom Bach namens Boize. Im Gegensatz zu Berlin bietet das Städtchen Frühstücksgarantie: ›Handwerksbäckerei‹ weist im Zentrum ein Schild in die Königstraße. Fünf Minuten später stehe ich, noch ohne Frühstück, bei Thomas Stenschke in der Backstube.

Das Vehikel des RadelndenReporters parkt neben einem Hinweisschild, auf dem zu lesen ist „DDR-Brötchen, Kleine Handwerksbäckerei, 25 Meter“.
Mecklenburg-Vorpommern, Boizenburg: Im Laden von Bäcker Stenschke heißen die Brötchen ganz offiziell Ossis.

Stenschke holt aus einem großen Plastikeimer sein liebstes Kind: den Teig aus dem er ›Ossis‹ macht. »Drinnen steckt eine ganz besondere Zutat« schmunzelt der 53-Jährige »und das ist Zeit«. Stenschke setzt abends einen Vorteig an, den er frühmorgens ein zweites Mal durchknetet. Täglich bäckt er an die hundert jener Doppelbrötchen, die er an der Straße als ›DDR-Brötchen‹ bewirbt, die im Laden aber einfach ›Ossis‹ heißen und deren Korb auch so beschriftet ist. Wie reagieren die Menschen in Boizenburg auf Stenschkes ›Ossis‹? »Beschwert oder gemeckert hat niemand« sagt der Bäcker. »Das hat sicher auch damit zu tun, dass ich von hier stamme. Meine Oma übernahm den Laden vor dem Krieg.« Zu DDR-Zeiten übernahm Stenschkes Vater. Der buk nach der Wende weiter DDR-Brötchen, aber jedes Jahr nur einmal: zum einstigen ›Tag der Republik‹. Politischen Hintergrund dafür gab es keinen, sagt Stenschke. »Das war ein reiner Werbegag.« Seit Oktober 2015 bietet der Bäcker seine ›Ossis‹ nun täglich in der Königstraße feil.

Als ich mich nach ›Ossi‹-Lehrgang und -Frühstück verabschiede, lasse ich mir für 60 Cent eines der aromatisch duftenden Doppelbrötchen einpacken. Wenn es nicht bis zur Nordsee dümpelte, wurde das Brötchen vielleicht von einem Schwan oder einem Fisch gefuttert, und das kam so:

Ich fuhr raus aus Mecklenburg – Brücke über die Elbe – holprige Holzbohlen am Geländer – Brötchentüte nicht sicher verzurrt auf dem Packsack – ›Ossi‹ hopst in die Elbe.

Noch ist es nicht so weit mit mir, noch habe ich mein Brötchen und bin in Boizenburg. Am Ortsausgang gab es zu DDR-Zeiten eine Kontrollstelle, sieben Kilometer vor dem finalen Grenzzaun. Heute heißt der Flachbau ›Checkpoint Harry‹. Ein Harry S. kaufte ihn nach der Wende und baute ihn als Imbiss, Gaststätte, Partyservice aus. Neben dem Eingang prangt mannshoch ein Fliesenmosaik an der Wand. Es zeigt einen lächelnden DDR-Grenzer, winkend, mit glänzenden Schaftstiefeln, in der Rechten hält er ein halbvolles Gläschen mit rotem Sekt.

Ein lächelnder Grenzoffizier grüßt den Betrachter mit einem Gals roten Sekts in der Linken.
Grenzwertig in Boizenburg: Das Fliesenmosaik ziert den heute als Gaststätte dienenden ehemaligen Kontrollpunkt sieben Kilometer vor der Grenze zu Holstein.
Das Foto zeigt das Buchcover, Titel: "Zwei Räder, ein Land: Mit dem Fahrrad durch alle Bundesländer – Deutschland in 2451 Kilometern.
Jenseits der Metropolen nimmt Martin C Roos die Republik unter die Reifen seines Rennrads. Täglich fährt er rund hundert Kilometer, um in 24 Etappen alle 16 Bundesländer zu durchmessen. Dutzende Treffen und Gespräche füllen des Reporters kleine Reise-Agenda, mit der er große Fragen in Angriff nimmt: In welche Richtung driftet das Land? Wie gehen die Menschen mit Bedrohungen und Chancen um, wie richten sie ihr Dasein aus? Roos misst die leisen Pulstöne der Gegenwart gleichermaßen wie den Nachhall der Vergangenheit, auch seiner ganz persönlichen. Er staunt im Norden über ein Ehepaar, das alte Apfelsorten rettet, und im Süden, wie ein Rentner über Deutschland wettert. Im Ruhrgebiet erfährt der Reporter, wie politisch die Jugend sein kann. In Berlin erzählen ihm Stasi-Opfer von Heimatliebe und gewaltlosem Protest. Relikten der einstigen Teilung spürt Roos ebenso nach wie dem Limit seiner Kräfte. Tiefgehende Interviews, spontane Dialoge und Radabenteuer entlang der 2451 Kilometer langen Reise verdichtet er zu einer tiefsinnigen und einzigartigen Collage. Sie zeigt die erstaunlichen, bisweilen bizarren Seiten eines Deutschlands, das zugleich erfrischend und vertraut wirkt.
Martin C Roos mit seinem Interviewpartner, dem Elbfischer Panz.
Elbfischer Eckhard Panz, Hohnstorf an der Elbe (Niedersachsen).
Porträtaufnahme von Winkler.
„Die Art von politischer Debatte im Geiste der Religionskriege ist ein Stück der deutschen Pathologie“, sagt Heinrich August Winkler (Foto: CreativeCommons Lizenz ShareAlike 2.0 Generic (CC BY-SA 2.0).

Milch und Fleisch nur in Rohform

Anders als Tilly und Wallenstein, die ohne großen Widerstand vorankamen, kämpfe ich hier und heute vergeblich gegen Böen, die mich manchmal fast zum Stillstand bringen. Ich verlasse den Elbdeich, verlege meine Route auf kleine Fahrwege – fast zu klein hinter Artlenburg, wo ich mich über einen Ackerweg quäle. Danach offeriert die Elbmarsch herrlichstes Radrevier: Baumgruppen, unzählige Kanalbrücken, die Route ist schick und kurvig.

Kilometer 49, ich bin hungrig, erreiche die ›Milch Tankstelle‹. Es gibt eine Abfülleinrichtung sowie einen Automaten, bestückt mit Feststoffen. Aber Fehlanzeige: Es wird dringend geraten, die Rohmilch vorher abzukochen, und über ungekochte Eier oder rohes Fleisch würde ich mich, wie ich jetzt weiß, erst auf Etappe 14 meiner Deutschlandfahrt hermachen, als ich in Franken vor Hunger fast vom Rad kippe.

Hoffnung schöpfe ich einen Kilometer weiter, in Hunden, ein Hofcafé naht. Puuuhh, öffnet erst 14 Uhr, da wünschte ich mir die Berliner Stutenmilch, die mir gestern stundenweise schmelzenden Nachschub lieferte. Heute ist Tag zwei und schon muss ich an meine Notreserven, lehne das Rad ans Holzgerüst mit der Café-Werbung. Tief grabe ich die Packtasche um, auf der Suche nach den geheiligten Kohlenhydraten. Es ist zum Verzweifeln, wo sind die denn? – So, alles rausgezerrt aus der Tasche!

Du solltest mehr Sorgfalt walten lassen. Warum hast du dich denn überhaupt auf so wenig Packplatz versteift? Ständig fehlt es dir an Proviant.

Jetzt weiß ich das auch. Konnte ich ahnen, dass es so schwierig sein würde, auf dem Land an Futter zu kommen? Langsam verlier ich die Geduld – autsch, mein Daumen! Von Blut rötet sich der Nagel. Dass der Packsack innen dieses scharfe Ende aus Plastik hat… . Aber muss mich das weiter aus der Ruhe bringen? – »Alles gut?« Eine Radfahrerin hat neben mir gehalten. Ob ich eine Panne hätte. Alles okay, sage ich, meinen Krempel wieder einpackend. Ich rede mir die Stimmung wieder schön und erzähle der Frau, wie gut mir die offene Naturlandschaft gefällt.

„Wo Feuchtgebiete entwässert werden, bildet sich aus dem Boden Treibhausgas“

Von wegen Naturlandschaft, da sei ich aber auf dem Holzweg. Ich durchfahre, erklärt mir die Radfahrerin, seit Kilometern das Gebiet einer menschengemachten CO2-Katastrophe. »Das kommt daher, weil aus Natur- Kulturlandschaft wurde. Die moderne Industrie und Verbrennungsmotoren haben damit erst einmal nichts zu tun.« Vor Generationen wurden die Sümpfe der Elbmarsch trockengelegt, um Acker- und Weideland zu gewinnen. Mit dem abgeflossenen Wasser entschwand sozusagen die Schutzflüssigkeit, sagt die Frau, Geochemikerin am Helmholtz-Zentrum Geesthacht. Wasser schütze davor, dass Sauerstoff auf den Kohlenstoff der Pflanzen einwirkt. »Pflanzenreste plus Sauerstoff ergeben Kohlendioxid, lautet die Faustformel. Überall auf der Welt, wo Feuchtgebiete entwässert werden, bildet sich so aus dem Boden massenhaft Treibhausgas.«

Man begreife erst jetzt das Ausmaß, mit dem das so entstandene CO2 den Klimawandel befeuert hat. Mit dem Wind saust die Geochemikerin gen Osten, gegen den Wind kämpfe ich mich westlich durch das letzte Stück der ›Samtgemeinde Marschland‹. In Zeitlupe nur rückt der Elbdeich näher. Die Orte nebendran verhöhnen meinen Endspurt zur Fähre: Laßrönne! Haue! In Hoopte erwische ich die Fähre Sekunden, bevor sie ablegt, gelange binnen Minuten über die Elbe, ins vierte Bundesland.

Selbstporträt auf der Fähre, im Hintergrund Mitreisende, Elbwasser und die niedersächsiche Flussseite.
Abfahrt zum Apfelerbe: Mit der Elbfähre gelange ich in den südlichsten Zipfel Hamburgs.