„Wofür schäme ich mich denn?“

Regisseurin Sahar Rahimi im Interview zu Klassismus. Teil 1: Leben.

9 Minuten
Sahar Rahimi blickt in Jeans, weißem Shirt und schwarzer, cooler Jacke gerade und entschlossen in die Kamera. Im Hintergrund nackte Betonwand und dunkle Möbel, oben ein schmaler Strauß Blumen in einer hohen Vase. Sie hat ihre dunklen, lockigen Haare aufgetürmt und ist geschminkt mit Rouge, Lippenstift und Nagellack. In ihrer rechten Hand hält sie eine beige Handtasche, auf den ersten Blick sieht das aus wie ein Buch. In ihrer linken Hand hält sie ein Gläschen Hipp-Babynahrung. Auf den ersten Blick denkt man, es sei eine Dose Cola oder ähnliches.

„Zeige deine Klasse“ heißt ein Buch von Daniela Dröscher. Es beginnt mit Scham. Um Scham ging es auch im Gespräch mit Sahar Rahimi recht schnell: die Scham einer Aufsteigerin, die es weiter gebracht hat als ihre Eltern. Was nicht heißt, dass nicht vielleicht auch die Eltern gesellschaftlich schon eine Strecke zurückgelegt hätten. Menschen, die sich neue Welten erobert haben. Was sind das für Geschichten? Welche Erlebnisse stehen dahinter? Welche Perspektiven? Welche Konflikte, Hindernisse, Gedanken und Gefühle?

Sahar, beim Impulse-Festival moderierst du innerhalb der Akademie zum Thema „Zeige deine Klasse!“ einen so genannten Working Class Stammtisch. Da wird die Frage gestellt: „Klasse – was ist das für eine Kategorie?“ Was ist es denn für eine Kategorie für dich?

Irgendwie ist es unsichtbar. Und irgendwie natürlich auch wieder nicht.

Natürlich gibt es die feinen Unterschiede, Kleidung und Gestik und Bewegung, und wie man sich verhält. Aber wenn man das jetzt vergleicht mit anderen Kategorien, „Frau“, „Person of Color“, oder: „Trans“ – das sind Zuschreibungen, die von etwas Körperlichem ausgehen. Und das gibt’s ja erst mal nicht in der Kategorie „Klasse“.

Ich habe vor ein paar Tagen meiner Tochter „Pinocchio“ vorgelesen. Pinocchio wird vom armen Gepetto geschnitzt. Als er in die Schule kommt, verlässt er zum ersten Mal seinen Raum. Da wird ihm die Frage gestellt: Wer bist du und wo kommst du her? Er sagt: Mein Vater ist ein reicher Schreiner und wir leben in einem Schloss. Und prompt wächst ihm die Nase. Da dachte ich: Das ist ein genaues Bild für diese Klassenzugehörigkeit oder die soziale Herkunft, die eben doch nicht körperlich versteckt werden kann. Denn Pinocchio lügt. Dieses Lügen ist ein ganz großer Teil davon. Gerade Menschen, die die Schichten wechseln, indem sie sich da bewegen, wo sie sich sonst eigentlich nicht bewegen sollten, die fragen sich ganz oft: Wie kann ich das so unsichtbar wie möglich machen? Das interessiert mich. Dieser Moment von Verleugnung. Oder das Unsichtbarmachen der eigenen Herkunft.

eine Gruppe von Kindern, die auf einer Bühne tanzen [AI]
Szene aus der Theaterproduktion „Pinocchio“ von Monster Truck, 2018.
Sahar Rahimi blickt in Jeans, weißem Shirt und schwarzer, cooler Jacke gerade und entschlossen in die Kamera. Im Hintergrund nackte Betonwand und dunkle Möbel, oben ein schmaler Strauß Blumen in einer hohen Vase. Sie hat ihre dunklen, lockigen Haare aufgetürmt und ist geschminkt mit Rouge, Lippenstift und Nagellack. In ihrer rechten Hand hält sie eine beige Handtasche, auf den ersten Blick sieht das aus wie ein Buch. In ihrer linken Hand hält sie ein Gläschen Hipp-Babynahrung. Auf den ersten Blick denkt man, es sei eine Dose Cola oder ähnliches.
Regisseurin und Performerin Sahar Rahimi ist Mit-Gründerin der freien Theater-Gruppe „Monster Truck“, ausgezeichnet mit dem Preis des Favoriten Festivals und dem Tabori Preis. Sie studierte am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen und lebt zurzeit in München. Sie sieht sich als Arbeiterkind.
Sahar Rahimi spielt in „Der Glöckner von Notre Dame“ und bricht offenbar gerade durch eine Wand. Mit einem Arm ist sie schon durch. Sie trägt eine Art Boxhelm.
Sahar Rahimi spielt in „Der Glöckner von Notre Dame“ von Monster Truck. 2011.