Das Gegenteil von Rechtspopulismus ist Denken in den Dimensionen des Anthropozäns

In hysterischen Zeiten kann die Idee den Blick auf das Wesentliche richten

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Darstellung der Erde auf der Meereströme eingezeichnet sind.

Seit Brexit, EU-Rechtspopulisten und US-Präsident Donald Trump die politischen Energien des Westens binden, sind es nicht langfristige, sondern sehr kurzfristige Fragen und Probleme, mit denen die Gesellschaften und ihre Politiker beschäftigt sind. So hat Bundeskanzlerin Angela Merkel einen erheblichen Teil des bisherigen Jahres damit verbracht, mit ihrem Koalitionspartner CSU um die Flüchtlingspolitik zu ringen, obwohl es gar keine zweite krisenhafte Zuspitzung wie im Jahr 2015 gab.

Merkel versucht immer wieder, politische Gegenakzente zur Flüchtlingsdebatte zu setzen und Gespräche über die Zukunft der Künstlichen Intelligenz oder zu globalen Umweltfragen zu initiieren – nur um damit im politischen Klima unserer Zeit als beinahe exotisch dazustehen und dann – zack – von der CSU, der AfD und politischen Talkshows die nächste Flüchtlingsdebatte aufgezwungen zu bekommen. Der Kanzlerin ist es noch nicht gelungen, die Fixierung der politisch-medialen Öffentlichkeit auf dieses eine Thema mit mächtigen und überzeugenden Worten zu durchbrechen, die da heißen würden: Wer nur noch über Flüchtlinge und Grenzen redet, verliert wertvolle Zeit, die drängendsten Zukunftsfragen zu lösen – er verliert deshalb vielleicht sogar die Zukunft selbst.

Denken in den Dimensionen einer neuen Erdepoche

Der heftigste Preis des öffentlichen Fokus auf rechtspopulistische Themen besteht nämlich darin, dass die tieferen Zukunftsfragen Deutschlands und Europas viel zu wenig Aufmerksamkeit bekommen: dazu zählen Chancen und Risiken neuer Technologien, der gesellschaftliche Zusammenhalt, die Modernisierung von Städten und ländlichen Regionen, europäische Integration, die Pflege der wachsenden Zahl älterer Menschen und zeitgemäße Bildung ebenso wie der Klimawandel und Naturverarmung, All diese Themen sind Opfer unserer kollektiven Aufmerksamkeitsstörung. Denn für lautstarke Männer wie Trump, Seehofer, Johnson, Orbán und Gauland zählt nur eine hypersubjektive Obsession: die Chance, mit dem Sündenbock Flüchtlinge und mit nationalistischer Nostalgie Ängste und Hysterie zu erzeugen und diese politisch abzuschöpfen.

Als Gegengift für diese rechtspopulistische Hysterie bietet sich ein Denkrahmen an, der aus der Naturwissenschaft stammt. Er fasst die großen Herausforderungen unserer Zeit, die globale Verbundenheit aller Menschen und die langfristigen Folgen unseres Tuns in ein Wort: Anthropozän.

Geprägt vor 18 Jahren vom in Mainz lebenden Chemie-Nobelpreisträger Paul Crutzen, bringt der Begriff einen neuen Blick auf unsere Welt zum Ausdruck: Was wir heute tun oder lassen, spielt laut Anthropozän-Idee in erdgeschichtlichen Dimensionen. Neue und alte Technologien, Klimawandel, Biodiversitätsverlust, industrielle Landwirtschaft, das Wachstum der Menschheit vor allem in Städten und viele Faktoren mehr – sie verändern die Erde so tiefgreifend und so langfristig, dass dies nur in den Dimensionen einer neuen Erdedoche zu fassen ist.

Die Aufklärung selbst steht zur Disposition

Eine Arbeitsgruppe von Geologen prüft seit einigen Jahren, ob unsere Erdepoche wirklich von Holozän in Anthropozän umbenannt werden soll. Aber was hat das mit unserer politischen Gegenwart zu tun?

Man könnte sagen, es gebe gerade ganz andere Probleme als die Frage, ob man in ferner Zukunft noch geologische Spuren unseres heutigen Lebens finden wird, ob Plastikmüll oder Elektroschrott bis dahin zu neuen Sedimenten und Fossilien geworden sind. Man könnte die ganze Anthropozän-Diskussion abtun mit dem Hinweis, das Denken in großen, geologischen Zeitskalen sei angesichts akuter Ereignisse vollends abstrakt und lebensfern.