Gesundes-Herz-Gesetz: Mehr Medikamente, weniger Prävention? Was Fachleute kritisieren

Ist es sinnvoll, dass Ärzt*innen Statine künftig auch bei niedrigerem Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen auf Kassenkosten verordnen können? Eine Analyse

vom Recherche-Kollektiv Plan G:
8 Minuten
Auf einem blauen Hintergrund steht eine weiße Dose, über der man viele Tabletten in Herz-Form sieht.

Wenn Menschen in Deutschland sterben, stecken oft Herz-Kreislauf-Erkrankungen dahinter: Etwa ein Drittel der Todesfälle geht auf die Rechnung von Herzinfarkten, Schlaganfällen oder ähnlichen Problemen. Außerdem verursachen solche Krankheiten hohe Kosten für die Krankenkassen.

Deshalb hört sich der Plan von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach erst einmal gut an: Herz-Kreislauf-Erkrankungen sollen seltener werden und weniger Folgeprobleme verursachen. Dafür sollen Regelungen im Gesundes-Herz-Gesetz sorgen. Den Referentenentwurf hat das Bundesgesundheitsministerium (BMG) in der zweiten Juni-Hälfte veröffentlicht.

Die medizinische Fachwelt diskutiert den Entwurf allerdings äußerst kontrovers. Einige Expert:innen halten den Entwurf für „völlig gaga“ oder kritisieren, er ginge „in die völlig falsche Richtung“. Andere Fachleute begrüßten dagegen den Fokus auf die Herz-Gesundheit und die Möglichkeiten, bei Risiken frühzeitig einzugreifen.

Was Fachleute kritisieren

Viele der Punkte, die das Gesetz adressiert, waren bereits im November 2023 in einem Eckpunktepapier bekannt geworden. Einer der wichtigsten Kritikpunkte der damaligen Diskussion: Maßnahmen zur Prävention, die auf einer gesellschaftlichen Ebene ansetzen, kommen nicht vor. Sinnvoll wäre es zum Beispiel, mehr Bewegung bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen zu fördern, Werbeverbote für Tabak oder eine Zuckersteuer einzuführen. Fachleute halten diesen Präventionsansatz für wesentlich, wenn man verhindern will, dass Herz-Kreislauf-Erkrankungen entstehen. Stattdessen fokussieren die Eckpunkte und jetzt auch der Referentenentwurf auf medizinische Maßnahmen, etwa mehr Früherkennung durch Gesundheitsuntersuchungen – auch schon bei Kindern und jungen Erwachsenen. Wie viel solche Untersuchungen bringen, ist unter Expert*innen aber umstritten.

Im Referentenentwurf kam jetzt ein weiterer Punkt hinzu, der heiß diskutiert wird: Künftig sollen die gesetzlichen Krankenkassen Cholesterinsenker, konkret Medikamente aus der Gruppe der Statine, bereits ab einem deutlich niedrigeren individuellen Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen bezahlen, als es bisher der Fall ist. Die Kritik: Damit rückten „Pillen statt Prävention“ in den Mittelpunkt. Das befürchtet beispielsweise Carola Reimann vom AOK-Bundesverband. Auch der Hausärztinnen- und Hausärzteverband kritisiert eine „Medikamentenvergabe per Gießkannenprinzip“.

Zunächst einmal regelt der Gesetzesentwurf zwar nur die Kostenübernahme und greift damit nicht automatisch in die Therapie ein. Ein Blick in die Gesetzesbegründung zeigt aber, dass das BMG durchaus auf höhere Verordnungszahlen abzielt. Nach den Plänen könnten so in den nächsten Jahren bis zu zwei Millionen Menschen mehr ein Rezept für ein Statin erhalten. Ist das eine gute Idee?

Wie hoch ist das Herz-Kreislauf-Risiko?

Statine sind Medikamente, die die Produktion von Cholesterin im Körper hemmen und nachweislich das Risiko für Herzinfarkte, Schlaganfälle oder Todesfälle durch solche Ereignisse senken. Wie groß der Nutzen ausfällt, hängt aber auch entscheidend davon ab, wie groß das individuelle Risiko überhaupt ist.

In der Fachwelt ist unstrittig: Bei einer Vorerkrankung wie einer koronaren Herzkrankheit ist das Risiko für Herzinfarkte oder Schlaganfälle deutlich erhöht. Gleiches gilt auch, wenn Menschen bereits solche Komplikationen erlebt haben. Deshalb empfehlen Ärzt*innen allen diesen Menschen in der Regel, ein Statin einzunehmen.

Auch wenn noch keine Vorerkrankungen bestehen, kann das Risiko für einen Herzinfarkt oder Schlaganfall erhöht sein. Wie hoch es genau ist, können Ärzt*innen mithilfe von Risikorechnern bestimmen (siehe Kasten). In die Berechnung gehen mehrere Faktoren ein, oft gehören dazu Alter, Geschlecht, Blutdruck, Cholesterinwerte, Übergewicht, Rauchverhalten und Erkrankungen wie Diabetes. Erst, wenn die Gesamtabschätzung eine bestimmte Schwelle überschreitet, empfehlen Mediziner*innen ein Statin.

Bisher übernahmen die gesetzlichen Krankenkassen die Kosten für die Statin-Behandlung nur, wenn bei Menschen ohne bisherige Erkrankung das Risiko für einen Herzinfarkt oder ein anderes negatives Herz-Kreislauf-Ereignis in den nächsten zehn Jahren bei 20 Prozent oder mehr lag. In begründeten Einzelfällen konnten auch bei niedrigerem Risiko Statine verschrieben werden – immer vorausgesetzt, dass Lebensstil-Änderungen wie etwa ein Rauchstopp allein nicht ausreichen. Das legt eine Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) fest, der über Leistungen der gesetzlichen Krankenkassen entscheidet.

Der neue Gesetzesentwurf sieht nun vor, dass diese Schwelle deutlich sinken soll: Bei Menschen bis 50 Jahre sollen die Krankenkassen Statine auch schon bei einem Risiko von 7,5 Prozent bezahlen. Bei 50- bis 70-Jährigen muss eine Schwelle von 10 Prozent erreicht werden, bei Menschen ab 70 Jahren von 15 Prozent. Wie kommt das BMG auf diese Zahlen? Und warum entscheidet es überhaupt darüber und nicht der G-BA, der dafür zuständig ist?

Was sagen Leitlinien?

Die Grenzwerte im Gesetzesentwurf liegen im Bereich von aktuellen Leitlinien-Empfehlungen aus anderen Ländern (siehe Kasten). Diese hatten die Grenzwerte in den letzten Jahren deutlich gesenkt. Bedeutet das also, dass die bisherige G-BA-Richtlinie zu zurückhaltend ist?

Vieles spricht dafür – nicht zuletzt ein Beschluss, den der G-BA selbst Ende Juni, kurz nach der Veröffentlichung des Gesetzesentwurfs, fällte: Danach soll die Richtlinie demnächst deutlich niedrigere Grenzwerte für die Verordnungsfähigkeit von Statinen enthalten. Ob es 7,5 Prozent oder 10 Prozent werden, ist allerdings noch nicht abschließend geklärt.

Nutzen und Risiken individuell abwägen

Also doch Statine mit der Gießkanne verteilen? Ob Patient*innen von Statinen profitieren ist eine andere Frage als die, ob Krankenkassen die Kosten übernehmen. Und: „Ob Statine verordnet werden, ist Gegenstand der gemeinsamen und individuellen Entscheidungsfindung von Ärztin und Patientin“, sagt Martin Scherer, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin.

Bei einer solchen gemeinsamen Entscheidungsfindung (Shared Decision Making) spielen verschiedene Aspekte eine Rolle. Dabei sind mögliche Nebenwirkungen zu beachten und die Frage, wie groß der Nutzen eigentlich genau ist. Und das kann sehr unterschiedlich sein, je nachdem wie hoch das individuelle Risiko ist.

Anhand der Evidenzanalyse der USPSTF lässt sich das veranschaulichen. So schätzt das Gremium, dass mit Statinen das Risiko für einen Herzinfarkt relativ um etwa 33 Prozent sinkt. Konkret bedeutet das hochgerechnet:

  • Liegt das 10-Jahres-Risiko bei 7,5 Prozent, sinkt es mit Statinen auf etwa 5 Prozent. Statt 75 von 1.000 Personen bekommen dann nur noch 50 von 1000 einen Herzinfarkt. Bei 25 von 1.000 schützen dann die Statine davor.
  • Bei einem 10-Jahres-Risiko von 20 Prozent senken Statine das Risiko auf etwa 13,5 Prozent. Statt 200 von 1.000 Personen bekommen dann nur noch 135 von 1.000 einen Herzinfarkt. Umgerechnet etwa 65 von 1000 Personen bleibt damit ein Herzinfarkt erspart.

Statine nützen Menschen mit einem höheren Risiko also mehr. Ob der erreichbare Nutzen die möglichen Nebenwirkungen und die langjährige Tabletteneinnahme aufwiegen, müssen Betroffene selbst gemeinsam mit Arzt oder Ärztin abwägen. Was der Bundesgesundheitsminister dazu denkt, spielt dabei keine Rolle.

Gesundheitspolitischer Scherbenhaufen

Inhaltlich ist der Gesetzesentwurf des BMG hinsichtlich der Verordnungsfähigkeit der Statine also nicht skandalös und bedeutet nicht automatisch, dass jetzt alle solche Medikamente einnehmen müssen. Trotzdem gibt es mit dem Entwurf noch einige andere Probleme:

Zum einen sollen die gesetzlichen Krankenkassen die zusätzlichen Kosten, die durch Mehrverordnung der Statine anfallen, auf die vorgeschriebenen Ausgaben für Prävention anrechnen dürfen. Dazu zählen Gesundheitskurse, etwa zur Förderung von Bewegung oder zum Stressabbau. In diesem Bereich dürften dann die rund 90 Millionen Euro pro Jahr fehlen, die der Gesetzesentwurf für die Medikamentenkosten schätzt. Zum Vergleich: 2022 gaben die gesetzlichen Krankenkassen rund 590 Millionen Euro für Prävention aus. Wenn die Kassen das Budget nicht anpassen, würden die Ausgaben für Statine davon etwa 15 Prozent verbrauchen. Damit lässt sich die Befürchtung „Pillen statt Prävention“ also nicht ganz von der Hand weisen.

Und zum anderen greift das Ministerium (mal wieder) in eine Kompetenz ein, die eigentlich beim G-BA liegt. Laut Auskunft der G-BA-Geschäftsstelle wusste das BMG auch, dass der G-BA plant, die Richtlinie zu ändern. Allerdings wird das neue Gesetz höherrangig sein als Richtlinien des G-BA und damit auch die dort geplanten Änderungen aushebeln.

Hier liegt der Verdacht nah, dass es Bundesgesundheitsminister Lauterbach beim G-BA wieder mal nicht schnell genug ging – wie es auch bereits beim Krankenhaus-Transparenzgesetz der Fall war, das Arbeiten des G-BA an einem Qualitätsportal ein Ende bereitete. Und das Gesunde-Herz-Gesetz hält bei noch mehr Themen Spannungspotenzial bereit: Denn auch die im Gesetz vorgesehene Früherkennung bei Kindern und Jugendlichen auf Fettstoffwechselstörungen steht im G-BA gerade auf der Tagesordnung.

Wie die Regelungen des BMG zustande gekommen sind, lässt sich durchaus kritisch diskutieren. So scheinen die Bestimmungen im Gesundes-Herz-Gesetz vor allem durch Beratung mit Expert*innen entstanden zu sein, deren Identität und Berufungsverfahren nicht klar ist. Zum Vergleich: Im G-BA gibt es eine Geschäftsordnung, vor Beschlüssen lässt der G-BA umfangreiche Studienanalysen anfertigen und die Datengrundlagen der Entscheidungen und Abwägungsgründe werden veröffentlicht. Das ist deutlich transparenter.

Und ein weiterer Aspekt ist bedenklich: Denn der Gesetzentwurf rüttelt deutlich an den Säulen einer evidenzbasierten Gesundheitsversorgung. Zur geplanten erweiterten Gesundheitsuntersuchung verweist der Gesetzesentwurf ausdrücklich darauf, dass dafür zwei grundlegende Prinzipien nicht gelten sollen, die das Sozialgesetzbuch V für neue medizinische Leistungen eigentlich vorsieht: Ihr Nutzen muss belegt sein und sie müssen wirtschaftlich sein.

Von politisch unklug bis gesundheitsgefährdend

Dass sich ein Bundesgesundheitsminister mit der Selbstverwaltung anlegt, die durchaus ihre Probleme hat, kann gelegentlich notwendig sein, auch wenn es nicht immer politisch klug ist. Daraus aber ein Prinzip zu machen, birgt die Gefahr, sich in gesundheitspolitische Grabenkämpfe zu verstricken, von denen niemand profitiert. Zumal sich Karl Lauterbach, bevor er Bundesgesundheitsminister wurde, früher explizit dagegen ausgesprochen hat, dass „der Minister selbst über Kassenleistungen entscheiden kann“ – darauf weist der G-BA in einer Stellungnahme hin.

Sich über grundlegende Regelungen der Gesundheitsversorgung hinwegzusetzen, um ein Lieblingsthema voranzubringen, ist allerdings nicht nur aktionistisch, sondern sogar äußerst bedenklich – zumal Karl Lauterbach nicht müde wird, bei jeder sich bietenden Gelegenheit darauf hinzuweisen, wie wichtig ihm die evidenzbasierte Medizin ist. Deren Grundprinzip: Prüfen, was zu Nutzen und Risiken bekannt ist. Wenn eine solche gründliche Prüfung zugunsten ministerieller Alleingänge entfällt, droht Schaden für Patient*innen. Falls der Bundesgesundheitsminister eine sinnvolle Stelle für Aktionismus sucht: Die evidenzbasierte Medizin in der Gesundheitspolitik konsequent und transparent umzusetzen, wäre doch auch mal ein schönes Herzensprojekt.

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