- RiffReporter /
- Wissen /
Herzinfarkt und Schlaganfall verhindern: Streit um Ideen zu erweiterter Früherkennung
Weniger Herzinfarkte, länger leben: Dazu einfach häufiger Cholesterinwerte messen?
Warum Medizin und Public Health die Pläne aus dem Bundesgesundheitsministerium für mehr Früherkennung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen kritisieren

Im Oktober zirkulierte in medizinischen Fachkreisen ein Impulspapier aus dem Bundesgesundheitsministerium (BMG). Danach belasten die vielen Herz-Kreislauf-Erkrankungen das Gesundheitssystem in Deutschland. Auch sterben hierzulande Menschen häufiger daran als in anderen westlichen Industrienationen.
Deshalb schlägt das BMG vier Maßnahmen-Pakete vor. Sie sollen die Behandlung von Menschen mit chronischen Herz-Kreislauf-Erkrankungen in Therapieprogrammen (Disease-Management-Programmen) verbessern, aber auch dazu beitragen, dass Menschen weniger Nikotin konsumieren. Zwei der angedachten Maßnahmen-Pakete zielen darauf ab, die Früherkennung bei Kindern und Jugendlichen sowie Erwachsenen zu verbessern. Das soll helfen, Krankheiten möglichst früh zu behandeln und damit Komplikationen wie Herzinfarkte oder Schlaganfälle vorzubeugen. Einen entsprechenden Gesetzesentwurf will Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach demnächst vorlegen.
Das klingt erst einmal nach einem guten Plan. Allerdings gibt es inzwischen eine Reihe von öffentlichen Stellungnahmen, in denen Fachleute vor allem zwei Aspekte kritisieren: wie das Impulspapier Prävention versteht und welche konkreten Maßnahmen zur Früherkennung es vorschlägt.
Echte Prävention oder Vorbeugemedizin?
Schon der allgemeine Fokus des Ideenpapiers, das vor allem medizinische Prävention bei einzelnen Personen in den Blick nimmt, wird kontrovers diskutiert. Die gleiche Debatte entzündete sich bereits, als Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach seine Pläne für ein „Bundesinstitut für Prävention und Aufklärung in der Medizin“ vorstellte.
„Viele Ursachen für Krankheit und Tod liegen nicht im unmittelbaren Einflussbereich des medizinischen Versorgungssystems, sondern in gesundheitsschädlichen Umwelt- und Lebensbedingungen, die auch das Gesundheitsverhalten wesentlich bestimmen“, kommentierte die Deutsche Gesellschaft für Public Health. Entsprechend weist die Deutsche Gesellschaft für Öffentliches Gesundheitswesen darauf hin, dass Prävention nicht nur auf den Einzelnen, sondern auch auf die Lebenswelt abzielen solle – dass also zum Beispiel ein gesunder Lebensstil auch in Kindergärten, Schulen und Betrieben gefördert werden muss.
Die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) verweist in einer Stellungnahme zum Impulspapier auf effektive Maßnahmen, um auf einer systemischen Ebene das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu senken. Dazu gehören etwa ein Werbeverbot für Tabakprodukte oder ungesunde Lebensmittel oder sogar eine Zuckersteuer.
Pläne für erweiterte Check-Ups
In der Kritik stehen zudem zusätzliche Untersuchungen, die das Impulspapier vorschlägt. Zum Beispiel eine Früherkennung auf familiär bedingte Störungen des Fettstoffwechsels bei allen 5-Jährigen im Rahmen der U9-Untersuchung, aber auch mehr Untersuchungsangebote für Menschen, bei denen bisher keine Herz-Kreislauf-Erkrankungen bekannt ist. Das BMG will zusätzliche Gesundheitsuntersuchungen in Arztpraxen einführen, auch schon für Menschen ab 25 Jahren. Außerdem sollen Menschen im Vorfeld in Apotheken kostenlos ihren Blutdruck, Blutzucker und Cholesterinwert messen lassen können.
Aktuell können gesetzlich Versicherte zur Früherkennung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen am Check-up 35 teilnehmen: alle drei Jahre ab einem Alter von 35 Jahren, vorher einmalig, wenn man mindestens 18 Jahre alt ist. Arzt oder Ärztin messen dabei unter anderem den Blutdruck, ab 35 Jahren auch Blutzucker und Cholesterinwerte. Bei jüngeren Menschen wird letzteres nur gemacht, wenn sie ein erhöhtes Risiko haben, etwa bei sehr starkem Übergewicht oder bekannten Erkrankungen in der Familie.
Zusätzlich sollen Arzt und Ärztin auch die Patient:innen individuell beraten, etwa wie sie sich ernähren oder bewegen sollten, um Herz-Kreislauf-Erkrankungen vorzubeugen. Die gesetzlichen Krankenkassen übernehmen für individuelle Kurse zu diesen Themen teilweise die Kosten, wenn die Anbieter ihre Kurse bei einer zentralen Prüfstelle zertifizieren lassen.
Welche Früherkennung ist eigentlich sinnvoll?
Die derzeitige Form des Check-up 35 steht aber auch in der Kritik. So bemängeln Allgemeinmediziner:innen etwa, dass in Arztpraxen zu viel gemessen, aber zu wenig beraten werde. Patient:innen wissen dann immer noch nicht genug darüber, wie sie selbst Risiken verringern können. Auch sei zu wenig im Blick, dass bestimmte Faktoren, etwa ein mäßig erhöhter Cholesterinspiegel, in verschiedenen Altersgruppen unterschiedlich wichtig seien. Was solche Messwerte bedeuten, hänge auch davon ab, ob weitere Risikofaktoren vorliegen. Noch dazu sei nicht für alle vorgesehenen Untersuchungen ausreichend belegt, dass sie tatsächlich nützen. Wie gut etwa das Testen des Urins mit Teststreifen hilft, Nierenerkrankungen frühzeitig zu erkennen, ist umstritten.
Erreichen die Früherkennungsuntersuchungen die Zielgruppen mit dem höchsten Risiko, wenn der Check-up so erweitert wird, wie es das Ideenpapier vorschlägt? Medizinische Fachleute bezweifeln das. „Die vorgeschlagenen Maßnahmen zielen […] überwiegend auf Kinder und Jugendliche sowie Erwachsene mit eher seltener beziehungsweise geringer Risikoerhöhung“, heißt es im Statement der DEGAM.
Außerdem sei es wissenschaftlich nicht solide nachgewiesen, ob alle vorgeschlagenen Untersuchungen Herz-Kreislauf-Erkrankungen und damit auch die Todesfälle im gewünschten Ausmaß verhindern. So hat das US-amerikanische Gremium für Präventionsfragen USPSTF kürzlich festgestellt, dass es zu Nutzen und Risiken eines flächendeckenden Screenings von Kindern mit Blutuntersuchungen auf familiär bedingte Stoffwechselstörungen zu wenig verlässliche Daten gibt. Untersuchungen auf erhöhte Blutzuckerwerte, um einen Diabetes festzustellen, werden in den USA in der Regel nur für übergewichtige Menschen ab 35 empfohlen. Das entspricht der Idee, solche Untersuchungen nicht allen, sondern nur denjenigen anzubieten, die tatsächlich ein erhöhtes Risiko haben. Das Risiko für eine Herz-Kreislauf-Erkrankung lässt sich im Allgemeinen auch nicht über einzelne Werte, sondern nur über eine gemeinsame Betrachtung verschiedener Faktoren abschätzen.
Mehr Belastung für das Gesundheitswesen
Die DEGAM warnt, dass mit den Ideen das Risiko einer Über- und Fehlversorgung steige. Auch werde die Belastung der Praxen zunehmen: „Es muss immer das Risiko in Rechnung gestellt werden, dass durch zusätzliche präventive Angebote die Ressource ärztliche Arbeitszeit für kranke Personen nicht mehr zur Verfügung stehen könnte“, heißt es im DEGAM-Statement. Kritisch sieht der Bundesvorsitzende des Hausärztinnen- und Hausärzte-Verbands Markus Beier in diesem Zusammenhang, dass zusätzlich in Apotheken Blutwerte gemessen werden sollen: „Folge wird eine hohe Zahl auffälliger Befunde sein, die dann wiederum für viel Verunsicherung und Andrang in den Praxen sorgen.“
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach hofft, durch mehr Prävention und Früherkennung die Kosten für Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu senken. Die DEGAM befürchtet jedoch einen gegenteiligen Effekt der Maßnahmen: „Sie werden in der Summe zusätzlich die Kosten steigern und die Kosteneffektivität unseres Systems noch weiter verschlechtern.“