Wo bleibt die neue Rachel Carson?
Jetzt wissen alle, wie bedroht viele Vogelarten sind. Aber was tun? Ein Kommentar.
„Stummer Frühling – Verlust von Vogelarten“ hieß die „Kleine Anfrage“ an die Bundesregierung. Die Grünen wollten wissen, wie es den Vogelarten in Deutschland geht und was man tun kann, um die Bestände zu schützen. Das Frage-und-Antwort-Spiel zieht sich über elf Seiten hin und offenbart eine dramatische Situation: „Besonders prekär ist die Situation der typischen Grünlandbewohner“, schreibt die Bundesregierung in ihrer Antwort und zitiert erschreckende Beispiele: Uferschnepfe Bestandsrückgang um 61 Prozent seit 1990, Braunkehlchen minus 63 Prozent, Kiebitz minus 80 Prozent, Rebhuhn minus 84 Prozent.
Die Situation erinnert an die 1960er Jahre. Damals erschien Rachel Carsons Buch „Silent Spring". „Der Stumme Frühling“ wurde in 20 Sprachen übersetzt und millionenfach verkauft. Es gibt nur wenige Bücher, die tatsächlich die Welt verändert haben, Carsons Werk gehört dazu: Es ist der Auftakt für die Umweltbewegung, wie wir sie heute kennen. Eine Erfolgsgeschichte, aus der wir bis heute lernen können. Rachel Carson beginnt ihr Buch wie ein Märchen:
„Es war einmal eine Stadt im Herzen Amerikas, in der alle Geschöpfe in Harmonie mit ihrer Umwelt zu leben schienen. (…) Damals kläfften Füchse im Hügelland und lautlos, halb verhüllt von den Nebeln der Herbstmorgen, zog Rotwild über die Äcker. (…) Die Gegend war geradezu berühmt wegen ihrer an Zahl und Arten so reichen Vogelwelt. Dann tauchte überall in der Gegend eine seltsame schleichende Seuche auf. Und unter ihrem Pesthauch begann sich alles zu verwandeln. Irgendein böser Zauberbann war über die Siedlung verhängt worden: Rätselhafte Krankheiten rafften die Küken in Scharen dahin; Rinder und Schafe wurden siech und verendeten. Über allem lag der Schatten des Todes. (…) Es herrschte eine ungewöhnliche Stille. Wohin waren die Vögel verschwunden?“
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Noch ist der Frühling nicht stumm
Auch heute sind die Fakten klar: Niemand bestreitet den dramatischen Rückgang von Vögeln und Insekten. Der Frühling ist nicht stumm, das war er übrigens auch damals nicht. Gerade im Moment ertönt wieder jeden Morgen ein fantastisches Vogelkonzert. Doch zumeist hören wir wenige häufige Arten. Viele Stimmen sind verstummt oder extrem leise geworden. Ähnlich wie damals ist auch der Schuldige schnell ausgemacht: die industrielle Landwirtschaft. Und doch ist die Situation heute komplexer als damals: Es gibt nicht ein Pestizid, das man verbieten könnt und schon wäre die Welt wieder halbwegs in Ordnung. Die Konzentration auf Glyphosat zum Beispiel ist ein Nebenkriegsschauplatz. Denn: Würde Glyposat verboten, gingen die Landwirte keineswegs von heute auf morgen zu einer ökologischen und nachhaltigen Landwirtschaft über. Sie würden Glyphosat ersetzen, wobei die zugelassenen chemischen Alternativen allesamt toxischer und gefährlicher sind als Glyphosat.Klarer fällt die Analyse bei den Neonicotinoiden aus. Die Insektengifte schädigen nachweislich Bienen und andere Nützlinge. Sie müssen verboten werden – besser heute als morgen. Frankreich immerhin hat im vergangenen Jahr beschlossen, Neonicotionide mit wenigen Ausnahmen ab 2018 zu verbieten. Die Bundesregierung dagegen drückt sich in der Antwort auf die Kleine Anfrage vor klaren Aussagen: Es soll zunächst mal ein Forschungsvorhaben her. Im Fall der Neonicotionoide allerdings ist die Situation klar: Ein zweijähriges Moratorium, das kürzlich ausgelaufen ist, hat gezeigt, dass es auch ohne geht. Doch auch ein Verbot der Neonicotinoide allein bringt Kiebitz und Kampfläufer, Rebhuhn und Braunkehlchen nicht zurück.
Was hilft den Wiesenbrütern wirklich?
Es braucht ein ganzes Bündel an Maßnahmen:
- eine Landwirtschaft, die statt auf Monokulturen auf Fruchtfolgen und Vielfalt auf dem Acker setzt
- ein Mosaik von Naturschutzgebieten und Nationalparks
- statt Massentierhaltung braucht es eine extensive Weidewirtschaft, die Grünland erhält
- es braucht Pflanzen, die nicht gegen Herbizide sondern gegen Krankheiten resistent sind
- und eine Europäische Agrarpolitik, die die richtigen Anreize setzt.
An einigen Stellen müssen wir dabei über unsere ideologischen Barrieren springen: Eine Technik – auch die Gentechnik – ist nicht per se gut oder schlecht. Es kommt darauf an, was man damit anstellt. Urs Niggli, Forschungsdirektor des Instituts für ökologischen Landbau, hat sich vor einigen Monaten vorgewagt und einen Tabubruch begangen: Vor allem die neuen Techniken der Genomeditierung böten durchaus Chancen für eine nachhaltigere Landwirtschaft – so der Professor für Ökolandbau. Er wollte Bewegung in eine festgefahrene Debatte bringen, und vor allem wollte er einen Beitrag dazu leisten, die Probleme auf dem Acker zu lösen. Für diesen differenzierten Blick wurde er heftig kritisiert – doch angesichts des dramatischen Rückgangs der Artenvielfalt auf dem Acker müssen wir jeden Hebel einsetzen, den wir zur Verfügung haben. Denn die Landwirtschaft soll nicht nur nachhaltig sein und die Artenvielfalt erhalten – sie muss zugleich in der Lage sein, die Landwirte zu ernähren. Und sie muss genug produzieren, um die Ernährung zu sichern – ohne dass die Preise dabei allzu sehr steigen. Die Verantwortung dafür können wir nicht auf die Bauern allein abwälzen – es ist eine politische, eine gesellschaftliche Aufgabe.
Was braucht es noch? Eine neue Rachel Carson! Umweltschützer, die Herzen und Köpfe der Menschen erreichen, eine Umweltbewegung, die die Politik aufrüttelt – denn genau das ist noch nicht geschehen. Die Antwort auf die Kleine Anfrage zeigt überdeutlich: So schonungslos die Bundesregierung die Fakten darstellt, so vage wird sie, sobald es um Maßnahmen geht: Da werden Forschungsvorhaben angekündigt, Fördergrundsätze konzipiert, Daten ausgewertet. So läuft Politik, wenn alles seinen geregelten Gang geht. Wenn aber die Hütte brennt – und ein Bestandrückgang von 600 Millionen Vögeln in Europa zwischen 1980 und 2010 rechtfertigt diesen drastischen Ausdruck –, dann sind schnelle Aktionen gefordert. Nicht business as usual. Es geht nicht um kopflose Symbolpolitik. Es geht darum, auf der Basis der vorhandenen Daten und Fakten zu handeln. Heute, jetzt.