Artensterben: Was Schriftstellerinnen, Wissenschaftler und Wirtschaftsvertreter jetzt für nötig halten

Die Bestsellerautorin Andrea Wulf rät zu Panik und Naturliebe, der Evolutionsbiologe Axel Meyer zu Gentechnik und Atomkraft. Eine Umfrage.

vom Recherche-Kollektiv Flugbegleiter:
8 Minuten
Baumkronen eines Regenwaldes.

Das Ergebnis ist alarmierend: Am 6. Mai haben 145 Wissenschaftler des Internationalen Biodiversitätsrats (IPBES) die Ergebnisse dreijähriger Untersuchungen vorgelegt. Die Forscher prognostizieren, dass in den kommenden Jahrzehnten jede achte Art aussterben könnte, wenn sich unsere Wirtschaftsweise nicht grundlegend ändert.

Wir haben die Bestseller-Autorinnen Andrea Wulf und Judith Schalansky, die Wirtschaftsvertreterin Stefanie Eichiner, den Ornithologen Peter Berthold, den Evolutionsbiologen Axel Meyer und die Vizepräsidentin der Leibniz-Gemeinschaft, Katrin Böhning-Gaese, befragt, was sie an dem Bericht überrascht hat, was jetzt geschehen muss und was ihnen Hoffnung macht. Die Antworten fallen sehr unterschiedlich aus.

„Wir müssen uns ändern. Jetzt.“

Andrea Wulf – Autorin des Beststellers „Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur“

Hat Sie am IPBES-Bericht etwas überrascht oder schockiert?

Wo soll man anfangen? Ich war völlig überrascht, dass satte 80 Prozent des Abwassers, das in Seen, Flüsse und Ozeane eingeleitet wird, unbehandelt bleiben. 80 Prozent! Beim Lesen des Berichts ging es für mich von einem Schock zum nächsten, um ehrlich zu sein. Ich bin mir nicht sicher, ob es schockierender ist, dass wir unserem Planeten jetzt fast doppelt so viele Ressourcen entreißen als 1980 – in dem Bewusstsein, was das für die Umwelt bedeutet – oder dass wir etwa die Hälfte unserer natürlichen Ökosysteme verloren haben. Oder dass nur drei Prozent der Meeresgebiete frei von menschlichem Druck sind. Aber am schockierendsten ist vielleicht, dass mindestens eine Million Arten wegen uns vom Aussterben bedroht sind. Dabei haben wir zugeschaut,

Aufnahme von Andrea Wulf. Sie trägt eine Mütze und steht vor einer hügeligen Landschaft mit einem alten Gebäude. Im Hintergrund sieht man einen schneebedeckten Berg.
Andrea Wulf, geboren in Indien und aufgewachsen in Deutschland, lebt seit anderthalb Jahrzehnten in London. Seit ihrem Studium der Designgeschichte am Royal College of Art arbeitet sie als Sachbuchautorin und Journalistin. Sie ist Autorin des internationalen Bestsellers „Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur“, von „Die Vermessung des Himmels“ und des illustrierten Buchs „Abenteuer des Alexander von Humboldt“.

Was muss nun geschehen?

Die industrielle Landwirtschaft und die industrielle Fischerei müssen komplett reformiert werden. Ich denke, wir sollten ihre Lobbyisten nicht mehr in der Nähe von Politikern lassen. Wir werden auch einige sehr unbequeme Änderungen vornehmen müssen, und ich glaube, dass sie gesetzlich verankert werden müssen. Die Fleischproduktion ist für den Planeten katastrophal, ebenso wie die industrielle Fischerei. Warum sollte man den Menschen in den reichen westlichen Ländern nicht zum Beispiel einen sehr geringen Fleisch- und Fischverbrauch auferlegen? Einweg-Kunststoffe müssen verboten werden und noch so viel mehr. Wir müssen uns ändern. Jetzt. Und nicht in 30 Jahren. Wir sind eine ziemlich egoistische Spezies – also müssen uns diese Veränderungen auferlegt werden. Sorry, aber ich glaube nicht, dass es sonst funktionieren wird.

Was gibt Ihnen Hoffnung?

Ich habe keine große Hoffnung. Und ich glaube nicht, dass uns Hoffnung hier helfen wird. Ein wenig Panik könnte viel nützlicher sein. Wir haben so lange über den Verlust der biologischen Vielfalt, den Klimawandel, die Entwaldung und die Umweltzerstörung gesprochen … und es hat sich nichts geändert. Es waren nur trockene Zahlen, Prognosen, Statistiken. Ich denke, wir müssen dem eine emotionale Dimension hinzufügen. Sprechen wir darüber, was Natur in unseren Seelen und Herzen auslöst. Lasst uns weinen, trauern, wütend sein, panisch werden … und dann entscheiden, ob wir diesen wunderschönen blauen Planeten genug lieben, um einige unbequeme Schritte zu unternehmen. Der einzige Lichtblick, den ich im Moment habe, sind die weltweiten Klimaschulstreiks – eine Hoffnung, dass die Kinder, deren Zukunft wir stehlen, so sehr kämpfen werden, dass wir Eltern und Großeltern uns anpassen und verändern.

„Vielfalt muss sich ökonomisch lohnen“

Stefanie Eichiner – Vorsitzende der Unternehmensinitiative „Biodiversity in Good Company“

Hat Sie am IPBES-Bericht etwas überrascht oder schockiert?

Ich beschäftige mich intensiv mit dem Thema, da gab es keine wirklichen Überraschungen. Aber es ist angebracht, dass durch den Bericht ein Gefühl der Dringlichkeit entsteht. Die Zahlen unterstreichen, wie notwendig sofortige Maßnahmen sind. Die natürlichen Reichtümer der Erde sind Grundlage für die menschliche Existenz und damit für alle wirtschaftlichen Aktivitäten. Es gehört zur unternehmerischen Verantwortung, erfolgreich im Einklang mit den Bedürfnissen der Natur zu handeln und menschliches Handeln nicht getrennt von der Natur zu sehen.

Dr. Stefanie Eichiner steht hinter einem Redepult mit der Aufschrift „Museum für Naturkunde Berlin“.
Dr. Stefanie Eichiner ist Nachhaltigkeits-Managerin beim Papierhersteller UPM und Vorstandsmitglied der Unternehmensinitiative „Biodiversity in Good Company“.

Was muss nun geschehen?

In ökonomischer Hinsicht ist es jetzt wichtig, ökologisch einwandfreie Lebens- und Konsummuster zu fördern, denn das ebnet den Weg für eine erfolgreiche Markteinführung ökologisch sinnvoller Technologien, Produkte und Dienstleistungen. Gesellschaftlich geht es darum, voneinander zu lernen. Unsere Initiative arbeitet daran, dass Unternehmen sich beim Schutz der biologischen Vielfalt gegenseitig inspirieren. Und politisch ist es wichtig, dass Unternehmen zuverlässige Rahmenbedingungen bekommen, die auch im globalen Wettbewerb sicherstellen, dass sich unternehmerisches Engagements für den Schutz der Biodiversität lohnen kann.

Was gibt Ihnen Hoffnung?

Ich schöpfe Hoffnung daraus, wie viele Unternehmen bei uns engagiert sind und aus dem ständigen Dialog dieser Unternehmen mit Umweltgruppen, Forschungseinrichtungen und politischen Entscheidungsträgern. Wir entwickeln dabei jene Handlungsanweisungen für Biodiversität, die im IPBES-Bericht gefordert werden. Ich schöpfe immer Hoffnung, wenn wir diese Projekte auf nationaler und EU-Ebene vorstellen. Die Teilnahme an dieser Bewegung macht mich zuversichtlich, dass wir dazu in der Lage sein werden, den Verlust der biologischen Vielfalt zu stoppen.

„Die Bevölkerung könnte auf die Barrikaden gehen“

Peter Berthold – Ornithologe und früherer Max-Planck-Direktor

Hat Sie am IPBES-Bericht etwas überrascht oder schockiert?

Die Ergebnisse überraschen mich überhaupt nicht. Wer sehen will, kann schon lange sehen, dass wir auf eine ökologische Megakrise zusteuern oder bereits darin sind. Überraschend und schockierend zugleich ist für mich lediglich, dass der Bericht erst jetzt kommt – er wäre bei der sich seit langem abzeichnenden Aussterbewelle viel früher nötig gewesen!

Was muss nun geschehen?

Nötig wären radikale Änderungen im Kleinen wie im Großen: Die Bevölkerungsentwicklung müssten wir in den Griff kriegen, die Wissenschaft müsste viel mehr am Naturschutz orientiert sein und wir brauchen ganz praktisch in Deutschland flächendeckend miteinander vernetzte Biotopverbünde. Was aber passieren wird: Die Politik wird den Bericht herunterspielen, herumlabern und größere Aktionen in Aussicht stellen – ohne, dass wirklich etwas passiert. Die Wirtschaft wird den Hungertod der Menschheit als Gefahr an die Wand malen, wenn mit konkreten Maßnahmen wirklich ernst gemacht wird. Aber die Bevölkerung könnte auf die Barrikaden gehen – am besten zusammen mit den freitags demonstrierenden Schülern!

Portrait von Prof. Dr. Peter Berthold
Prof. Dr. Peter Berthold ist Ornithologe und Verhaltensforscher. Er studierte Biologie, Chemie und Geografie und hat u. a. durch seine wissenschaftlichen Untersuchungen am Zugverhalten der Mönchsgrasmücke Bekanntheit erlangt. 14 Jahre leitete er mit Engagement und viel Herzblut die Vogelwarte Radolfzell der Max-Planck-Gesellschaft. Berthold ist zudem Buchautor.

Was gibt Ihnen Hoffnung?

Da gibt es keinerlei Hoffnung – so schlimm es auch ist, aber nach meiner Überzeugung könnten nur eine oder mehrere mittlere bis größere Katastrophen für die Menschen wie Epidemien oder Seuchen die Menschheit zum Aufwachen bringen. Im Kleinen gibt es aber dann zum Glück ab und zu doch Hoffnungsschimmer: Dass das Volksbegehren zur Artenvielfalt in Bayern jetzt Gesetz wird, ist zum Beispiel ganz großartig.

„Wenn wir jetzt handeln, ist es noch nicht zu spät“

Judith Schalansky – Schriftstellerin, Herausgeberin, Buchgestalterin

Hat Sie am IPBES-Bericht etwas überrascht oder schockiert?

Schockierend war für mich vor allem die Tatsache, wie konkret und genau sich der fortschreitende Verlust bei allen Unsicherheiten mittlerweile verzeichnen lässt. Nach Veröffentlichung dieses Berichts kann niemand mehr, wie oft in der Vergangenheit geschehen, behaupten, man wüsste noch viel zu wenig. Wissen ist nicht das Problem.

Portrait von Judith Schalansky
Judith Schalansky studierte Kunstgeschichte und Kommunikationsdesign. Ihr Werk, darunter der international erfolgreiche Bestseller „Atlas der abgelegenen Inseln“ sowie der Roman „Der Hals der Giraffe“, wurde in mehr als 20 Sprachen übersetzt und wurde vielfach ausgezeichnet. Sie ist Herausgeberin der Reihe „Naturkunden“ im Verlag Matthes und Seitz und lebt als Gestalterin und freie Schriftstellerin in Berlin.

Was muss nun geschehen?

Grundlage aller Handlungen muss die Erkenntnis sein, dass der Wert der Artenvielfalt im Gegensatz zu den vorübergehenden Werten, die mit der in Kauf genommenen Ausrottung von Pflanzen und Tieren geschaffen wird, existenziell für die Menschheit ist. Selbst aus egoistischen Gründen müssen wir Menschen also gewährleisten, dass dieser Planet möglichst viele Arten beherbergt. Dazu gehören eine umweltverträgliche Landwirtschaft, ein nachhaltiger Umgang mit Ressourcen, aber nicht zuletzt ein umfassendes Umdenken in Politik und Gesellschaft. In Zukunft werden nicht die Staaten mit dem höchsten Bruttosozialprodukt die attraktivsten sein, sondern jene, die die höchste Artenvielfalt aufweisen.

Was gibt Ihnen Hoffnung?

Die Tatsache, dass wir im Grunde gar keine andere Wahl haben. Auch Bewegungen wie „Fridays for Future“ geben mir Hoffnung. Wenn wir jetzt handeln, ist es noch nicht zu spät.

„Atomkraft, Gentechnik, Geburtenkontrolle“

Axel Meyer, Evolutionsbiologe an der Universität Konstanz

Hat Sie am IPBES-Bericht etwas überrascht oder schockiert?

Ja, die Zahl, dass eine Million Arten vom Aussterben bedroht sind. Zerstören wir den Planeten wirklich innerhalb von wenigen Generationen?

Was muss nun geschehen?

Bevölkerungswachstum ist das größte Problem für unseren Planeten. Viele bevölkerungsreiche Staaten, hauptsächlich in Asien, haben in den letzten zwei Jahrzehnten einen rasanten Anstieg des Lebensstandards erlebt und damit verbunden eine starke Vergrößerung der Nutzung etwa von Holz, fossilen Brennstoffe, Land – und auch der CO2-Produktion pro Kopf. Das Bevölkerungswachstum vor allem in afrikanischen Ländern führt zu mehr Armut, sozialen Spannungen, Migrationsdruck und zur Überbeanspruchung von Ressourcen. Ich bin dafür, die Entwicklungshilfe an eine strenge Ein-Kind-Politik zu binden, Geburtenkontrolle zu fördern und die Informationen zur Familienplanung massiv auszuweiten. Wenn wir entgegen dem großen Trends sicherstellen wollen, dass wir weiterhin eine ständig wachsende Weltbevölkerung ernähren können, brauchen wir vor allem eine effizientere Nutzung der Land- und Wasserressourcen. Eine Möglichkeit, dies zu erreichen, besteht in genmodifizierten Pflanzen – sie verbrauchen weniger Land, Wasser und Pestizide. Viel mehr CO2-freie Energie, zum Beispiel durch Atomenergie, wird ebenfalls benötigt. Wind- und Sonnenenergie vergeudet aus meiner Sicht abseits der Wüste Land, das besser genutzt werden könnte – und Biokraftstoffe waren eine der schlimmsten Ideen aller Zeiten.

Schwarz-weiß Aufnahme des Gesichts von Axel Meyer
Axel Meyer ist Professor für Zoologie und Evolutionsbiologie an der Universität Konstanz. Zu seinen Forschungsgebieten zählt die Evolution der Buntbarsche im Viktoriasee. Für seine wissenschaftliche Arbeit hat er zahlreiche Auszeichnungen erhalten. Er ist Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, der Leopoldina und der American Academy of Arts and Sciences.

Was gibt Ihnen Hoffnung?

Leider nichts. Dies ist auch ein spieltheorisches Dilemma. Egoistische Spieler wie die USA, China, Indien, die für CO2 wirklich wichtig sind, werden gewinnen, zumindest kurzfristig, während Deutschland mit seinem Anteil von nur zwei Prozent des weltweiten CO2-Ausstoßes keine Rolle spielt.

„Wir brauchen eine Änderung der Agrarpolitik“

Katrin Böhning-Gaese – Direktorin des Biodiversitäts- und Klimazentrums Senckenberg.

Hat Sie am IPBES-Bericht etwas überrascht oder schockiert?

Um ehrlich zu sein, als Biodiversitätsforscher kenne ich diese Fakten seit vielen Jahren. Ich freue mich jedoch, dass diese Fakten jetzt viel mehr öffentliche und politische Aufmerksamkeit finden als früher. Ich bin überrascht, dass der ziemlich radikale Ruf nach Transformation, den ich für notwendig halte, von allen Parteien angenommen wurde.

Portrait der Ornithologin und Ökologin Prof. Dr. Katrin Böhning-Gaese
Die Ornithologin und Ökologin Katrin Böhning-Gaese.

Was muss nun geschehen?

Eine Herausforderung besteht darin, die Ergebnisse auf die regionale Ebene zu übertragen. Wenn wir auf Deutschland fokussieren, dann heißt das: 1. die landwirtschaftliche Flächennutzung muss nachhaltig werden, wir brauchen insbesondere eine Änderung der Agrarpolitik. 2. Wir müssen die sogenannte Telekopplung viel stärker berücksichtigen, also die Auswirkungen, die unser Konsum durch den Welthandel auf andere Länder hat. 3. Wir müssen unser Verhalten und unsere Konsumgewohnheiten ändern.

Was gibt Ihnen Hoffnung?

Die Herausforderung ist enorm. Der Vorteil bei der Biodiversität besteht – im Gegensatz zur Bekämpfung des Klimawandel – darin, dass alles, was wir lokal, regional und national zur Verbesserung tun, die Biodiversität auch unmittelbar verbessert. Es ist also viel einfacher, die Menschen beim positiven Handeln zu stärken als bei der Bekämpfung des Klimawandels.

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