1,5 Grad-Grenze ist „derzeit nicht plausibel“

Der gesellschaftliche Druck reicht noch nicht aus, CO2-Neutralität bis 2050 zu erreichen

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Ein Bild der Uferpromenade in Köln, fotografiert vom rechtsrheinischen Stadtteil Deutz aus. Im Hintergrund ist der Dom zu sehen. Das Foto hat einen leichten Grünstich. Am Himmel sind grafische Elemente montiert, die wie Pfeile aussehen. Sie symbolisieren soziale Faktoren, die für eine Transformation in Zeiten der Klimakrise nötig sind. Alle haben einen roten Rand bis auf der Pfeil der für Divestment steht: Eine Beschluss dazu hat die Stadt bereits getroffen.

Will Köln eine wahrhaft grüne Stadt werden, müssen die gesellschaftlichen Faktoren stimmen. Zurzeit gibt es dort schon einen Beschluss zum Divestment der städtischen Finanzen, aber andere Treiber sind, wie praktisch überall, noch nicht ausreichend stark.

Die 1,5-Grad-Grenze einzuhalten, ist zurzeit „nicht realistisch zu erwarten“, erklärt ein interdisziplinäres Hamburger Forschungsteam nach einer aufwendigen Analyse. Technik und Innovation sind nicht das Problem, sondern die Gesellschaft erzeugt nicht genug Druck und Schwung. Viele Treiber weisen in die richtige Richtung, zum Beispiel die Erfolge bei Klimaklagen. Doch ihr Momentum reicht noch nicht aus.

Ein gut 40-köpfiges, interdisziplinäres Hamburger Forschungsteam hat eine gute und eine schlechte Nachricht in Sachen Klima.

Die gute Nachricht: Die Klimabremse ist eingebaut

Szenarien für den Rest des 21. Jahrhunderts, die stark steigende und anhaltend sehr hohe Treibhausgas-Emissionen und darum einen Temperaturanstieg von fünf oder mehr Grad vorsehen, sind inzwischen praktisch vom Tisch. „Unplausibel“ nennt das Team vom Hamburger Exzellenzcluster CLICCS („Climate, Climatic Change, and Society“) eine solche Entwicklung. „Studien zeigen, dass ein sehr hoher CO2-Ausstoß enormen wirtschaftlichen Schaden verursacht“, sagt der Co-Sprecher der Gruppe, Jochem Marotzke vom Max-Planck-Institut für Meteorologie. Es käme vermutlich zu einer Art globaler Klima-Rezession und die Staaten könnten in ihrer lahmenden Wirtschaft gar nicht mehr so viele fossile Brennstoffe verfeuern wie das Szenario vorsieht.

Die Klimakrise begrenzt sich also selbst. Außerdem sind auch die Kohlereserven endlich, und saubere Energie wird immer günstiger. „Regierungen und Unternehmen sind daher gezwungen umzusteuern“, so Marotzke. Damit sind allerdings Entwicklungen mit ungenügendem Klimaschutz und drei Grad Erwärmung noch nicht ausgeschlossen.

Die schlechte Nachricht: Die Gesellschaft ist nicht bereit

Ein Szenario, indem die Menschheit die vom Pariser Abkommen vorgegebene 1,5-Grad-Grenze der Erwärmung einhält und sich bis 2050 nachhaltig aus der Abhängigkeit von Öl, Gas und Kohle befreit, ist unplausibel. „Das liegt weniger an den technisch-naturwissenschaftlichen Faktoren, die sind weitestgehend da. Es fehlen vor allem die Voraussetzungen und nötigen Entwicklungen in der Gesellschaft“, sagt Anita Engels, Soziologie-Professorin an der Hamburger Universität und ebenfalls Co-Sprecherin des Clusters. „Es ist nicht realistisch zu erwarten, dass die gesellschaftlichen Bedingungen die nötigen Veränderungen tragen.“

Es ist nicht realistisch zu erwarten, dass die gesellschaftlichen Bedingungen die nötigen Veränderungen tragen. – Anita Engels

Dieser Fokus auf die Gesellschaft ist das zentrale Novum des Hamburger Ansatzes. Das Team will seinen Hamburg Climate Futures Outlook in Zukunft jährlich aktualisieren, um mögliche Veränderung nachzuzeichnen. Es lenkt damit den Blick weg von der bisherigen Fixierung auf Technologie und Innovation wie Windturbine, Wärmedämmung, Elektroauto. Auch politische und wirtschaftliche Instrumente wie CO2-Preisund Emissionshandel, so wichtig sie sind, stehen nicht mehr im Mittelpunkt. Zentral sind stattdessen die gesellschaftlichen Voraussetzungen für eine umfassende Transformation. Sie entwickeln sich im sozialen Miteinander; dort müssen radikal neue Regeln, Verfahren und Geräte akzeptiert, mitgetragen oder sogar begrüßt und gewollt werden.

„Wir glauben, dass Faktoren in der Gesellschaft in den kommenden Jahrzehnten sowohl die wichtigsten Hindernisse wie die wichtigsten Treiber von Zukunft mit sehr geringen CO2-Emissionen sein werden“, lautet darum ein Kernsatz der 157 Seiten langen Studie. (Das steht übrigens im mission statement des journalistischen Projekts KlimaSocial auch nicht viel anders. Links zu Artikeln, die einige der sozialen Treiber behandeln, folgen unten.)

Eine Grafik: Links benennt ein Element die zehn sozialen Treiber (siehe Text). Sie haben die Form von Pfeilspitzen und fliegen dann, umgeben von kleinen Bläschen mit Plus- und Minuszeichen auf eine Zielscheibe zu.
Das Konzept der Cliccs-Analyse zeigt diese Grafik. Zehn soziale Treiber können der Gesellschaft helfen, ihre Ziele in der Bewältigung der Klimakrise zu erreichen. Sie sind wie die Spitzen von Pfeilen, werden auf ihrem Flug aber von fördernden oder hemmenden Kräften beeinflusst.

Plausibel: Im Spannungsfeld zwischen möglich und erwünscht

Wenn die Hamburger Forscher:innen die Voraussetzungen für die notwendige Entwicklung der globalen Wirtschaft und Gesellschaft in Richtung auf Klimaneutralität auf ihre „Plausibilität“ abklopfen, dann nehmen sie damit eine Mittelposition auf dem Spektrum vom möglich bis erwünscht ein.

Sie begnügen sich also nicht damit, wie etwa der Weltklimarat IPCC, nur zu prüfen, ob und wie die 1,5-Grad-Grenze überhaupt einzuhalten ist. Auch die deutsche Klimapolitik, deren Ziele die Regierung vor kurzem noch verschärft hat, kümmert sich ja nach Meinung vieler Beobachter noch wenig darum, wie ihre Vorgaben überhaupt zu erreichen sind. Das absehbare Scheitern am eigenen Ziel für 2020, das dann nur durch die Covid-Pandemie verhindert wurde, hatte die Große Koalition zuvor mehr oder weniger achselzuckend zur Kenntnis genommen.

Wir glauben, dass Faktoren in der Gesellschaft in den kommenden Jahrzehnten sowohl die wichtigsten Hindernisse wie die wichtigsten Treiber von Zukunft mit sehr geringen CO2-Emissionen sein werden. – Kernsatz der Cliccs-Studie

Auch die jüngst veröffentlichten Positionspapiere zur Klimaneutralität in Deutschland enthalten im Wesentlichen Optionen, Vorschläge oder Forderungen, ob nun von der Wissenschafts-Akademie Leopoldina und dem Nachhaltigkeitsrat oder von der Stiftung Klimaneutralität und Agora Energiewende oder das schärfere Ideenbündel, das die Organisation German Zero als Gesetzespaket vorstellt. Keines dieser Papiere bewertet die eigenen Vorschläge mit Begriffen wie „plausibel“ oder „realistisch“. Und „sozial“ kommt dort im Wesentlichen im Zusammenhang mit der „sozialen Ausgewogenheit“ von Klimaschutzmaßnahmen vor.

Der Gegenpol zu solchen Vorgaben ohne Kontrolle sind normative Forderungen, welche Welt die Bürger:innen verschiedener Staaten in Zukunft bewohnen sollen. Konzepte von Genügsamkeit oder einer Post-Wachstumsökonomie zum Beispiel. Manche Expert:innen rechnen auch von einem idealen Zustand 2050 aus zurück, was wann wie passieren müsste, damit es tatsächlich so kommt.

So wollten die Forscher:innen bei Cliccs aber nicht arbeiten, sagen sie. Zudem könnten die Sozialwissenschaften keine Angaben dazu machen, wie wahrscheinlich eine gesellschaftliche Entwicklung ist, auch wenn andere Wissengebiete das manchmal erwarten. „Zwischen evolutionär und disruptiv ist alles drin“, sagt Engels, „und Veränderungen wie den Mauerfall oder den gesellschaftlichen Umgang mit der Covid-Pandemie ließen sich auch nicht voraussehen.“

So kam es im Spannungsfeld zwischen möglich und erwünscht zum zentralen Kriterium der Plausibilität. „Nicht plausibel“ heißt für die Hamburger Arbeitsgruppe: es ist möglich, das Ziel Klimaneutralität bis 2050 zu erreichen, aber zurzeit nicht besonders realistisch – und was erwünscht ist, dazu äußern sich die Mitglieder nicht offiziell, sondern höchstens als besorgte Bürger:innen.

„Nicht plausibel“ ist allerdings ein vorläufiges Urteil: Das Cliccs-Team versteht seine Aussage als „Weckruf“, dass die zehn untersuchten gesellschaftlichen Faktoren wachsen und sich vernetzen müssen. „Es wird zum Beispiel darauf ankommen, wie stark Klimaproteste nach COVID-19 den Druck auf die Regierungen aufrechterhalten können“, sagt Engels. Auch Klimaklagen, wie vor kurzem das Urteil in den Niederlanden gegen Shell oder der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts, dass eine ehrgeizige Klimapolitik die Freiheitsrechte künftiger Generationen schützen muss, spielen eine wichtige und zunehmende Rolle.

Das bedeutet übrigens auch: Da das Bundesverfassungsgericht Klimaschutz inzwischen zum Grundrecht erklärt hat, ist ein Eintreten für dieses Grundrecht keine politische Einmischung, sondern im allgemeinen Interesse.

Die zehn gesellschaftlichen Treiber

Sechs der zehn Faktoren weisen immerhin in die richtige Richtung, sind aber noch nicht stark genug. Es sind

• der internationale Klimaschutz durch Abkommen, Gipfeltreffen, grüne Hilfszahlungen, nationale Ziele und das Bonner Klimasekretariat unter Ägide der Vereinten Nationen;

• die Klimaklagen: Hier steht weitreichenden Urteilen in Europa die Blockadehaltung gegenüber, die der US-amerikanische Supreme Court einnehmen dürfte. In dessen Richterschaft hat der frühere US-Präsident Donald Trump für eine breite konservative Mehrheit gesorgt;

• die Gesetzgebung und Regelsetzung durch Staaten oder den Green Deal der Europäischen Union: Hier ist positiv, dass die USA wieder ins Pariser Abkommen zurückgekehrt sind. Ein Wermutstropfen ist die kürzlich abgehaltene Volksabstimmung in der Schweiz, wo die Wähler:innen mehrheitlich gegen ein Klimagesetz gestimmt haben. Die Selbstverpflichtung der Eidgenossenschaft nach dem Pariser Abkommen sei so kaum zu erfüllen, analysiert die Beratungsagentur Climate Analytics ;

Initiativen über nationale Grenzen hinweg wie der Zusammenschluss C-40 globaler Metropolen, die Klimafonds der Weltbank, der europäische Emissionshandel, internationale Umweltgruppen und deren Koordinationsstellen oder die Organisation SBTI, die Firmen dazu bringt, sich Klimaziele im Einklang mit wissenschaftlich verankerten Daten zu geben;

das Schaffen von Wissen über Ursachen, Folgen und Lösungen der Klimakrise, zum Beispiel durch den Weltklimarat IPCC und Institute wie in Wuppertal oder Potsdam und durch Sammlungen von Ideen und Ansätzen wie bei den „Geschichten des Gelingens“ von futurzwei.org.

• die Divestment-Bewegung, die den Firmen im Fossile-Energien-Sektor die Finanzmittel entziehen will, was zum Beispiel Städte wie Köln oder London, der Versicherer Allianz oder der Großinvestor Blackrockangekündigt, aber nicht unbedingt auch schon konsequent umgesetzt haben.

Zwei Faktoren hingegen weisen in die falsche Richtung: die Reaktion der Wirtschaftsbetriebe sowie die Konsumgewohnheiten und -ansprüche der Bürger:innen, auch wenn in beiden Fällen jeweils kleine Minderheiten begonnen haben, anders zu handeln.

Und bei den letzten beiden Faktoren lasse sich zurzeit, so das Forschungsteam, die Wirkung anhand des Analyseschemas nicht klären: beim Journalismus sowie der Proteste einer neuen sozialen Bewegung. Letzteres liegt auch daran, dass die Covid-Pandemie zum Beispiel weitere Klimastreiks mit Massendemonstrationen wie im Herbst 2019 verhindert hat. In vielen Ländern ist der Protest auch zu schwach oder wird von autoritären Regimen unterdrückt.

Das Ziel: Dekarbonisierung bis 2050

Das Zielszenario, an dem sich das Cliccs-Team orientiert hat, heißt im Fachjargon „tiefe Dekarbonisierung“ bis 2050, weil die Energierohstoffe (chemisch: Kohlenwasserstoffe) ebenso wie ihr schädliches Verbrennungsprodukt Kohlendioxid aus dem Alltag verschwinden. Diese Vorgabe sieht eine ehrgeizige Reduktion vor, um die im Pariser Abkommen verankerte Grenze einzuhalten, CO2-neutral zu wirtschaften und die globale Erwärmung gegenüber der vorindustriellen Zeit auf 1,5 Grad zu begrenzen. Dazu müssten die Emissionen jedes Jahr um sieben Prozent sinken – das ist etwa so stark wie zuletzt während der Corona-Pandemie. Natürlich soll es ohne vergleichbares menschliches Leid und Beschränkungen passieren.

Schon anhand dieser Beschreibung können einem Zweifel kommen. Zudem sieht das Szenario vor, dass die Länder der Welt zusammenwachsen, Ungleichheit bekämpfen, Nachhaltigkeit fördern und den Konsum anpassen (Green Road oder SSP1); entsprechende Tendenzen in der realen Welt muss man mit der Lupe suchen. Außerdem möchte sich das Hamburger Team nicht auf sogenannte negative Emissionen verlassen: Das sind die in vielen IPCC-Szenarien intensiv genutzten Verfahren, CO2 mit Biomasse-Plantagen oder technischen Geräten aus der Atmosphäre zu entnehmen und unterirdisch zu speichern oder durch verstreutes Gesteinsmehl, Holzkohle oder anderen Methoden langfristig zu binden. Diese Option möchten die Forscher:innen höchstens als „Lückenfüller“ zulassen.

Um zu messen, ob die zehn sozialen Faktoren diesen Weg unterstützen, ja genug Schwung geben, nutzt das Cliccs-Team strenge sozialwissenschaftliche Methodik. Schließlich ist „Plausibilität“ ein schillernder Begriff, der im Alltag unterschiedlich verstanden und gern auch politisch überhöht wird. Dann erklärt man Ideen anderer Parteien für „nicht plausibel“, als gebe man ein objektives Urteil ab, wenn einem die Ideen einfach ideologisch nicht passen. Um einem solchen Vorwurf der Subjektivität und Beliebigkeit zu entgehen, orientieren sich die Wissenschaftler:innen von Cliccs an bewährten Theorien des sozialen Wandels und an der veröffentlichten, begutachteten Fachliteratur über alle zehn gesellschaftlichen Faktoren. Allein das Quellenverzeichnis macht 37 der 157 Seiten der Studie aus.

Es war ein Bauchgefühl. Jetzt haben wir eine solide wissenschaftliche Grundlage, und darüber bin ich extrem zufrieden. – Jochem Marotzke

Fünf Fragen stellen die zuständigen Arbeitsgruppen dann im Bewertungsprozess an die jeweils verfügbaren Informationen: Wirkt der Faktor als Treiber des nötigen Wandels oder untergräbt er die soziale Dynamik? Gibt es im Umfeld Bedingungen, die den Faktor stärken oder schwächen? Ist erkennbar, dass sich die Zielrichtung des Faktors in Zukunft ändert? Unter welchen Umständen, zum Beispiel durch Wechselwirkung mit anderen Treibern, könnte der Faktor mehr Schwung und einen besseren Kurs bekommen? Stellt der Faktor Ressourcen bereit, die Mitglieder der Gesellschaft erkennen und nutzen können und verändert sich dabei etwas? Unter diesen Punkt fallen etwa Gerichtsurteile, weil sie weit über das Rechtssystem hinaus wirken und Argumentationshilfe für Firmen, Journalist:innen oder die sozialen Bewegungen bieten.

Bei dieser Prüfung darf praktisch nirgendwo ein einschränkendes Wort wie „hingegen“ oder „eigentlich“ oder „allerdings“ auftauchen, damit ein gesellschaftlicher Faktor die beste Bewertung bekommt.

Diese Arbeitsweise spiegelt sich in den benutzten visuellen Metaphern: Da haben die Treiber die Form von Pfeilspitzen, die auf ihrem Weg zur Zielscheibe von kleinen Bläschen mit Plus- und Minuszeichen durch eine große diffuse Wolke gesellschaftlicher Einflüsse geleitet werden. Und die Farbgebung der Zielscheibe enthält die Wertung: Das satte Grün eines plausiblen Treibers erreicht zurzeit keiner der Faktoren.

Divestment ist noch zu schwach

„Die Entscheidungen, wie wir die einzelnen Treiber bewerten, sind nach langen Gesprächen und vielen Runden in den zuständigen interdisziplinären Teams gefallen“, sagt Anita Engels. Sie selbst hat sich zum Beispiel mit dem Divestment beschäftigt, wo demnächst noch ein spezieller Überblicksaufsatz folgen soll. Ursprünglich erschienen ihr die Initiativen, den Firmen aus dem Sektor der fossilen Energien die Finanzmittel zu entziehen, durchaus aussichtsreich. „Doch es gibt neben den staatlichen Ölkonzernen, die nicht an der Börse sind, noch viele Tausend Firmen, bei denen der Druck noch gar nicht angekommen ist.“

Immerhin: In Kombination mit den Treibern „Verhalten der Verbraucher:innen“ und „Reaktion der Firmen“ könnte Divestment einen sehr großen, vielleicht entscheidenden Beitrag zum Erreichen des Ziels Klimaneutralität leisten – im Prinzip zumindest, schätzt Engels. Doch der Einfluss von Kundschaft und Wirtschaft weist in die falsche Richtung und die Divestment-Bewegung ist noch nicht stark genug. In der Analyse heißt es dazu: „Falls Divestment eine global sichtbare kritische Masse erreicht, würde es das Ende von profitablem Engagement in fossilen Brennstoffen bedeuten.“ Es gebe jedoch „noch keine harten empirischen Belege, dass Divestment ein Ausmaß erreicht hat, das zu einem merklichen Richtungswandel führt“.

Das Konzept der sozialen Kipppunkte

Bei diesem Faktor gibt es einen direkten Berührungspunkt zu einer Arbeit, die Ende 2019 soziale Kipppunktehin zu einer angemessenen Reaktion auf die Klimakrise beschrieben hatte. Ilona M. Otto (damals Potsdam-Institut, heute Universität Graz) hatte mit einem großen Team, zu dem auch der Pik-Gründer Hans Joachim Schellnhuber gehörte, sechs Beispiele ausgemacht. „Das waren Faktoren, bei denen es Hinweise gibt, dass sie einen Bruch mit der bisherigen Entwicklung bewirken und ein Absinken der Emissionen um sieben Prozent pro Jahr antreiben können“, sagt Otto. Divestment gehörte dazu, zeigten Modell-Studien: Weniger als ein Zehntel der Investoren könnten hier den Finanzmarkt so über eine Schwelle treiben, dass die anderen Geldgeber folgen müssen, wenn sie nicht erleben wollen, dass ihre Anteile wertlos werden.

„Es gibt also solche Bereiche, wo disruptive Veränderungen möglich sind“, sagt Otto. „Um etwas zu erreichen, muss man aber gezielt eingreifen, darum steht unsere Studie nicht im Widerspruch zu der Hamburger Analyse. Ich würde sogar zustimmen: Im Augenblick und wenn nichts passiert, ist es nicht plausibel, dass wir ausreichende Raten beim Abbau der Emissionen erreichen.“

Szene vom Klimastreik 2019 in Köln. Aktivst:innen von Scientists for Future tragen ein Banner mit den Warming Stripes und dem Hinweis, dass die Jahre 2015 bis 2018 jeweils Temperaturrekorde erreicht haben.
Wissen über die Klimakrise wird schon viel erzeugt, als sozialer Treiber weist die Forschung in die richtige Richtung, ist aber nicht stark genug. Die Protestbewegung, bei der hier die Scientists for Future im Herbst 2019 in Köln beim Klimastreik mitmarschierten, ist in ihrer Wirkung hingegen noch nicht richtig einzuschätzen – auch weil die Demonstrationen während der Pandemie ausgesetzt waren.

Die Spaltung des Landes möglichst verringern

„Der Bericht spricht eine unbequeme Wahrheit aus“, sagt auch Silke Beck von der Technischen Universität München: „Es gibt eine große Kluft zwischen den Ambitionen und Zielen einerseits und den konkreten Maßnahmen und dem Fortschritt andererseits. Und es ist fast so, als würde die Politik immer ehrgeizigere Ziele verkünden, um davon abzulenken, dass sie mit der Umsetzung kaum vorankommt.“

Verstärkter Druck der gesellschaftlichen Treiber könnte dabei helfen, sagt die Politikwissenschaftlerin – aber nur, wenn er nicht dazu beiträgt, die Polarisierung des Landes noch weiter zu steigern. Eigentlich sei es auch in Deutschland nötig, die Spaltung zu verringern und mit der Klimapolitik keiner Gruppe das Gefühl zu geben, die Verlierer der nötigen Transformation zu sein. Und dafür müsse man eben auch Mehrheiten organisieren.

Die Hamburger Analyse könnte darum Silke Beck zufolge von einer genaueren Fokussierung auf sogenannte mobilisierbare Gruppen profitieren. Das spielt etwa bei dem Treiber „soziale Bewegungen“ eine Rolle. Es müsste dann nicht nur darum gehen, lautstarke Proteste auf der Straße zu organisieren, sondern zum Beispiel gezielt Gewerkschaften oder Kirchen einzubinden. Und beim Faktor „Reaktion der Wirtschaft“ zum Beispiel könnte man noch auf einzelne Verbände und Branchen blicken, die zum Beispiel in der Lage sind, in ihrem Beschaffungswesen oder der Produktionsweise wichtige Schritte zu machen und zum nachhaltigen Vorbild zu werden.

Die Aussage des Cliccs-Berichts ist also zwiespältig. Sie enthält den optimistischen Verweis auf Handlungsoptionen für die Zukunft und einen eher pessimistischen Blick auf die Gegenwart – und fragt dann, wie die Gesellschaft dabei helfen kann, vom einem zum anderen zu kommen.

Licht an und aufräumen

Das erinnert auch an eine Forderung, die Oliver Geden von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin vor einigen Jahren erhoben hat. Die Klimaforschung müsse aufhören, zu sagen: „Ja, die 1,5-Grad-Grenze einzuhalten, ist noch möglich, aber nur wenn A, B und C passieren.“ Politiker würden dann nämlich gern den Nebensatz weglassen und sich die verbleibende Aussage als Siegel der Wissenschaft für ihre Arbeit ans Revers heften. Darum, so Geden, müsse die Formulierung so lauten: „Nein, die 1,5-Grad-Grenze einzuhalten, ist nicht mehr plausibel, solange nicht A, B und C passieren.“ Auch der Berliner Forscher benutzte dort also das Wort „plausibel“.

Geden ist daher sehr zufrieden mit der Studie aus Hamburg. Die zehn gesellschaftlichen Faktoren seien ein wichtiger Beitrag zur Diskussion. „Das kann den Dialog über die Bewertung der Klimapolitik verändern.“ Zudem habe das Hamburger Team sozusagen eine Tür zu einem Raum aufgestoßen, in den sich andere kaum trauen, weil ihnen jedes Sprechen über ein mögliches Scheitern des 1,5-Grad-Ziels defätistisch erscheint. „Darum war der Raum schlecht ausgeleuchtet und unaufgeräumt“, sagt Geden, „und die Hamburger haben jetzt ein paar Lampen installiert und fangen an, mal Ordnung reinzubringen.“

In der Tat kann auf Ablehnung stoßen, wer den Eindruck erweckt, die in Paris erkämpfte Grenze aufzugeben. Anfang April hatte zum Beispiel die australische Wissenschaftsakademie in einem Bericht erklärt, jede weitere Verzögerung sei inzwischen so gefährlich wie Leugnen. Das war eine wichtige Aussage, aber sie ging fast unter. Denn eher nebenbei, als stünde da etwas Selbstverständliches, erklärte das Papier auch, es sei mittlerweile praktisch unmöglich, die Erwärmung bei 1,5 Grad zu stoppen. Unter anderem der Guardian fasste danach die Reaktionen zusammen, von denen „schwerer Fehler“ der australischen Akademie noch eine der harmloseren war.

Es gibt Bereiche, wo disruptive Veränderungen möglich sind. Um etwas zu erreichen, muss man aber gezielt eingreifen. – Ilona M. Otto

Die australischen Wissenschaftler:innen wollten so verstanden werden, dass unverzügliches Handeln schon nötig ist, um das zweite Pariser Ziel von „deutlich unter zwei Grad Erwärmung“ einhalten zu können. Aber viele ihrer Kritiker:innen haben offenbar die Sorge, dass solche Botschaften missverstanden und wichtige Akteure entmutigt werden. Oder entsprechende Lobbyverbände die Interpretation verbreiten: Wenn das mit 1,5 Grad jetzt nicht mehr klappt, dann haben wir ja noch Zeit, uns was zu überlegen.

Auch Anita Engels und ihre Kolleg:innen haben darüber nachgedacht, ob ihre Ergebnisse so ausgelegt werden können. Sie sieht kein sonderliches Risiko. „Der Druck muss noch enorm gesteigert werden, diese Nachricht lässt sich doch auch verbreiten. Niemand sollte sich von einzelnen guten Nachrichten blenden lassen.“

Für die Mitglieder des Cliccs-Teams selbst hat die eigene Arbeit jedenfalls bestätigt, was viele schon ahnten. „Wenn ich früher gefragt wurde, habe ich immer gesagt, dass ich das Einhalten der 1,5-Grad-Grenze für unrealistisch halte“, sagt Jochem Marotzke vom Max-Planck-Institut. „Aber es war eben ein Bauchgefühl. Jetzt haben wir eine solide wissenschaftliche Grundlage dafür, und darüber bin ich extrem zufrieden.“◀

Hinweis: Zu dem Cliccs-Bericht sind von mir schon Artikel bei der Süddeutschen Zeitung und Spektrum.de erschienen. Bei diesem Text handelt es sich um eine deutlich ausführlichere Fassung.

Zu allen der zehn gesellschaftlichen Treiber hatten wir bei KlimaSocial schon Artikel. Hier eine Auswahl der Links:

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