Was ist wichtiger: Das Überleben einer bedrohten Art oder Wohnraum für den Menschen?

Städter haben ein Problem: Sie finden keine bezahlbaren Wohnungen mehr. Der Feldhamster hat auch ein Problem: Er stirbt aus. Auf einem Feld in Frankfurt trafen beide Probleme aufeinander, als eine der letzten Feldhamsterkolonien Hessens einem Wohngebiet weichen sollte.

vom Recherche-Kollektiv Tierreporter:
12 Minuten
Ein wilder Feldhamster kauert zwischen Gras und schaut vorsichtig in die Kamera.

Bevor Anwohner fast tausend Unterschriften sammelten, Medien berichteten, Politiker sich gegen die eigene Fraktion stellten und ein Pfarrer öffentlich abwog, welche Leben wohl mehr zählten, war das 42 Hektar große Ackerland bei Frankfurt einfach nur das Zuhause eines bis zu 35 Zentimeter großen Nagers mit flauschigem Fell und runden Öhrchen.

Der Feldhamster, Cricetus cricetus, wiegt bei der Geburt etwa so viel wie eine Ein-Euro-Münze, frisst sich an Getreide, Feldfrüchten und Insekten bis zu 500 Gramm schwer und erinnert ausgewachsen ein wenig an ein Meerschweinchen. Er verschläft mehr als die Hälfte seines circa vier Jahre langen Lebens unter der Erde – immer von Oktober bis April. Schade eigentlich, denn Zoologen schrieben bereits 1879, hamastro, der Kornwurm, wie man ihn damals nannte, sei ein »leiblich recht hübsches Geschöpf«. Heute hat er ein Problem: Der Feldhamster ist vom Aussterben bedroht, in Deutschland verschwindet er besonders schnell von mehr und mehr Flächen.

Zwei Gründe scheint es auf den ersten Blick dafür zu geben: Der Mensch will essen. Und so zieht die Landwirtschaft mit der Macht moderner Maschinen zu Felde, die dem Feldhamster weder Deckung noch Erntereste lassen. Und der Mensch will wohnen. Bis zu 50 Fußballfelder Bauland versiegeln die Deutschen pro Tag – dazu zählen nicht nur Flächen für Häuser, sondern auch solche für Straßen, Autobahnen, eben alles, was Asphalt bedeutet.

In Sindlingen, einem etwa 9000 Einwohner großen Stadtteil im Südwesten von Frankfurt, markiert ein Feldweg den Ort des Streits. Daneben liegen gepflügte Äcker, auf denen Kartoffeln in feuchter Erde kleben, am Horizont sieht man Strauchwerk und Büsche, versteckt dahinter Gleise – etwa 16 Minuten braucht die S-Bahn von hier zum Frankfurter Hauptbahnhof.

Was sich hier einige wünschen: Asphalt. Gebäude, die Platz bieten für 5000 Menschen, fünfstöckig gebaut – man muss nach oben, weil der Platz in der Breite nicht reicht.

2013 hatte der damalige Planungsdezernent der Stadt Frankfurt, ein Grünen-Politiker, 15 Gebiete vorgeschlagen, auf denen er Wohnungen bauen wolle. In Sindlingen sollte das größte Areal entstehen – aber hier wohnte eine der letzten Feldhamster-Populationen in Hessen, etwa 20 Tiere.

Mehrere Sindlinger gründeten ein Aktionsbündnis, um das Baugebiet zu verhindern, der Stadtteil sei zu klein für das Projekt. Der Konflikt spaltete die Grünen in Frankfurt: Die Ortsbeiräte der Sindlinger Grünen enthielten sich bei der Abstimmung über das Baugebiet – und stellten sich somit gegen die eigene Partei in der Stadtverordnetenversammlung. Der Streit uferte so weit aus, dass ein evangelischer Pfarrer im Hessischen Rundfunk debattierte, was wichtiger sei: das Leben einer geschützten Art oder Wohnraum für den Menschen? Am Ende kam er zu dem Schluss, dass es eben kompliziert sei, dass er persönlich zwar den Hamster schützen würde, dies aber eine Gewissensentscheidung sei, ohne Richtig, ohne Falsch.

Im Oktober 2019 verkündete der SPDler Mike Josef, damals noch Planungsdezernent von Frankfurt und seit dem 26. März 2023 designierter Oberbürgermeister, dass eine Bebauung vorerst nicht zulässig sei. Wegen der Feldhamster.

Einer kämpfte über diese Entscheidung hinaus weiter für das Wohngebiet: Sieghard Pawlik, zum Zeitpunkt der Verkündung des Planungsdezernenten schon 78, aber noch lange nicht arbeitsmüde, saß für die SPD als Umweltpolitiker im Landtag. Danach wechselte er auf einen Sitz in der Abgeordnetenversammlung der Stadt Frankfurt. Sein Fach ist die Wohnungs- und Baupolitik. »Stadt ist Trend«, sagt er, »weltweit.«

Die Leute haben ein Recht auf Freizügigkeit. Was sollen wir denn tun? Maschinengewehre aufstellen und sie fernhalten? Wohnungsbau ist eine zentrale soziale Frage.

Sieghard Pawlik, SPD-Stadtrat in Frankfurt a.M.

Ich weiß, wir Landwirte vernichten die Insekten, die Vögel, und überhaupt kriegen wir alles klein.

Patrick Stappert, Landwirt in Sindlingen

Ein Feldhamster schiebt sich langsam aus seinem Bau und schnüffelt den trockenen Erdboden ab, vielleicht nach Körnern oder Feldfrüchten.
Der Mensch will essen. Und so zieht die Landwirtschaft mit der Macht moderner Maschinen zu Felde, die dem Feldhamster weder Deckung noch Erntereste lassen. Manche Landwirte reagieren auf das Problem – und säen Blühstreifen.

Mal ehrlich, wer lacht nicht, wenn ich von einer internationalen Hamster-Arbeitsgruppe erzähle?

Stefanie Monecke, Professorin für Chronoökologie

Die Zeit. Uns rennt die Zeit weg.

Tobias Erik Reiners, Biologe und Senckenberg-Forscher

Ein Feldhamster reckt seinen Kopf aus einem Erdloch und schaut neugierig in die Kamera.
Feldhamster verschlafen mehr als die Hälfte ihres circa vier Jahre langen Lebens unter der Erde – immer von Oktober bis April.