„Wenn wir Ökosysteme destabilisieren, destabilisieren wir unsere Gesellschaften“

EU-Umweltkommissar Sinkevičius fordert mehr Natur- und Klimaschutz in der Agrarpolitik. Für Hardliner hält er eine versteckte Drohung bereit.

vom Recherche-Kollektiv Countdown Natur:
15 Minuten
EU-Umweltkommissar Virginijus Sinkevičius im Anzug auf einer Bühne

In Europa geht es derzeit für den Natur- und Klimaschutz um viel: Fast 400 Milliarden Euro werden die EU-Staaten in den kommenden sieben Jahren für Agrar-Subventionen ausgeben. Doch fließt das Geld der Steuerzahler für ein „Weiter so“ in der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP), die Wissenschaftlern zufolge zu hohen CO2-Emissionen und sinkender Artenvielfalt führt? Oder wird es dazu benutzt, die europäische Landwirtschaft umweltfreundlicher zu machen?

Darum ringen derzeit Regierungen, Parlament und Kommission der Union im sogenannten „Trilog“, also Verhandlungen der drei Akteure, an deren Ende ein Beschluss stehen soll.

Im RiffReporter-Interview von Thomas Krumenacker erklärt Virginijus Sinkevičius, der aus Litauen stammende EU-Kommissar für Umwelt, Ozeane und Fischerei, die Position der Kommission. Er äußert sich auch zu der Frage, ob Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen den ursprünglichen Vorschlag zurückziehen wird, weil die Regierungen ihn zu sehr verwässert haben und richtet eine deutliche Mahnung an die Adresse der Landwirtschaftsminister, die sich unter Leitung der deutschen Ressortchefin Julia Klöckner bisher nicht auf energische Maßnahmen gegen das Artensterben verständigen konnten. Zudem geht es um die Bedeutung der EU-Biodiversitätsstrategie, die Rolle Europas bei der bevorstehenden Weltbiodiversitäts-Konferenz (COP15) und die Jagd auf Zugvögel.

RiffReporter: Die Erkenntnisse der Wissenschaft sind eindeutig und der jüngste Bericht der Europäischen Umweltagentur EEA über den Zustand der Natur in Europa unterstreicht es noch einmal: Die Landwirtschaft in ihrer derzeitigen Form ist die Hauptursache für den Verlust der biologischen Vielfalt in der EU. Was muss sich hier ändern?

Virginijus Sinkevičius: Natur und Landwirtschaft gehen Hand in Hand und hängen stark voneinander ab. Ohne gesunde Böden und Bestäuber gibt es keine Landwirtschaft. Aber in den letzten Jahrzehnten der intensiven industriellen Landwirtschaft ist dieses Denken in der Landwirtschaft verloren gegangen. Die Landwirte sind der Schlüssel zum Naturschutz, wir müssen sie zum Teil der Lösung machen. Wir müssen den ökologischen Fußabdruck unserer landwirtschaftlichen Systeme innerhalb und außerhalb der EU halbieren, um die planetarischen Grenzen nicht zu überfordern. Deshalb müssen wir eine Gemeinsame Agrarpolitik mit starken Umwelt- und Klimazielen anstreben.

Davon ist die gegenwärtige Agrarpolitik weit entfernt. Parlament und Ministerrat haben sich auf eine Linie festgelegt, die auf ein „Weiter so“ der zerstörerischen Landwirtschaft hinausläuft. Welche Position vertritt die Kommission?

Die Kommission befürwortet eine neue GAP, die Ernährungssicherheit und ein faires Einkommen für die Landwirte sicherstellt, aber genauso auch Klima- und Biodiversitätsziele viel wirksamer und entschiedener erreicht als das in der gegenwärtigen Periode der Fall ist. Deshalb sind wir entschlossen, weiter mit dem Rat und dem Europäischen Parlament zusammenzuarbeiten, damit die GAP unsere europäischen Green-Deal-Prioritäten widerspiegelt – im Einklang mit den von uns vorgelegten Strategien „Farm to Fork“ und zur Biodiversität.

Ein Spagat?

Was wir erreichen wollen, ist ein guter Kompromiss, der diejenigen Landwirte spürbar belohnt, die Artenvielfalt, Umweltschutz und klimafreundliche Praktiken in ihre tägliche Arbeit integrieren. Wetterextreme durch den Klimawandel und der Verlust der biologischen Vielfalt verschlechtern auch die Existenzgrundlagen der Landwirte. Deshalb ist es eine Win-Win-Strategie, für eine nachhaltigere Landwirtschaft im Gleichgewicht mit der Natur zu arbeiten.

Aber Europa sendet hier gerade sehr widersprüchliche Signale aus. Die Beschlüsse von Agrarministern und Parlament fielen fast zeitgleich mit der Billigung Ihrer Biodiversitätssstrategie durch die EU-Umweltminister. Agrarminister und Parlament setzen weitgehend auf eine Fortsetzung des Status quo. Wie beurteilen Sie die von beiden Institutionen getroffenen Entscheidungen über die zukünftige GAP?

Die Kommission unterstützt eine neue GAP, die starke Umwelt- und Klimaambitionen beinhaltet, um sicherzustellen, dass die europäische Landwirtschaft weiterhin wirtschaftliche, ökologische und soziale Vorteile für Landwirte und Bürger bieten kann. Ich begrüße deshalb die Fortschritte, die der Rat und das Europäische Parlament im Gesetzgebungsverfahren zur Gemeinsamen Agrarpolitik erzielt haben. Zugleich bedauere ich aber die Schwächung der Ambitionen im Umwelt- und Klimabereich. Das gilt besonders für die Bedingungen für Direktzahlungen und die zusätzliche Flexibilität bei den ökologischen Leistungen, den „Echo Schemes“. (Anmerkung: Die Agrarminister hatten beschlossen, dass die Mitgliedstaaten lediglich 20 Prozent der Direktzahlungen für Echo Schemes verwenden müssen, das Parlament will 30 Prozent. Zudem wurde eine zweijährige Übergangsfrist vereinbart und der mögliche Verwendungszweck für diese Mittel stark ausgeweitet, sodass nun auch etwa Tierwohl-Verbesserungen als Öko-Maßnahmen gelten.) Jetzt geht es darum, mit dem Rat und dem Europäischen Parlament in den Trilogen zusammenzuarbeiten, damit die GAP unsere umfassenderen gemeinsamen Prioritäten in Bezug auf Umwelt, Klima, Wirtschaft und Gesellschaft widerspiegelt.

Kommission setzt auf Verhandlungen – zumindest vorerst

Umweltorganisationen sehen auf Basis der Beschlüsse von Rat und Parlament als kaum noch möglich an und fordern die Europäische Kommission auf, ihren Entwurf für die GAP zurückzuziehen, anstatt im gerade laufenden Trilog-Prozess auf nur geringfügige Verbesserungen zu setzen. Wie stehen Sie zu dieser Forderung und wie zuversichtlich sind Sie, in den Verhandlungen noch die wirklich notwendigen Verbesserungen erreichen zu können?

Die Rücknahme eines Vorschlags ist immer eine rechtliche und institutionelle Möglichkeit, aber ich kann bestätigen, dass wir sie nicht in Erwägung ziehen. In dieser Phase werden wir alle unsere Anstrengungen darauf richten, im Rahmen des Trilogs den Verhandlungen eine Einigung zu finden, die die GAP mit den Zielen des Green Deal in Einklang bringt. Unsere Rolle wird dabei die eines ehrlichen Maklers sein, sein, aber zugleich die als treibende Kraft für mehr Nachhaltigkeit. Ich bin überzeugt, dass wir in den Verhandlungen eine Landwirtschaftspolitik erreichen können, die unseren Ansprüchen gerecht wird. Dazu bedarf es aber der gemeinsamen Entschlossenheit, unsere Verpflichtungen zu Nachhaltigkeit und zu den Zielen des Green Deals zu erfüllen – einschließlich der Strategien „Farm to Fork“ und „Biodiversität".

„Wenn wir Pandemien, Klimawandel und einen beispiellosen Verlust an biologischer Vielfalt erleben, wissen wir, dass es an der Zeit ist, unsere Beziehung zur Natur zu überdenken.“

Wie wichtig ist die Rolle gerade der Biodiversitätsstrategie bei Versuch, den anhaltenden Verlust der biologischen Vielfalt in Europa zu stoppen?

Im Moment ist sie meiner Meinung nach wichtiger denn je. Wenn wir Pandemien, Klimawandel und einen beispiellosen Verlust an biologischer Vielfalt erleben, wissen wir, dass es an der Zeit ist, unsere Beziehung zur Natur zu überdenken. Die Notwendigkeit, den Planeten zu schützen und Zerstörtes wiederherzustellen war nie offensichtlicher als heute. Die Natur ist unser Lebenserhaltungssystem, sie gibt uns die Luft, die wir atmen, das Wasser, das wir trinken, und die Nahrung, die wir essen. Aber wir verlieren sie wie nie zuvor und gefährden unsere Gesundheit, unser Wohlbefinden und unsere Wirtschaft.

Wie wollen Sie das ändern?

Um eine nachhaltigere Wirtschaft zu schaffen, die dieses Lebenserhaltungssystem nicht zerstört, sondern es im Gegenteil schützt, wiederherstellt und heilt, bedarf es eines gewaltigen und positiven sozialen Wandels, und dafür brauchen wir eine Strategie, die machbar und solide zugleich ist. Unsere Biodiversitätsstrategie weist den Weg, wie wir dorthin gelangen können: Wir werden Schutzgebiete für mindestens 30 Prozent der Land- und Meeresflächen in Europa einrichten.

Aber viele Landstriche sind schon stark geschädigt, was soll mit ihnen passieren?

Wir werden im Jahr 2021 rechtsverbindliche Ziele für die Wiederherstellung der Natur aufstellen, um die Wälder in der EU strenger zu schützen. Wir werden Flüsse auf einer Länge von mindestens 25.000 Kilometern renaturieren und drei Milliarden Bäume pflanzen. Wir streben auch an, die Menge und die Schädlichkeit der eingesetzten Pestizide bis 2030 um die Hälfte zu verringern. Und lassen Sie uns nicht die entscheidende Rolle der EU-Strategie „Farm to Fork“ vergessen, die darauf abzielt, übermäßige Nährstoffeinträge in die Umwelt zu reduzieren und die biologische Landwirtschaft zu fördern.

Am Ende wird die Umsetzung entscheidend sein…

Aus diesem Grund planen wir auch, unseren bestehenden Rechtsrahmen zu stärken und einen umfassenden Umsetzungs-Rahmen zu entwickeln, um die Fortschritte bei der Erreichung der Ziele zu messen. Mit dem neuen Ansatz werden auch die Biodiversitätsziele besser in die einschlägigen politischen Entscheidungen in anderen Bereichen einfließen, wie Klima, Energie, Gesundheit und Landwirtschaft.

Und wie sieht es mit den dafür nötigen Mitteln aus?

Entscheidend ist, dass 20 Milliarden Euro pro Jahr für die biologische Vielfalt freigesetzt werden, und zwar aus verschiedenen Quellen, darunter neben EU-Geldern auch nationale und private Mittel, wobei alle EU-Mittel nachweislich biodiversitätsfreundlich sein werden. Wenn es richtig gemacht wird, kann die Biodiversitätsstrategie der EU auch den Wiederaufbau nach einer Pandemie fördern, Arbeitsplätze und nachhaltiges Wachstum schaffen und uns helfen, eine gesündere und widerstandsfähigere Gesellschaft aufzubauen.

Ihre Biodiversitätsstrategie bekommt auch aus dem Lager des Umwelt- und Naturschutzes gute Noten. Ihr wird bescheinigt, dass sie bei konsequenter Umsetzung das Zeug dazu hat, den Verlust der biologischen Vielfalt in der EU aufzuhalten. Jetzt einmal über die Landwirtschaft hinaus betrachtet: Wo liegen die größten Herausforderungen, um sie zu einem Erfolg zu machen?

Die größte Herausforderung war und ist es, dafür zu sorgen, dass die Belange der biologischen Vielfalt in andere Politikbereiche einbezogen werden. Es ist sinnlos, eine Politik zur biologischen Vielfalt zu verabschieden, wenn etwa in der Industrie-, Verkehrs-, Energie- und anderen Politikbereichen weiterhin alles beim Alten bleibt.

Können Sie das konkretisieren?

Klimawandel und Umweltverschmutzung sind die Hauptursachen für den Verlust der biologischen Vielfalt. Sie sind miteinander verbunden und verschlimmern sich gegenseitig. Der Schutz der biologischen Vielfalt und die Wiederherstellung von Ökosystemen ist daher auch ein hervorragendes Mittel, um den Auswirkungen des Klimawandels entgegenzuwirken. Dasselbe gilt auch für die Umweltverschmutzung – wir sprechen nicht nur von ihren Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit, sondern auch auf die biologische Vielfalt, so dass die Verringerung der Umweltverschmutzung den Ökosystemen einen direkten Impuls geben wird, was wiederum zur Bekämpfung der Klimakrise beitragen wird.

Und wenn das nicht klappt?

Wenn wir Ökosysteme destabilisieren, destabilisieren wir unsere Gesellschaften und Volkswirtschaften. Wenn dieses Bewusstsein nicht die Richtschnur all unserer Politik und unseres Handelns ist, werden wir keinen Erfolg haben.

Was folgt aus dieser Erkenntnis praktisch?

Wir brauchen Lösungen, die an mehreren Fronten gleichzeitig funktionieren, und genau darum geht es beim Europäischen Green Deal. Anstatt den Klimawandel, den Verlust an biologischer Vielfalt und die Umweltverschmutzung mit rein sektoralen Maßnahmen anzugehen, arbeiten wir also daran, dass unser Ansatz integriert ist und sich daraus Vorteile ergeben.

Drohnenbild eines herbstlich gefärbten Waldes von oben
Die Biodiversitätsstrategie der EU-Kommission sieht auch den Schutz der verbliebenen Ur- und Primärwälder in Europa vor.

Europa als Vorreiter im globalen Schutz der biologischen Vielfalt

Sie sprachen den Finanzbedarf von rund 20 Milliarden Euro pro Jahr für die Bewahrung und Wiederherstellung der Biodiversität bereits an. Die Finanzierung ist aber weitgehend unklar. Sind Sie zuversichtlich, dass die Summe auftreiben können und woher wird das Geld kommen?

Die Umsetzung der EU-Biodiversitätsstrategie wird in der Tat erhebliche Investitionen erfordern. Unser Ziel ist es, dass „Naturkapital“ und Biodiversitätserwägungen systematisch in das Handeln von Unternehmen und Behörden integriert werden. Um die mindestens 20 Milliarden Euro pro Jahr für die biologische Vielfalt zu erreichen, muss das Thema in Programme und Finanzinstrumente sowohl im Rahmen des nächsten langfristigen EU-Haushalts wie auch des EU-Wiederaufbauplans integriert werden.

Welche Töpfe kommen konkret in Betracht?

EU-Programme wie die GAP, die Kohäsionsfonds, das Forschungs- und Innovationsprogramm Horizon, der Europäische Meeres- und Fischereifonds, das LIFE-Programm und die Fonds für internationale Kooperation werden eine Schlüsselrolle spielen. Und dann müssen wir auch den EU-Mitgliedstaaten und privaten Akteuren einen Anreiz bieten, in die Natur zu investieren. Die Kommission schlägt vor, in den nächsten 10 Jahren eine Investitionsinitiative in Höhe von 10 Milliarden Euro für Naturkapital und Kreislaufwirtschaft zu schaffen.

Welche Bedeutung hat die Verbindung von Natur- und Klimaschutz?

Es wird wichtig sein, die Synergien mit unserer Klimaagenda zu maximieren. In der Biodiversitätsstrategie heißt es, dass ein erheblicher Anteil des EU-Haushalts, der für Klimaschutzmaßnahmen vorgesehen ist, in die biologische Vielfalt investiert werden soll. Und vielleicht wichtiger als alles andere wird es sein, dass der EU-Haushalt und der Wiederauffüllungsplan das „Do no harm“-Prinzip verankern werden. Dies wird entscheidend sein, um sicherzustellen, dass die EU-Mittel der Umwelt nicht schaden.

„Die Biodiversitätsstrategie der EU kann als Inspiration, aber auch als Lenkrad zu den richtigen Endergebnissen dienen.“


Als der Rat der Umweltminister die Biodiversitätsstrategie verabschiedete, betonten Sie selbst die Bedeutung dieses Schrittes im Hinblick auf die bevorstehenden Verhandlungen über globale Biodiversitätsziele auf dem Weltbiodiversitätsgipfel im nächsten Jahr im chinesischen Kunming bei der COP15. Was sind die Ziele der EU dort? Können Sie den viel geäußerten Begriff der „ehrgeizigen Ziele“ ein wenig präzisieren?

Unser Ziel ist es, ein globales Abkommen darüber zu erreichen, wie der Verlust der biologischen Vielfalt gestoppt und umgekehrt werden kann. Für uns muss es Ziele und Vorgaben geben, die bis 2030 die Natur auf einen Pfad der Erholung bringen und bis 2050 gesunde Ökosysteme und kein vermeidbares, vom Menschen verursachtes Aussterben mehr gewährleisten. Dazu müssen die Ursachen des Verlusts wirksam bekämpft werden.

Das sollte bereits mit Beschlüssen bei früheren Gipfeln erreicht werden. Ohne durchschlagenden Erfolg.

Der Rahmen für die Zeit nach 2020 sollte einen viel stärkeren Überwachungs- und Überprüfungsmechanismus mit einem regelmäßigen Zyklus enthalten, in dem sich die Parteien verpflichten, Maßnahmen zu ergreifen, ihre Fortschritte bei der Umsetzung der Ziele zu überprüfen und bei Bedarf ihre Bemühungen zu intensivieren. Überprüfungen sollten sich auf wissenschaftliche Erkenntnisse und eine Reihe gemeinsamer Leitindikatoren für alle Parteien stützen, so dass wir die Fortschritte auf globaler Ebene in einer globalen Bestandsaufnahme bewerten können. Transparenz ist der Schlüssel. Wo immer möglich, müssen diese Ziele und Vorgaben messbar und zeitgebunden sein.

Haben Sie ein paar Beispiele für solche Ziele?

Schutz von 30 Prozent des Landes und der Meere, Verringerung der Verschmutzung durch Pestizide, Nährstoffe, Kunststoffe und andere Schadstoffe, Anwendung von Lösungen, die auf der Natur basieren. Die Biodiversitätsstrategie der EU kann als Inspiration, aber auch als Lenkrad zu den richtigen Endergebnissen dienen.

Ein Moor in Lettland aus der Luft fotografiert.
Die Biodiversitätsstrategie der EU schützt Moore sowohl als Hotspots der Artenvielfalt als auch als Kohlenstoffspeicher für den Klimaschutz

Optimistisch zu Fortschritten bei Weltbiodiversitäts-Konferenz

Wie beurteilen Sie den derzeit laufenden Verhandlungsprozess?

Die Pandemie hat die COP15 der Konvention über Biologische Vielfalt – den im chinesischen Kunming geplanten Weltbiodiversitätsgipfel – um mindestens ein Jahr verzögert, aber wir werden die zusätzliche Zeit bestmöglich nutzen. Die Vorbereitungstreffen werden im Dezember wieder aufgenommen. Der aktualisierte Rahmenentwurf, der vor etwa zwei Monaten veröffentlicht wurde, stellt eine Verbesserung dar, aber es gibt noch viel zu verstärken.

Wie wollen Sie verhindern, dass wir zehn Jahre nach Kunming nicht erneut feststellen müssen, dass wir unsere Ziele verfehlt haben, wie es bei den Zielen von Aichi der Fall ist?

Die Welt hat die aktuellen Aichi-Ziele für die biologische Vielfalt nicht erreicht, weil die Ursachen für den Verlust der biologischen Vielfalt schneller zugenommen haben als unsere Bemühungen. In den letzten Jahren haben die Anstrengungen jedoch erheblich zugenommen, und sie haben sich im Allgemeinen als wirksam erwiesen. Es gibt eine Menge, auf dem wir aufbauen können. Aber wir müssen auch lernen. Aus diesem Grund sind neben ehrgeizigen Zielen und Vorgaben auch ein solides gemeinsames Verständnis über die Mittel der Umsetzung und ein starker Überwachungs- und Überprüfungsmechanismus von entscheidender Bedeutung.

„Ich werde hart für eine ehrgeizige Umsetzung kämpfen, damit die COP15 der CBD ein Erfolg wird.“

Sie sind also optimistisch mit Blick auf den Gipfel?

Ich habe gute Gründe, optimistisch zu sein, dass sich in Kunming alle Länder auf ein ehrgeiziges globales Rahmenwerk für die biologische Vielfalt nach 2020 einigen werden, das die Natur bis 2030 auf den Weg der Erholung bringt. Erstens ist der Wissenschaft völlig klar, dass wir keine andere Wahl haben. Unser Wohlergehen, unsere Gesundheit, unsere Wirtschaft, unsere Ernährungssicherheit, unser Schutz vor Klimawandel und Katastrophen hängen von der Natur und gesunden Ökosystemen ab. Die Interdependenz mit dem Klimawandel wird immer offensichtlicher. Die Kosten der Zerstörung der Natur werden immer deutlicher, schon jetzt.

Wächst das Bewusstsein auch bei der Regierungschefs?

78 Staats- und Regierungschefs, darunter auch Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, unterzeichneten im Vorfeld des UN-Biodiversitätsgipfels im September das „Leaders Pledge for Nature“. Unsere Jugend, Städte, Unternehmen und der Finanzsektor rufen alle zu entschlossenem Handeln auf, um den Verlust der biologischen Vielfalt zu stoppen. Diese Dynamik nimmt von Tag zu Tag zu. Und schließlich haben wir mit dem Europäischen Green Deal eine starke Ausgangsbasis, die es uns ermöglicht, mit gutem Beispiel voranzugehen. Ich werde hart für eine ehrgeizige Umsetzung kämpfen, damit die COP15 der CBD ein Erfolg wird.

Jeden Herbst werden wir alle Zeugen der fast primitiven Zerstörung der biologischen Vielfalt durch das illegale Töten von Millionen von Zugvögeln entlang ihrer Zugrouten. Wir haben soeben weitere Nachrichten über den illegalen Abschuss von Schreiadlern – einem Juwel der Natur auch in Ihrer litauischen Heimat – und vielen anderen Vogelarten, zum Beispiel im Libanon, erhalten. Internationale Verträge binden auch die Regierungen von Ländern im Nahen Osten und darüber hinaus. In der Praxis wird jedoch nichts oder nur sehr wenig getan, weil in vielen Fällen selbst grundlegende staatliche Strukturen nicht funktionieren. Das ist mehr als nur ein Tierschutzproblem. Zum Beispiel geben die baltischen Staaten und die EU durch ihre LifeProgramme viel Geld aus, um Schreiadler in ihren Brutgebieten zu schützen. Sind wir machtlos gegen die sinnlose Zerstörung der Artenvielfalt und warum hört man so wenig von der EU-Kommission zu diesem Thema?

Alle Vogelarten in der EU sind durch die EU-Vogelschutzrichtlinie geschützt. Das absichtliche Töten der Vögel ist verboten, es sei denn, außergewöhnliche Umstände rechtfertigen eine Ausnahme. Die Mitgliedstaaten haben die Richtlinie in nationales Recht umgesetzt und sind für deren Durchsetzung verantwortlich. Trotz dieser Verpflichtungen kommt das illegale Töten oder Fangen von Vögeln nach wie vor in der EU und nicht nur in Drittländern vor. Die Kommission hat gegen mehrere Mitgliedstaaten rechtliche Schritte wegen des Tötens von Vögeln eingeleitet. Darüber hinaus hat die Kommission auch mehrere Projekte im Rahmen des LIFE-Programms finanziert, die auf die Bekämpfung des illegalen Tötens, Fangens und Vergiftens von Vögeln abzielen.

Und über die EU-Grenzen hinaus?

Auf internationaler Ebene setzt sich die Kommission für die Berner Konvention zur Frage des illegalen Tötens ein, insbesondere im Zusammenhang mit dem "Strategischen Plan von Rom 2020–2030 zur Beendigung des illegalen Tötens, Fangens und Handels mit Wildvögeln". Die EU finanziert auch die CMS-Konvention über wandernde Arten, in deren Rahmen eine zwischenstaatliche Arbeitsgruppe zum Thema des illegalen Tötens, Fangens und Handels mit Zugvögeln im Mittelmeerraum eingerichtet wurde. Ein entsprechender Arbeitsplan ist in Vorbereitung. Er wird wahrscheinlich einen besonderen Schwerpunkt auf die Mittelmeerländer legen, die der Berner Konvention nicht beigetreten sind. Auch wenn die Möglichkeit, internationale Verpflichtungen aus Umweltverträgen durchzusetzen, begrenzt ist, hoffen wir, dass diese internationalen Maßnahmen und der internationale Druck vor Ort zu Ergebnissen führen werden.

Eine Ansammlung toter Vögel: Auf diesem Bild zu sehen:Schreiadler, verschiedene Eulenarten, Rötelfalken, Ziegenmelker, Wachtelkönige
Die illegale Jagd auf Zugvögel ist ein politisch unterschätztes Problem. Nicht nur das Leid der Tiere, auch der Verlust für die Biodiversität ist enorm. Auf diesem Bild zu sehen:Schreiadler, verschiedene Eulenarten, Rötelfalken, Ziegenmelker, Wachtelkönige – Die weggeworfenen Überreste einer nächtlichen Jagd mit Scheinwerfern.

Sollte wirtschaftliche Hilfe, wie die massive Hilfe, die wir dem Libanon nach der Katastrophe von Beirut leisten, nicht von der Einhaltung internationaler Abkommen abhängig gemacht werden?

Über die kurzfristige Nothilfe der EU hinaus, die wir weiterhin leisten werden, prüft die EU Möglichkeiten zur Anpassung ihrer mittel- und langfristigen Hilfe. Unser Ziel ist es, den Libanon bei der Stärkung der sozialen und wirtschaftlichen Reformen sowie bei der Stärkung der verantwortungsvollen Staatsführung, der Rechenschaftspflicht und der Korruptionsbekämpfung zu unterstützen. Sozioökonomische Reformen sind von entscheidender Bedeutung dafür, dass der Aufschwung ökonomisch und ökologisch nachhaltig gestaltet wird und nicht nur eine Rückkehr zur vorherrschenden Wirtschaftslage erreicht wird.

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Im Projekt „Countdown Natur“ berichten wir mit Blick auf den UN-Naturschutzgipfel über die Gefahren für die biologische Vielfalt und Lösungen zu ihrem Schutz. Die Recherchen zu diesem Beitrag wurden von der Hering Stiftung Natur und Mensch gefördert. Sie können weitere Recherchen mit einem Abonnement unterstützen.

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