„Die Wissenschaft ist richtig verstanden kein Eliteunternehmen“

Der Wissenschaftshistoriker Jürgen Renn leitet ein neues Max-Planck-Institut in Jena, das die Wechselwirkungen von Mensch und Biosphäre im Anthropozän erforschen soll. Es geht grundsätzlich um die Frage, was Wissen heute eigentlich ist. Ein Interview

13 Minuten
Renn, ein mittelalter Mann mit schwarzen Haaren, lehnt im Anzug gekleidet an einer Kiefer und lächelt

Der Wissenschaftshistoriker Jürgen Renn fordert in seinem neuen Buch „Die Evolution des Wissens" ein Umdenken in der Wissenschaft. Sie soll endlich Denkgrenzen der Disziplinen überwinden und sich aktiv den existenziellen Herausforderungen des Anthropozäns stellen. In Jena leitet Renn seit kurzem ein neu aufgestelltes Max-Planck-Institut für Geoanthropologie, das diesen Prozess unterstützt. Im Interview erzählt Renn, wie eine Wissenschaft aussehen sollte, die der krisenbeladenen Zeit gerecht wird.

Herr Renn, Ende des Jahres will eine Gruppe von Wissenschaftlern entscheiden, welcher Ort auf der Erde das Anthropozän, die neue Erdepoche des Menschen, repräsentieren soll. Danach ist der Weg frei, das aktuelle Holozän für beendet zu erklären. Was würde sich mit einer Anerkennung ändern?

Mit einer offiziellen Anerkennung des Anthropozäns als geologischer Erdepoche wäre das Anthropozän unwiderruflich in der Wissenschaft verankert. Das gälte zuerst einmal für die Naturwissenschaft, würde aber auch in den Geistes- und Sozialwissenschaften dafür sorgen, dass das Anthropozän kein Modebegriff wird, der wieder verschwindet. Wir hätten eine solidere Basis. Es bliebe aber auch nach einer Anerkennung sehr viel offen.

An was denken Sie da?

Wie wir überhaupt ins Anthropozän geraten sind, was die Triebkräfte für diese im Wortsinn epochalen Veränderungen auf der Erde sind, wie dynamisch die Entwicklung verläuft, welche Eingriffe wir vornehmen müssen, um die CO2-Emissionen gegen Null zu bringen oder die Artenvielfalt zu bewahren. Das sind eigentlich für Forschung, Politik und auch unseren Alltag die zentraleren und wichtigeren Fragen.

Wissen Sie noch, was Ihnen durch den Kopf ging, als Sie das Wort Anthropozän zum ersten Mal gehört haben?

Ich war auf den großen Effekt, den dieser Begriff bei vielen hat, eigentlich ganz gut vorbereitet. Wir hatten uns am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte damals schon intensiv mit der Globalisierung und der Globalgeschichte des Wissens auseinandergesetzt. Durch ein gemeinsames Projekt mit dem Haus der Kulturen der Welt in Berlin rückte der Anthropozänbegriff allmählich ins Zentrum unserer Arbeit.

Und dann?

Hat sich fundamental etwas an meinem Blick auf die Welt geändert. Es geht beim Anthropozän darum, völlig neu über das Verhältnis von Kultur und Natur nachzudenken. Das, was wir jetzt Mensch-Erde-System nennen, ist etwas grundsätzlich Neues.

Inwiefern?

In einer evolutionären Perspektive geht es darum, dass wir Menschen uns als Teil der Biosphäre entwickelt haben, wir aber jetzt selbst eine neue Erdsphäre geschaffen haben, die auch als Technosphäre angesprochen wird. Diese Entwicklung und ihre Konsequenzen gilt es erstmal zu verstehen.

Hat sich auch Ihr Blick auf die Wissenschaft verändert?

Was wir heute schon als Ballung von Krisen erleben, könnte erst der Anfang sein.

Jürgen Renn, Wissenschaftshistoriker

Durchaus. Die Herausforderungen des Anthropozäns machen nicht an Disziplingrenzen halt. Wir müssen deshalb die Fragmentierung der Disziplinen überwinden und bereit sein, Prioritäten neu zu setzen. Deshalb arbeiten wir mit Wissenschaftlern aus allen Fachrichtungen, aber auch Künstlern, NGOs und vielen anderen zusammen, etwa im Rahmen der „Anthropozän Campus Events", die wir seit mehr als einem Jahrzehnt gemeinsam mit dem Haus der Kulturen der Welt und unseren anderen Projektpartnern an vielen Orten der Welt veranstaltet haben.

Ist das Anthropozän-Konzept eher etwas für wissenschaftliche Feinschmecker oder erleben Sie, dass es Menschen auch außerhalb der Wissenschaft anspricht?

Das Anthropozän steht für eine globale Herausforderung der Menschheit. Klimawandel, Artensterben, Umweltzerstörung und Pandemien hängen vielfältig miteinander und mit der expansiven Dynamik industrialisierter Gesellschaften zusammen. Diese Zusammenhänge zu verstehen, ist eine Überlebensfrage und wird auch außerhalb der Wissenschaft zunehmend so verstanden. Auch in den Anthropozän Campus Events, ob am Mississippi, in Venedig oder in Südkorea haben sich Menschen mit ihren lokalen Perspektiven eingebracht. Das Anthropozän bringt Lokales und Globales zusammen, es könnte der Beginn eines neuen globalen Verantwortungsbewusstseins sein.

Was meinen Sie damit?

Wir erleben ja gerade, wie nicht nur Diskurse, sondern ganze Gesellschaften sich zersplittern. Innerhalb kleiner Lager erzählt man sich so seine Geschichten, egal wie irrational sie sein mögen, und pocht auf unverrückbare Identitäten. Die Idee des Anthropozäns dagegen ist global angelegt und beruht auf vielfältigen wissenschaftlichen Einsichten und den Erfahrungen von Menschen, die überall auf der Welt mit Extremereignissen oder Umweltkatstrophen konfrontiert sind. Das Anthropozän ist damit eine Art Realitätsprinzip der Menschheit.

Wie sieht es mit der Politik aus, kommt das Anthropozän dort an?

Weltweit haben Politiker, wie in Deutschland etwa Kanzlerin Merkel, den Begriff genutzt, um auf den globalen Charakter und die Zusammenhänge der gegenwärtigen Veränderungen hinzuweisen. Aber wenn man sich anschaut, wie schnell uns zur Lösung der gewaltigen Umweltkrisen die Zeit davonläuft und wie die Politik aktuell reagiert, dann muss ich sagen, nein, die Dimension davon, was es heißt, dass wir jetzt im Anthropozän die Erde langfristig verändern und zugleich etwa bei Klima und Biodiversität unglaublich schnell handeln müssen – das scheint in der Politik noch nicht überall angekommen zu sein.

Regierungen in aller Welt sind derzeit eher damit beschäftigt, akute Krisen zu bekämpfen.

Kurzfristiges Reagieren ist der modus operandi, der sich dringend ändern muss, hin zu einem langfristigeren Denken. Sonst werden wir immer schneller von einer Krise zur nächsten springen. Was wir heute schon als Ballung von Krisen erleben, könnte erst der Anfang sein.

Das neu aufgestellte Max-Planck-Institut in Jena, das Sie seit dem Sommer leiten, heißt nicht Institut für Anthropozänforschung, sondern Institut für Geoanthropologie. Warum?

Wir wollten mit dem Namen deutlich machen, dass die Wissenschaft vom Anthropozän eine neue, transdisziplinäre Herangehensweise braucht. Uns geht es darum, damit einen neuen Zugang zum Verständnis des Anthropozäns zu entwickeln.

Inwiefern?

Anthropozänforschung wird an vielen Orten betrieben. Die Stratigraphen tun das, wenn sie die neuen, vom Menschen verursachten geologischen Schichten untersuchen, Klimaforscher betreiben ebenso Anthropozänforschung wie die Geisteswissenschaftler, die sich auf diesen Begriff eingelassen haben. Mit der Geoanthropologie richten wir den Fokus auf die dynamischen Wechselwirkungen zwischen der Menschheit und dem Erdsystem.

Aber Erdsystemforschung ist ja an sich nichts Neues.

Ja, aber hier geht es um die Erforschung des gekoppelten Mensch-Erde-Systems. Wir wollen neue koevolutionäre Modelle entwickeln, die es uns erlauben, den Zusammenhang zwischen der Erdsystemdynamik und der Dynamik menschlicher Gesellschaften besser zu verstehen und dabei gleichzeitig soziale, kulturelle und ökonomische Fragestellungen stärker in die Erdsystemforschung zu integrieren. Mein Ehrgeiz mit diesem Institut ist es, dazu Perspektiven aus den Natur-, den Sozial- und den Geisteswissenschaften zusammenzubringen.

Max-Planck-Institute sind in der Regel strikt einer von drei Sektionen zugeordnet, der Geistes-, Sozial- und Humanwissenschaftlichen Sektion, der Chemisch-Physikalisch-Technischen oder der Biologisch-Medizinischen Sektion, Ihres dagegen gehört zu allen drei Sektionen zugleich. Was hat es damit auf sich?

Das ist ein Unikum, aber essenziell für das Gelingen. Das Anthropozän betrifft ja die physikalischen Erdsphären ebenso wie die Biosphäre und die von Menschen gemachte Technosphäre.

Was werden die Forschungsschwerpunkte sein?

Die Evolution des Wissens hat uns ins Anthropozän katapultiert. Heute müssen wir sie umsteuern.

Jürgen Renn, Wissenschaftshistoriker

Wir werden fünf Abteilungen aufbauen, die gemeinsam an den großen Fragen des Anthropozäns arbeiten werden: In einer historischen Abteilung, die ich leite, wird es um den Strukturwandel der Technosphäre gehen, etwa durch die Große Beschleunigung nach dem Zweiten Weltkrieg. Eine Archäologieabteilung wird sich mit Fragen der Mensch-Umwelt-Wechselwirkung, etwa den Ursachen des Zusammenbruchs früher Gesellschaften befassen. Eine Abteilung für evolutionäre Erdsystemwissenschaft wird sich der Entwicklung von Modellen des Mensch-Erde Systems widmen, eine weitere Abteilung den durch Menschen bewirkten Veränderungen der Biosphäre, etwa durch Landnutzung und Industrialisierung. In der fünften Abteilung stehen politische und ökonomische Fragen im Zentrum.

Der letzte Versuch der Max-Planck-Gesellschaft, sich so interdisziplinär aufzustellen, war das Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt in Starnberg mit den Direktoren Carl Friedrich von Weizsäcker und Jürgen Habermas. Es ist spektakulär gescheitert. Ein abschreckendes Beispiel?

Das Institut war ein Pionierunternehmen, es hat in den rund zehn Jahren seiner Existenz wichtige Impulse gegeben. Das Institut gilt als Misserfolg, aber ich finde gar nicht, dass es das war. Es hat einige Ideen in die Welt gesetzt, die bis heute fruchtbar sind.

Ihr Institut hieß bis vor kurzen Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte, und da hat es auf besondere Weise gemenschelt. Es gab eine heftige Kontroverse um den angeblich autoritären Führungsstil der Direktorin Nicole Boivin, die ihrerseits eine Kampagne gegen sie als Frau witterte. Der Fall ging vor Gericht. Wie ist der aktuelle Stand?

Frau Boivin ist nicht mehr Direktorin am Institut, aber leitet eine Forschergruppe. Andere Forschungsrichtungen werden heute in Leipzig am Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie fortgesetzt, wiederum andere, die zum neuen Konzept passen, in der archäologischen Abteilung in Jena.

Kritiker warfen der Max-Planck-Gesellschaft in einem offenen Brief vor, strenger mit Frauen ins Gericht zu gehen als mit Männern, und insgesamt „ein Frauenproblem” zu haben, wie der frühere Vizepräsident Herbert Jäckle sagte. Wie beurteilen Sie das?

Ich kann das nicht bestätigen. Die zuständigen Gremien haben sich wirklich intensiv mit dem Fall befasst und ich sehe keinen Grund, an ihrer Objektivität zu zweifeln.

Also gibt es aus Ihrer Sicht kein „Frauenproblem”?

Es gibt eine lange Historie, in der Frauen in der Max-Planck-Gesellschaft dramatisch unterrepräsentiert waren, insbesondere auf der Leitungsebene. Das von mir mitverantwortete Forschungsprogramm zur Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft ist auch diesem Problem nachgegangen und wird dazu demnächst seine Ergebnisse vorlegen. In den letzten Jahren hat es andererseits größte Anstrengungen seitens der Leitung und der gesamten Gesellschaft gegeben, sich diesem Problem zu stellen und alles zu tun, um den Frauenanteil auf allen Ebenen zu erhöhen.

Gebäudefoto, rechts eine alte Villa mit Spitztürmchen, links ein moderner Bau, verbunden durch eine Brücke.
Das neu aufgestellte Max-Planck-Institut für Geoanthropologie in Jena

Auf der Webseite zur Neuaufstellung des Instituts schauen einen jetzt aber drei Männer an.

Die aktuelle Darstellung auf der Website repräsentiert ja nicht die Neuaufstellung, sondern lediglich den Übergang. Zwei dieser Männer haben sich in einer schwierigen Lage und mit einigem Zeitdruck bereit erklärt, für eine Übergangszeit bestimmte Aufgaben zu übernehmen. Dafür bin ich äußerst dankbar. Die nächste Direktorenstelle am Institut wird durch eine Frau besetzt.

In Jena trug im 19. Jahrhundert Ernst Haeckel zum Entstehen der Rassenlehre bei. Ein schweres Erbe für ein Anthropologie-Institut an diesem Standort.

Die Geoanthropologie ist eine neue Wissenschaft, mit diesem Erbe der Anthropologie hat sie ebensowenig zu schaffen wie etwa die Evolutionäre Anthropologie in Leipzig. Dennoch werden wir uns auch mit der problematischen Geschichte der Anthropologie befassen. Zum maßgeblichen spiritus loci in Jena rechne ich jedoch eher Alexander von Humboldt als frühen Erforscher der Auswirkungen menschlicher Eingriffe in die Natur.

Kommen wir zu Ihrem frisch erschienenen Buch, „Die Evolution des Wissens”. Es hat 1070 Seiten – was ist die Kernbotschaft?

Die Evolution des Wissens hat uns ins Anthropozän katapultiert. Heute müssen wir sie umsteuern, um mit den neuen Herausforderungen fertig zu werden. Insbesondere brauchen wir eine neue Wissensökonomie, weg von der Fragmentierung, hin zu mehr Reflexion, Kontext und Synthese. Um die Evolution des Wissens umsteuern zu können, müssen wir aber erst einmal verstehen, wie sie funktioniert. Dazu habe ich Geschichten von den Anfängen der Menschheit bis zur Coronakrise analysiert.

Nach Ihrer Erkundung von Evolution und Geschichte sparen Sie nicht mit Kritik an der modernen Wissenschaft. Sie sei seit dem 19. Jahrhundert in eine „positive Rückkopplungsschleife mit der kapitalistischen Wirtschaftsform” eingetreten.

Die Wissenschaft hat zur Großen Beschleunigung, also dem exponentiellen Anstieg vieler Parameter des Erdsystems und der globalen Gesellschaft beigetragen. Aber sie hat auch kritische Perspektiven eröffnet. Und sie muss sich heute der Frage stellen: Kann sie auch zur notwendigen Entschleunigung beitragen?

Sie kritisieren Ihre eigene Disziplin sehr stark, wenn Sie schreiben, dass der gegenwärtige Mainstream der Wissenschaftsgeschichte kaum etwas zum Überleben der Menschheit im Anthropozän beiträgt, zu der geforderten „umsichtigen Umsetzung wissenschaftsbasierter Lösungen”.

Die Wissenschaftsgeschichte hat sich lange Zeit vor allem mit spezialisierten Fallstudien beschäftigt, aber das reicht für globale Themen mit tiefsitzenden Wurzeln nicht. Deshalb habe ich in meinem Buch versucht, die Mechanismen der globalen Wissensentwicklung zu entschlüsseln und für Antworten auf die Krisen des Anthropozäns nutzbar zu machen.

Die Wissenschaft ist richtig verstanden kein Eliteunternehmen, sondern ein menschliches Gemeinschaftsunternehmen.

Jürgen Renn, Wissenschaftshistoriker

Ist das eine verkappte Aufforderung zum ökologischen Aktivismus?

Ökologisches Engagement ist wichtig, aber als Wissenschaftler haben wir vor allem die Aufgabe der Erkenntnisgewinnung. Wir sollten der Gesellschaft dabei keine fixen Rezepte verschreiben, sondern auf der Grundlage unserer Erkenntnisse Handlungsoptionen aufzeigen. Das werden wir auch am Institut in Jena wahrnehmen.

Um was geht es dann?

Es geht um die großen Zusammenhänge und Transformationsprozesse, von der Energiewende über nachhaltige Ressourcennutzung bis zur Erhaltung der Biodiversität und damit auch der natürlichen Lebensbedingungen. Der Beitrag des Instituts sollte vor allem in Syntheseleistungen bestehen, darin, Daten, Expertise und verschiedene Forschungsansätze zusammenzuführen, um die Gesamtdynamik des gekoppelten Mensch-Erde Systems besser zu verstehen, auch im Hinblick auf die politischen und wirtschaftlichen Machtstrukturen, die diese Dynamik prägen. Nur so können wir verhindern, dass wir, wenn wir ein Problem zu lösen versuchen, zwei neue schaffen.

Die Max-Planck-Gesellschaft ist doch selbst ein exzellentes Beispiel, wie Wissenschaft dazu neigt, das Bündnis mit den Mächtigen zu suchen.

Die Max-Planck-Gesellschaft zeichnet sich vor allem durch ihre Autonomie von politischer und wirtschaftlicher Steuerung aus, durch eine einzigartige Forschungsfreiheit, die sich auch in der Ermöglichung dieser mutigen Neuorientierung erwiesen hat. Ohne die Bewahrung dieser Freiheit werden wir auch die Probleme des Anthropozäns nicht bewältigen können.

Sie setzen auf die Kraft lokalen Wissens statt auf Hightechlösungen?

Wir werden beides brauchen. Die Herausforderungen des Anthropozäns haben globalen Charakter, nehmen aber lokal unterschiedliche Gestalten an. Ein offensichtliches Beispiel ist die dringend notwendige globale Energiewende als Antwort auf den Klimawandel. Dazu brauchen wir einerseits innovative Technologien und Infrastrukturen, andererseits sind die Bedingungen für ihre Implementierung, sowie für die Gewinnung erneuerbarer Energien lokal unterschiedlich, in physikalischer ebenso wie in gesellschaftlicher Hinsicht. Ohne die Einbeziehung lokaler Perspektiven und Interessen kann eine globale Energiewende nicht gelingen.

Welches Idealbild von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern schwebt Ihnen vor?

Ich wünsche mir, neben der fachlichen Qualifikation, die Fähigkeit zur Reflexion, den Blick auf Zusammenhänge und Kontexte, ein Gespür für die wichtige Rolle, die Wissenschaft in den gegenwärtigen Umwälzungen spielt, aber auch ein Bewusstsein ihrer Grenzen. Diese Fähigkeiten kommen in Ausbildung und Studium deutlich zu kurz. Insbesondere in den naturwissenschaftlichen und technischen Fächern brauchen wir mehr Raum für Reflexion. Auch eine Wissenschaftsgeschichte, die sich tief auf die naturwissenschaftlichen Inhalte einlässt, könnte hier eine wichtige Rolle spielen.

Satellitenbild in Fremdfarben, die aus der Landschaft ein Mosaik aus Rosa, Grün, Blau und Rot machen.
Eine stark vom Menschen genutzte Landschaft in Pakistan.

Machen das die Geisteswissenschaft nicht immer?

Die Geisteswissenschaften stehen manchmal zu sehr abseits und kritisieren aus einer Distanz, statt ihr kritisches Potential für neue Perspektiven einzubringen. An unserem Institut in Jena werden sie diese Chance haben.

Wie sehen Sie da Wissenschaftler, die sich etwa auf Twitter in Debatten werfen und versuchen, Evidenz hochzuhalten?

Das ist wichtig, wird aber nicht reichen, solange es in der Gesellschaft kein breiteres Verständnis dafür gibt, was als Evidenz gelten kann und wie die Wissenschaft sie generiert. Wissenschaft ist ein Prozess, der immer nur vorläufige Erkenntnisse liefert. Die meisten realen Probleme fallen überdies nicht in die Zuständigkeit einer einzigen Disziplin. Denken Sie an den Umgang mit der Corona-Pandemie, für den nicht nur die Expertise von Virologen, sondern auch die von Pädagogen und Ökonomen relevant ist. Deshalb wäre es auch in der Kommunikation mit der Öffentlichkeit gut, wenn Wissenschaftler nicht als einsame Rufer dastehen, sondern einen Konsens im Rücken haben.

Wie kann das gelingen?

Ich habe mich über die Jahre mit anderen sehr dafür eingesetzt, dass die Nationalakademie Leopoldina diese Rolle verstärkt übernimmt. Das ist wichtig, denn die andere Seite der Drostens und Rahmstorfs sind ja die Wissenschafter:innen, die still bleiben, weil sie sich einer mitunter aggressiven öffentlichen Debatte nicht aussetzen wollen.

Exponierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erfahren digitalen Hass bis hin zu Morddrohungen. Ist das eine neue Phase für die Wissenschaft?

Ja, da gilt es wachsam zu sein und sich auch gegen die Absender von Hassbotschaften wehren. Aber es geht auch darum, ganz breit in der Gesellschaft eine gewisse Vertrauensbasis zurückzugewinnen. Sonst wird das, was wir jetzt mit den sogenannten Querdenkern erleben, erst der Anfang sein. Denn die Wissenschaft wird uns im Anthropozän weiter mit sehr unangenehmen Zusammenhängen konfrontieren, etwa zwischen unseren Konsumgewohnheiten und katastrophalen Umweltveränderungen.

Was kann zu diesem Vertrauen beitragen?

Dass wir als Wissenschaft nicht so tun, als hätten wir transzendente Wahrheiten zu verkünden, sondern die Öffentlichkeit an unserem Lernprozess teilhaben lassen, auch an Irrtümern, Unwissen, Leerstellen. Und dass Wissenschaft als etwas erlebt wird, das bewusst und auch mit einem Maß an Orientierungswissen der Gesellschaft hilft, durch die großen Umbrüche zu navigieren.

Die Scientists for Future versuchen schon, die Brücke von wissenschaftlichen Erkenntnissen zum konkreten Handeln zu schlagen. Ist das der Weg?

Die Scientists for Future sind enorm wichtig. Die Wissenschaft als Ganzes muss allerdings auch eine viel größere und aktivere Rolle einnehmen und zu dem im Anthropozän nötigen Systemwissen, Transformationswissen und auch Orientierungswissen beitragen. Traditionell haben Religionen und Kunst daran erinnert, dass jeder von uns Teil einer fragilen Lebensgemeinschaft auf diesem Planeten sind, heute ist auch die Wissenschaft zunehmend damit konfrontiert, zu einem solchen Orientierungsrahmen beizutragen.

Was heißt das konkret?

Früher haben kleine Lebensgemeinschaften zum Beispiel Dürren zusammen erfahren. Heute geht es darum, dass ein Bauer in Pakistan, ein Stadtbewohner in Deutschland und eine Indigene in Brasilien solche Erlebnisse gemeinsam mit dem anthropogenen Klimawandel verbinden. Es geht jetzt um eine Menschheitsgemeinschaft, und das Anthropozän ist auch ein säkulares Mittel, die großen Zusammenhänge gemeinsam im Blick zu behalten.

Wissenschaft für alle?

Die Wissenschaft ist richtig verstanden kein Eliteunternehmen, sondern ein menschliches Gemeinschaftsunternehmen. Jeder sollte mitwirken können und durch Wissenschaft in die Lage kommen, seine persönliche Situation mit den globalen Veränderungen verbinden zu können. Darum geht es im Anthropozän.

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