Jahresrückblick Natur und Umwelt 2022: Hoffnungszeichen ganz zum Schluss

Was in Wissenschaft, Umweltpolitik und Naturschutz wichtig war, welche Vogelbeobachtungen im Gedächtnis bleiben, wieviel Hoffnung der UN-Gipfel zur Biodiversität macht – und welche Schlagzeilen 2023 bringen soll

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Eine Gruppe Kraniche fliegt vor dem Hintergrund der aufgehenden Sonne am Morgen von ihrem Rastplatz  in einem Flachwassersee ab.

2022 war auch für Natur und Umwelt ein Jahr großer Veränderungen. Fünf „Flugbegleiter“ – Johanna Romberg, Thomas Krumenacker, Joachim Budde, Markus Hofmann und Christian Schwägerl – blicken auf persönliche Erlebnisse, wissenschaftliche Erkenntnisse und umweltpolitische Wegmarken zurück. Und auch ein bisschen nach vorne.

Was war deine schönste Vogelbeobachtung in diesem Jahr?

Christian: Ein Zwergtaucher während einer Radtour – schwups, war er wieder weg.

Joachim: Erst der Steinadler, fast schon am Gipfel, getoppt in einer schmalen Klamm vom Mauerläuferpaar mit ihren beinahe flüggen Jungtieren.

Johanna: Grauschnäpper und Neuntöter an einem Feldweg, an dem ich seit 20 Jahren weder den einen noch den anderen gesehen hatte.

Markus: Die Basstölpel, die im sommerlichen Abendlicht die Fähre von Cherbourg nach Dublin begleiteten.

Thomas: Der erste Anblick der von mir betreuten Schreiadler nach ihrer Rückkehr von einer langen, gefahrvollen Reise.

Basstölpel spreizen ihre Flügel auf einem Felsen
Elegante Schönheiten: Basstölpel kommen bislang gut mit den klimatischen Veränderungen zurecht.

Was war für dich die bemerkenswerteste Nachricht aus der Wissenschaft?

Christian: Dass es einer Studie des IUCN und des Leibniz-Instituts für Zoo- und Wildtierforschung zufolge weltweit nur rund eine halbe Million festangestellte Mitarbeiter von Schutzgebieten gibt, aber drei Millionen nötig wären.

Joachim: Ich habe mich sehr über den Nobelpreis für Svante Pääbo gefreut. Akribische Spitzenleistung eines sehr interessanten Menschen.

Johanna: Dass die Wiedervernässung selbst eines Teils der bislang trockengelegten Feuchtgebiete weltweit bis zu 400 Milliarden CO₂ speichern könnte – und damit mehr als alle Wiederbewaldungsprojekte zusammen. Die, wie zahlreiche Studien belegen, größtenteils ohnehin nur nutzloses Greenwashing sind.

Markus: Dass das Gesamtgewicht des Nutzgeflügels in der Schweiz 15-mal höher ist als das Gewicht aller Schweizer Brutvögel zusammen.

Thomas: Dass Vögel einer Studie aus Österreich zufolge auch in der ihnen sehr vertrauten Umgebung ihres Heimatrevieres nicht nur per Sicht, sondern auch mit ihrem Geruchssinn navigieren.

Drohnenfoto eines Moores
Wiedervernässte Moore speichern und reinigen Trinkwasser.

Worüber hast du dich 2022 gefreut?

Christian: Wie groß in der „Juradistl“-Region rund um Neumarkt in der Oberpfalz, wo ich den Sommer verbracht habe, Biodiversität geschrieben wird – überall gut erklärte Projekte, tolle Produkte in Restaurants und sehr viel Miteinander von Landwirtschaft und Naturschutz.

Joachim: Über die jungen Menschen im Förtax-Projekt, die so viel über Arten wissen.

Johanna: Darüber, dass ich in meinem Zählgebiet für das Monitoring häufiger Brutvögel – einem naturnahen Mischwald – seit vier Jahren plusminus die gleichen 25 Arten antreffe, und das in gleichbleibenden oder sogar zunehmenden Zahlen.

Markus: Die Schweiz wird zum Land der Bartgeier: von insgesamt 49 ausgeflogenen jungen Bartgeiern im ganzen Alpenraum stammen in diesem Jahr 21 aus der Schweiz.

Thomas: Dass die Schreiadler, die ich betreue, trotz schlechter Bedingungen – Trockenheit, Nahrungsknappheit – einen prächtigen und bildhübschen Jungvogel hochgebracht haben.

Ein Bartgeier auf Augenhöhe im Flug
Die vier europäischen Geierarten: Bartgeier kehren dank umfangreicher WIedereinbürgerungsprojekte wieder in die Alpen zurück.
Karstige Felsen mit Trockenrasen entlang eines Radwegs.
Radweg entlang der Schwarzen Laber im Oberpfälzer Jura.

Was ist 2022 richtig schlecht gelaufen?

Christian: Die inszenierte und völlig übertriebene Empörung über die „Letzte Generation“ und deren zivilen Ungehorsam – ausgerechnet von jenen Politikern, die bisher im Klimaschutz am meisten versagt haben.

Joachim: Corona, Ukraine – dass sich immer neue Krisen vor die wirklich lebensbedrohenden Gefahren schieben.

Markus: Der Angriffskrieg Russlands, der nicht nur Zehntausende von Menschenleben zerstört, sondern auch schwere Umweltschäden in der Ukraine verursacht. Die Menschen hätten so viel anderes zu tun, als sich gegenseitig umzubringen.

Thomas: Das Osterpaket zum Ausbau der Windenergie, das den Artenschutz in beispielloser Weise schwächt.

Johanna: Das, und die Aushebelung der Umweltverträglichkeitsprüfung beim Bau der überdimensionierten Flüssiggasterminals am Wattenmeer-Nationalpark; beides verschärft durch die Verlogenheit, mit der sich der grüne Wirtschaftsminister auch noch als „größter Freund der Schweinswale“ präsentierte.

Freudig klatschende Menschen vor einer Wand mit der Aufschrift „Kunming-Montreal“.
Das Erreichen weltweiter Abkommen im Kampf gegen Menschheitsherausforderungen dürfte künftig noch schwieriger werden. Der chinesische Umweltminister Huang Runqiu (2.v.l.) und die Chefin der UN-Biodiversitätskonferenz Elizabeth Maruma Mrema feiern mit Mitarbeitern die Verabschiedung des Weltnaturabkommens.

Das Jahr ist mit einem neuen Weltnaturabkommen zu Ende gegangen. Wieviel Hoffnung macht dir das auf einer Skala von 0 bis 10?

Christian: 5. Es ist super, dass das Abkommen mit lauter guten und wichtigen Zielen zustande gekommen ist. Aber es fehlen eingebaute Garantien, dass es auch umgesetzt wird.

Joachim: 3, höchstens. 30 Jahre sind seit der Konvention von Rio vergangen, und da ging es schon um genau dasselbe. Papier ist geduldig.

Johanna: Ich erwarte lieber erstmal nichts, also 0, dann kann ich mich umso mehr freuen, wenn einige Beschlüsse am Ende doch umgesetzt werden.

Markus: 4. Leider zeigt sich immer wieder, dass internationale Umweltabkommen, die über keine Mittel der Durchsetzung verfügen, zu wenig bewirken.

Thomas: 8. Ich war für unser RiffReporter-Projekt „Countdown Natur" bei den Verhandlungen vor Ort und setze sehr große Hoffnung in das Globale Biodiversitätsabkommen. Es ist das weitreichendste je verabschiedete Naturabkommen. Statt zu klagen, dass nicht alles Gute durchgesetzt wurde, müssen wir alle Druck machen, dass es umgesetzt wird, dazu liegen aber anders als beim letzten Mal genügend Zutaten im Beschluss-Paket, einschließlich eines Monitoring-Abkommens.

Foto eines Kameraauschnitts mit technischen Informationen der Kamera am Rand, leicht unscharf zu sehen ein huhngroßer Vogel mit bläulichem Schwanz
Zum ersten Mal seit 140 Jahren wieder von Ornithologen gesichtet: die Fergusson-Fasantaube, auch Schwarznackige Fasantaube genannt.

Abgesehen davon, was war 2022 die beste Nachricht für Umwelt- und Naturschutz?

Christian: Dass Jair Bolsonaro in Brasilien die Wahl verloren hat und mit Lula da Silva die Chancen für besseren Schutz des Amazonas und Respekt für die Rechte seiner indigenen Bewohner steigen.

Joachim:dass Naturschutz wirkt.

Markus: Dass nach 140 Jahren die Schwarznacken-Fasanentaube auf Fergusson Island vor Papua-Neuguinea wiederentdeckt wurde: wenn man sucht, dann findet man.

Thomas: Dass bei der Artenschutzkonferenz Cites Schutz für fast 500 Tierarten beschlossen wurde und bei der UN-Umweltversammlung der Weg für Verhandlungen über ein globales Abkommen gegen Plastik freigemacht wurde: Unea, Cites, COP15: Es war ein Herbst der Entscheidungen pro Natur.

Johanna: Neben den bereits genannten: Dass in Europa immer mehr nutzlose Staudämme abgebaut werden, damit Flüsse freier fließen, Fische wieder wandern und zerstörte Ökosysteme wieder aufleben können.

Was gehörte zu den schlechtesten Nachrichten für Umwelt- und Naturschutz?

Christian: Dass die Demokratische Republik Kongo ihren arten- und torfreichen Regenwald zur Ölförderung freigibt, weil das noch immer die wirtschaftlich lukrativste Nutzung ist.

Joachim: Dass noch immer umweltschädliches Verhalten massiv subventioniert wird.

Johanna: Keine einzelne, sondern die deprimierende Regelmäßigkeit, mit der Natur- und Artenschutz ausgehebelt werden, wenn sie irgendjemandes Interessen im Wege sind – seien es die der Schifffahrt, Agrarlobby, Fischerei, Jagdlobby, Forstwirtschaft oder der Wind- und Solarbranche.

Markus: Dass die CO2-Emissionen auch nach der Pandemie wieder unablässig steigen und bereits über acht Milliarden Menschen die Welt bevölkern.

Thomas: Dass national und auf EU-Ebene massive Attacken auf fundamentale Errungenschaften im Naturschutzrecht laufen und dass ausgerechnet ein Teil der Grünen das vorantreibt.

Kohlekraftwerk und Tagebau aus der Luft
Die Kohlendioxid-Emissionen – etwa zur Energiegewinnung – steigen weiter, die Erderhitzung gefährdet Klima wie Biosphäre.

Welche deiner eigenen Recherchen aus dem Jahr 2022 bleibt dir am meisten in Erinnerung?

Christian: Die vielen Interviews, die ich für meinen Artikel zu Pestiziden und ihren ökologischen Folgen geführt habe.

Joachim: Auch fünf Jahre nach der Krefelder Studie konstatieren Wissenschaftler*innen: „Wir wissen, was zu tun ist, aber wir unternehmen nichts.“

Johanna: Mein Interview mit Michael Succow, dem großen Naturschützer und Pionier der Moorforschung. Sein ungebrochener Optimismus und seine tiefe Überzeugung, dass Liebe zur Natur und Liebe zu den Menschen untrennbar sind.

Markus: Meine Botanik-Exkursion mitten in der Stadt Zürich mit dem Ökologen Jonas Frei: Auf wenigen Metern zeigte er mir die unglaubliche Vielfalt der Pflanzen vor der eigenen Haustüre.

Thomas: Meine Berichterstattung zum Weltnaturgipfel in Montreal.

Sternförmige Blüten an aufrechten Stängeln, dahinter das Laub eines Buschs,
Leuchtend orangerot, die zahlreichen Blüten so groß wie Untertassen: So wie am Rand eines Feldwegs in der Elbtalaue blühten Feuerlilien früher in ganz Norddeutschland, den Mittelgebirgen und den Alpen

Welches RiffReporter-Projekt aus dem Jahr 2022 empfiehlst du zur Lektüre in der ruhigen Zeit?

Christian: Die großartige Arbeit der Afrika- und Südamerika-Reporterinnen auch und besonders zu Umweltthemen.

Joachim: Markus Hofmanns Portrait des Zürcher Stadtbotanikers, weil es wieder einmal zeigt, welch überraschende Rolle Städte für die Artenvielfalt spielen.

Johanna: Christian Schwägerls Interview mit dem Biologen Wolfgang Büchs ein Jahr nach der Flutkatastrophe an der Ahr. Weil es auf deprimierend deutliche Weise darlegt, wie der Fluss und die Natur an seinen Ufern durch den Wiederaufbau noch gründlicher zerstört wurden – und werden – als durch die Flutkatastrophe selbst.

Markus: Die Geschichte über die Feuerlilie von Johanna Romberg, weil sie zeigt, dass sich hinter einer Pflanze eine ganze Welt verbirgt.

Thomas: Die Pestizid-Serie von Rainer Kurlemann, Katja Trippel und Christian Schwägerl, weil sie einen umfassenden Blick aus unterschiedlicher Perspektive auf den zweitgrößten Treiber der Artenausrottung wirft.

Zwei Schmetterlinge auf einer Dolde. Ihre Flügel sind dunkelbraun mit einer hellen Linie und schmalen orangenen Mustern.
Das Insekt des Jahres 2023 wechselt im Lauf des Jahres sein Aussehen: Die Landkärtchen, die im Sommer schlüpfen, sehen ganz anders aus, als ihre Eltern. Saison-Dimorphismus nennen Wissenschaftlerïnnen dieses Phänomen.

Mit welchem Thema willst du dich 2023 stärker beschäftigen als bisher?

Christian: Mit konkreten Lösungen im Naturschutz für die nötige Flurbereicherung.

Joachim: Bei den Insekten gibt es noch immer genug zu entdecken.

Johanna: Mich reizt grundsätzlich alles, was mit -fff- beginnt; außer Vögeln sind das Falter, Fließgewässer und (p)Flanzen.

Markus: Mit den (noch weitgehend utopischen) Rechten für die Natur.

Thomas: Nicht stärker, aber weiter: Wie werden die Beschlüsse des Weltnaturgipfels von Montreal umgesetzt, und wie die EU-Beschlüsse zu Renaturierung und dem Green Deal?

Ein Schreiadler auf einem Holzstapel im Wald.
Über den Schreiadler hat Thomas Krumenacker das Buch „Könige der Lüfte“ geschrieben.

Welchem Vogel möchtest du 2023 gerne begegnen?

Christian: Ich sehne mich nach den Bergen – und einem Mauerläufer.

Joachim: Einem Basstölpel unter Segeln.

Johanna: Auch dem Mauerläufer. Und ich wünsche mir eine Wiederbegegnung mit dem Trauerschnäpper, der 2020 wochenlang in unserem Garten gesungen hat und danach nie wieder.

Markus: Auf einer geplanten Italienreise hoffe ich auf die Rotflügel-Brachschwalbe.

Thomas: Vielen, vielen Schreiadlern.

Ein Mauerläufer fliegt einer Felswand entlang.
Im Flug erinnert der Mauerläufer wegen seiner runden Flügel an den Wiedehopf – wenn da nicht dieses Rubinrot wäre.

Welche Nachricht würdest du gerne in einem Jahresrückblick 2023 als Highlight nennen?

Christian: „Putin in Den Haag angekommen.“

Joachim: „Tempolimit auf deutschen Autobahnen.“

Johanna: Ich schwanke zwischen „Laubbläser mit sofortiger Wirkung verboten“ und „Artenkenntnis wird verpflichtender Bestandteil des Biologieunterrichts bis einschließlich Klasse 13“.

Markus: „Die Schweiz schützt nun wirklich 30 Prozent ihrer Fläche.“ (Bisher sind es, je nachdem wie man rechnet, lediglich 6,6 bis 13,4 Prozent)

Thomas: „Deutschland erklärt überraschend je zehn Prozent der Landes- und Meeresfläche zu Wildnisgebieten ohne jede Nutzung.“

Drohnenaufnahme eines Waldmoores inmitten eines Buchenwaldes im Herbst
Wiedervernässte Waldmoore, wie hier in Brandenburg, sind Hotspots der Artenvielfalt.

Wir Flugbegleiter wünschen allen Leserinnen und Lesern ein gutes Neues Jahr. Auch 2023 wollen wir Sie jeden Mittwoch über Vogelwelt, Naturschutz und Umweltpolitik informieren.

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