Klimakrise: Physikalisch wären 1,5 Grad noch drin – gesellschaftlich nicht

In einer großen Studie hat der Exzellenzcluster „Klima, Klimawandel und Gesellschaft“ der Universität Hamburg untersucht, wie plausibel es ist, die Paris-Ziele zu erreichen und die Erderwärmung auf maximal 1,5 Grad zu begrenzen. Der Bericht identifiziert Schuldige und Lösungen.

vom Recherche-Kollektiv Klima & Wandel:
7 Minuten
Zwei Hände balancieren ein Brett, auf dem die Erde hin und her rollt.

„Another world is possible!“ – Mit diesem Motto demonstrieren Klimaaktivisten ihre Überzeugung, dass wir die Klimakrise noch stoppen können, bevor die Folgen gänzlich außer Kontrolle geraten. Dazu müsste die Erderwärmung auf 1,5, maximal zwei Grad Celsius gegenüber der vorindustriellen Zeit begrenzt werden. Physikalisch ist das möglich, bestätigt nun eine große Studie des Exzellenzclusters „Klima, Klimawandel und Gesellschaft“ (CLICCS) der Universität Hamburg. Nur gesellschaftlich ist das „nicht plausibel“. Der soziale Wandel ist zu langsam.

Am zweiten „Hamburg Climate Futures Outlook“ haben mehr als zwei Dutzend Forschende zahlreicher Disziplinen mitgewirkt. Anhand von sechs ausgewählten physikalischen und zehn gesellschaftlichen Faktoren haben sie analysiert, wie plausibel es ist, dass diese Faktoren jeweils mit einer weitreichenden Dekarbonisierung bis 2050 und der 1,5-Grad-Grenze vereinbar sind. Das Fazit: Keiner der gesellschaftlichen Faktoren ist auf Kurs. Die Reaktionen der Wirtschaft und die Konsummuster wirken sogar noch immer in die falsche Richtung.

„In allen IPCC-Szenarien erwarten wir, dass in den 2030er Jahren 1,5 Grad überschritten wird, aber in einigen Szenarien wird es wieder runtergehen. Aber IPCC macht keine Aussage: Wie plausibel sind die Szenarien? Ist eines der Szenarien plausibler als andere? “, erläutert Jochem Marotzke vom Max-Planck-Institut für Meteorologie und sowohl Mitautor der CLICCS-Studie als auch des jüngsten IPCC-Berichts. „Wir betrachten das höchste und das niedrigste Szenario als unplausibel – und damit 1,5 Grad.“

Die Rolle der Weltklimakonferenz

Der jüngste Weltklimagipfel hat der Studie zufolge neue Initiativen in den einzelnen wirtschaftlichen Sektoren auf den Weg gebracht, zu Netto-Null-Versprechen geführt sowie zu Plänen, die Kohleverbrennung zu verringern und fossile Energien nicht mehr zu subventionieren. Dennoch sind die Ambitionen der Staaten und ihre Umsetzungsbemühungen „weit entfernt von den Zielen der Paris-Vereinbarung“. Nicht zuletzt vertraut der Globale Süden wenig auf die finanziellen Versprechungen des Nordens. Fazit: positiver Gesamteffekt, aber zu langsam für 2050. Größere Sprünge könnten möglich werden, wenn sich nach einem Ende des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine eine neue internationale Zusammenarbeit formierte. Sollten die Spannungen zwischen den USA und China eskalieren, wäre jedoch auch ein Zusammenbruch der multilateralen Klimaschutzbemühungen der Vereinten Nationen möglich.

Transnationale Initiativen für den Klimaschutz

Einige Städte, Regionen, Branchen und Investoren haben sich in den vergangenen drei Jahren zunehmend für die 1,5-Grad-Grenze eingesetzt und transnationale Kooperationen gegründet. Die Race-to-zero-Kampagne mit dem Ziel, den Ausstoß klimaschädlicher Treibhausgase bis 2050 auf Netto-Null zu senken, hat Tausende nichtstaatlicher Versprechen zur Klimaneutralität hervorgebracht. Wo Initiativen an die Marktlogik gebunden sind, hindert sie jedoch die niedrige und fragmentierte Bepreisung der CO2-Emissionen. Trotz der positiven Effekte auch als Multiplikatoren neuer Narrative sieht die Studie diesen gesellschaftlichen Faktor nicht auf Paris-Kurs.

Klimagesetzgebung in Verzug

Mit dem EU Green Deal und dem Fit-for-55-Programm gibt es in Europa wichtige Impulse für eine Gesetzgebung, die die Dekarbonisierung vorantreiben kann, heißt es in der Studie. Doch die Regularien sind zu wenig ambitioniert, haben starken Gegenwind infolge gestiegener Energiepreise und werden viel zu langsam implementiert. Hoffnung macht die Klimarechtsprechung, die Regierungen künftig vielleicht auf Kurs bringen wird.

Energiepreise beeinträchtigen die Klimaschutzbewegung

Kurzfristig räumt die Studie der Klimaschutzbewegung nur geringe Einflüsse auf die Dekarbonisierung ein. Langfristig hat sie große Bedeutung, weil sie die öffentliche Wahrnehmung verändert: Sie liefert Ideen, Normen und Visionen. Außerdem stellt sie eine wachsende Gruppe da, deren Nachfrage für Unternehmen Anreize setzt, aus fossilen Energien auszusteigen. Doch auch hier bremsen die gestiegenen Energiepreise die breite Mobilisierung und Unterstützung.

Klimarechtsprechung birgt Potenzial

Die Fachleute halten es für plausibel, dass die Klimarechtsprechung zukünftig noch bedeutsamer wird. Die rechtlichen, wissenschaftlichen und soziopolitischen Grundlagen dafür sind zuletzt gestärkt worden. Es gibt erste Präzedenzfälle und internationale juristische Netzwerke, die ihre Erfahrungen und ihr Wissen austauschen. Die Berichterstattung über entsprechende Urteile beeinflusst klimabezogene Narrative. Die Studie bezweifelt dennoch, dass die Rechtsprechung bislang ausreicht, um die globale Gesellschaft bis 2050 klimaneutral werden zu lassen.

Unternehmenspolitik ist weiter katastrophal

Das Verhalten der Wirtschaft treibt den Klimawandel, statt ihn zu stoppen. Marktbasierte Entwicklungen gewichten die Dekarbonisierung viel zu niedrig. Nur ein kleiner Teil der Unternehmen unterstützt Initiativen wie die Science Based Target Initiative oder Race to Zero. Die Mehrzahl der Firmen reagiert auf die globale Herausforderung unangemessen. Das könnte sich ändern, so die Autor:innen der Studie, wenn sich die Konsummuster Richtung Klimaneutralität verschieben und Firmen dem Druck der Verbraucher:innen folgen.

Desinvestitionen aus fossilen Energien schreiten voran

Investoren fordern zunehmend Transparenz und ziehen sich aus fossilen Energien zurück. Der Markt für grüne und nicht-fossile Finanzprodukte wächst. Dennoch sind Investitionen in fossile Energien zumindest kurzfristig noch sehr profitabel, nicht zuletzt weil viele Länder sie weiterhin subventionieren, berichtet die Studie. Unklar ist, ob die russische Invasion die Bestrebungen von Regierungen verstärkt, von fossilen Energien unabhängig zu werden.

Konsummuster blockieren die Dekarbonisierung

„Die gegenwärtigen weltweiten Konsummuster unterwandern substanziell die gesellschaftliche Dynamik und die globalen Bemühungen um eine weitreichende Dekarbonisierung“, schreiben die Autor:innen der Studie. Deutlicher kann man nicht mit dem Finger auf einen Schuldigen zeigen. Die wenigen Verbesserungen in Richtung emissionsärmerer Produkte werden durch die wachsende Nachfrage zunichte gemacht. Größten Anteil daran haben wohlhabende Konsument:innen. Außerdem fehlen Mechanismen, um CO2-arme Konsumstandards herbeizuführen. Dabei ist der Faktor Konsummuster besonders bedeutsam, weil an ihm das Verhalten der Wirtschaft und der Investoren hängt.

Medien arbeiten noch immer durchwachsen

Positiv hebt die Studie den Trend zu transformativem Journalismus hervor. Problematisch sind jedoch oftmals politisch konservative Medien und eher auf sozialen Medien präsente Randmedien mit einer wissenschaftsfeindlichen Agenda. Außerdem zeigen Medien eine schwankende Aufmerksamkeit, besonders in Zeiten der Pandemie und des russischen Angriffskrieges.

Klimawissen muss breiter integriert werden

Immer mehr Wissen über den Klimawandel wird generiert und bereitgestellt. Dennoch wird es zu wenig in die unterschiedlichen Kontexte einbezogen und das Thema Dekarbonisierung unzureichend in die Bildung integriert. Problematisch ist zudem der Fokus auf technologische Lösungen, wo soziale Veränderungen erforderlich sind.

Ein Mann steht an einer Küste, von der ein Stück abgebrochen ist.
Der Permafrostboden wie hier in Alaska taut seit Jahrzehnten. Er könnte ein Kipppunkt im Klimasystem werden.

Tauender Permafrost ist kaum Paris-relevant

Seit drei bis fünf Jahrzehnten tauen die arktischen Permafrostböden. Bis 2050 könnten dadurch Mengen an Treibhausgasen freigesetzt werden, wie sie die Menschheit derzeit in einem Jahr verursacht. Für das Paris-Ziel hat dieser Faktor daher einen mäßigen Einfluss. Die Autor:innen warnen jedoch, dass Permafrostböden im Laufe dieses Jahrhunderts einen Kipppunkt erreichen könnten. Doch selbst in einem Worst-Case-Szenario wären die so freigesetzten Methanemissionen deutlich geringer als der plausible Rückgang der menschengemachten Methanemissionen in diesem Zeitraum.

Arktisches Meereis geht weiter zurück

Das arktische Meereis wird weiter zurückgehen. Das hat der Studie zufolge jedoch kaum Einfluss auf die Paris-Ziele. Weil der Meereisverlust linear mit der Temperatur ansteigt, sind im 21. Jahrhundert keine Kipppunkte zu erwarten. Dennoch bedroht die Entwicklung Menschen und Tiere in der Arktis.

Der polare Eismantel ist ein möglicher Kipppunkt

Der polare Eismantel schmilzt immer schneller. Während das die globale Durchschnittstemperatur praktisch nicht beeinflusst, beeinträchtigt es jedoch die globale Meereszirkulation. Oberhalb einer bestimmten Temperatur gelten dramatische Veränderungen und Meeresspiegelanstiege als sehr wahrscheinlich. Letztere werden Millionen Menschen zwingen, aus ihrer Heimat zu emigrieren.

Die Atlantische Umwälzströmung ändert Klima und Wetter

Fachleute gehen davon aus, dass die Erderwärmung die Atlantische Umwälzströmung AMOC schwächen wird. Beim letzten Weltklimabericht waren die Daten dazu noch widersprüchlich, doch zuletzt mehrten sich entsprechende Hinweise. Strömt von Norden zu viel Süßwasser ins Meer, weil das Eis dort schmilzt, könnte die Umwälzströmung sogar zusammenbrechen. Der Weltklimarat war sich zuletzt relativ sicher, dass dies nicht in diesem Jahrhundert passieren wird. Doch bereits eine schwächere Umwälzströmung verändert global die Niederschlagsmuster. Zudem können die Meere dann weniger Wärme und CO2 aus der Atmosphäre speichern.

Der Amazonas-Regenwald muss erhalten werden

Veränderte Niederschlagsmuster, mehr Wetterextreme und längere Waldbrandsaisons setzen dem Amazonas-Regenwald zu. Mehr jedoch schadet der Mensch dem Wald direkt durch Abholzung und Brandrodung für Agrarflächen. Ein Zusammenbruch des gesamten Ökosystems sei plausibel und könnte die Fläche in eine Steppe verwandeln, warnt die Studie. Um Kohlendioxid zu binden, sei es daher weit wichtiger, den Wald zu erhalten als neue Bäume zu pflanzen. Sollte der Abholzungstrend sich fortsetzen, würden aus dem Amazonas-Regenwald bis 2050 sieben Milliarden Tonnen Kohlenstoff zusätzlich freigesetzt.

Regional sind Konsequenzen schon früher drastisch

Selbst wenn die Klimaschutzziele erreicht würden, könnten einzelne Regionen der Erde dramatische Folgen erleben, heißt es in der Studie. Noch nie dagewesene Wetterextreme könnten eintreten, die möglicherweise erhebliche sozio-ökonomische Konsequenzen hätten.

1,5-Grad-Grenze ist weiter nicht plausibel

„Fakt ist: Die gefürchteten Kipppunkte könnten die Rahmenbedingungen für das Leben auf der Erde drastisch verändern – für das Erreichen der Pariser Klimaziele sind sie aber zunächst ohne Belang“, ordnet Marotzke die Ergebnisse zu den physikalischen Faktoren ein. Mit Blick auf die gesamte Studie resümiert CLICCS-Sprecherin Anita Engels: „Tatsächlich kommt in Sachen Klimaschutz einiges in Bewegung. Schaut man sich die Entwicklung der sozialen Prozesse aber im Detail an, ist es nach wie vor nicht plausibel, dass die globale Erwärmung unter 1,5 Grad gehalten werden kann.“ Die notwendige umfassende Dekarbonisierung verlaufe einfach zu langsam. „Die Weichen müssen in diesem Jahrzehnt gestellt werden.“ Oder mit der Antwort Marotzkes auf die Frage, ob wir das 1,5-Grad-Ziel verpasst haben: „Ja. Weitermachen.“

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