Interview zur Europawahl: Steht uns ein Kurswechsel in der Klimapolitik bevor?

Am 9. Juni ist Europawahl. Was hat die EU in Sachen Klimapolitik bislang erreicht? Was würde ein Rechtsruck für den Klimaschutz bedeuten? Und: Wie geht es mit dem European Green Deal weiter? Ein Gespräch mit dem Klimaexperten Felix Schenuit.

vom Recherche-Kollektiv Countdown Earth:
7 Minuten
Auf einem Wahlzettel liegt eine kleine Europaflagge aus Papier.

Dieser Artikel ist Teil unserer Recherche-Serie „Countdown Earth: So lösen wir die Klima- und Artenkrise“.

Der europäische Green Deal ist das Vorzeigeprojekt von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Er trat 2019 in Kraft und hat ein ambitioniertes Ziel: Bis 2050 soll die EU klimaneutral sein. Politikwissenschaftler und Klimaexperte Felix Schenuit von der Stiftung Wissenschaft und Politik erklärt im Interview, wie weit wir sind, warum der Klimawandel im Wahlkampf zur EU-Wahl am 9. Juni nicht im Fokus steht und warum ein Rechtsruck in der EU den Klimaschutz gefährden könnte.

Der Green Deal wird fünf Jahre alt. Was wurde erreicht?

Die europäische Klimapolitik wurde weiterentwickelt und auch die Ziele sind ehrgeiziger geworden. Ein konkretes Beispiel ist das europäische Klimaschutzgesetz, das festlegt, wie stark die Emissionen in diesem Jahrzehnt im Vergleich zu 1990 gesenkt werden sollen. Bisher waren es vierzig Prozent – jetzt sind es 55 Prozent. Das Ziel, bis 2050 EU-weit Netto-Null-Treibhausgasemissionen zu erreichen, wurde ebenfalls gesetzlich verankert. Das ist jetzt rechtlich bindend und stellt einen der großen Fortschritte in der europäischen Klimapolitik dar. Mit dem Paket „Fit für 55“ wurde das 2030-Ziel in allen Säulen der Klimapolitik, etwa im europäischen Emissionshandel und im Landnutzungssektor, umgesetzt. Für mich ist das zunächst einmal eine positive Bilanz, weil es trotz der politischen Krisen gelungen ist, die erforderlichen Mehrheiten für diese Entscheidungen zu erlangen.

In den vergangenen Monaten wurden aber auch klima- und umweltpolitische Bemühungen zurückgestellt: Das Pestizidgesetz wurde aufgehoben, das Renaturierungsgesetz abgeschwächt, die Umweltauflagen für die Bauern gelockert. Das klingt doch eher nach Rückschritt?

Das stimmt. Wo es Schnittstellen zur Landwirtschaft gibt, war es besonders schwer, Mehrheiten zu finden. Und jetzt zum Ende der Legislatur war die Kompromissbereitschaft auch spürbar aufgebraucht. Das war sowohl im Europäischen Parlament wie auch zwischen Mitgliedstaaten zu beobachten. Entscheidend ist aber, dass der Kern der klimapolitischen Architektur davon nicht betroffen ist. Die Klimaziele wurden nicht angefasst. Zumindest kurzfristig sehe ich keine Gefahr für einen kompletten Rollback (Anmerkung der Redaktion: Rückschritt oder auch Kurswechsel) für die klimapolitischen Ambitionen des Green Deal.

Waren die europaweiten Proteste der Landwirte auch Grund dafür, dass so viele Gesetz abgeschwächt wurden?

Gerade das Renaturierungsgesetz war von Anfang sehr kontrovers. Vor allem in der Europäischen Volkspartei (EVP) hat es für viele Diskussionen gesorgt – auch schon bevor die Proteste der Landwirte so groß waren. Die Schnittstelle zwischen Landwirtschaft und Klimapolitik war in Brüssel immer schon umstritten und wird es bleiben. Die „Gemeinsame Agrarpolitik“ (GAP) läuft noch bis 2027 und muss weiterentwickelt werden. Das wird eine der zentralen Herausforderung für die nächste Europäische Kommission sein: strukturiert voranzutreiben, wie Klimapolitik auch in diesem kritischen Bereich mitgedacht werden kann, ohne den gesellschaftlichen Rückhalt zu verlieren.

Der Chef der Europäischen Volkspartei EVP, Manfred Weber, hat angekündigt, das Verbrennerverbot, das ab 2035 gelten wird, abschaffen zu wollen. Sehen Sie das als weitere Kehrtwende in Sachen Klimaschutz?

Mein Eindruck ist, dass diese Forderung vor allem in Deutschland sehr präsent ist. Das sogenannte Verbrennerverbot lässt sich aber nur zurücknehmen, wenn es dafür im Europäischen Parlament und unter den Mitgliedstaaten entsprechende Mehrheiten gibt. Ob das gelingt, bleibt offen. Eine komplette Rücknahme wäre jedenfalls ein recht umfangreicher Gesetzgebungsprozess.

Ein Porträtbild eines Mannes mit Brille und rötlichen Haaren. Er lächelt in die Kamera und trägt ein blaues Hemd, darüber einen schwarzen Sakko.
Politikwissenschaftler Felix Schenuit von der Stiftung Wissenschaft und Politik.

Ursula von der Leyen, selbst in der EVP, hat das Versprechen eines klimaneutralen Kontinents maßgeblich vorangetrieben. Woher kommt also die Idee von der Aufhebung des Verbrennerverbots?

Es gibt definitiv eine gewisse Spannung zwischen der Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mit ihrer ehrgeizigen Klimapolitik und einigen Teilen ihrer eigenen Partei. Die EVP ist – wie auch die anderen Parteien – kein einheitlicher Akteur. Es gibt verschiedene Strömungen und Interessen. Grundsätzlich hat die EVP jedoch bei allen wichtigen Dossiers der Klimapolitik mitgestimmt. Sie war also Teil der Mehrheit und hat die Rechtsakte maßgeblich mitgestaltet. Natürlich steuern wir jetzt auch auf eine Wahl zu und in dieser Zeit versuchen Parteien, ihre Unterschiede deutlich zu machen. Ich denke, der Vorstoß zum Verbrennerverbot ist Teil dieser Bemühungen.

Im Wahlkampf und in den Parteiprogrammen scheinen Klimafragen und der Green Deal keine besonders große Rolle zu spielen. Hat sich der Fokus der politischen Debatte verschoben?

Ja, das ist ganz sicher so. Die Europawahl von 2019 wurde sogar als „Klimawahl“ bezeichnet. Das war auf dem Höhepunkt der Proteste von Fridays for Future. Jetzt sind andere Themen im Fokus, zum Beispiel die Wettbewerbsfähigkeit und Resilienz der europäischen Industrie. Wichtig ist: Die Klimapolitik bis 2030 ist bereits gesetzlich verankert; Handlungsbedarf und Interventionspunkte bestehen in den nächsten 5 Jahren vor allem für die Klimapolitik ab 2030. Auch wenn das Thema Klima im Wahlkampf weniger prominent vorkommt, wird daran in der Kommission weiter intensiv gearbeitet.

Was würde es für den Klima- und Umweltschutz bedeuten, wenn rechtspopulistische Parteien bei der Europawahl weiter an Einfluss gewinnen?

Wenn wir uns die Projektionen für die Europawahl anschauen, dann sehen wir, dass der rechte Rand weiter wächst. Er war 2019 schon sehr stark und wird jetzt noch stärker. Politisch ist aber die Frage wichtiger: Werden sie es schaffen, eine gemeinsame Fraktion zu bilden? Die Parteien am rechten Rand sind seit jeher sehr fragmentiert. Und das gilt auch für die Klimapolitik. Rechte Parteien zeigen oft eine skeptische Haltung gegenüber der Klimapolitik, aber es gibt ein breites Spektrum von Ansichten darüber, was genau unterstützt oder abgelehnt wird. Eine weitere wichtige Frage ist, ob die nächste Europäische Kommission im Alltag Brüsseler Verhandlungen teilweise auf den rechten Rand angewiesen sein wird, um eine Mehrheit für ihre politischen Ziele zu erreichen.

Können Sie das genauer erklären?

Es ist wichtig, über das weitere Erstarken des rechten Randes zu sprechen. Es ist aber noch wichtiger darüber nachzudenken, was das konkret für Abstimmungen bedeuten würde. Je stärker die rechten Parteien abschneiden und je größer die Fraktion ist, zu der sie sich zusammenfinden, desto größer wird ihr potenzieller Einfluss bei klimapolitischen Entscheidungen sein. Ein kompletter Rollback des Green Deals wäre ein komplexer Prozess und würde viele Mehrheitsentscheidungen erfordern, zu denen die anderen Parteien nicht bereit sind. Deshalb sehe ich kurzfristig nur einen begrenzten Einfluss, den ein stärker werdender rechter Rand auf die Klimapolitik haben könnte. Aber gleichzeitig gilt: Je stärker die rechten Parteien kooperieren, desto einflussreicher können sie in der Gestaltung der Klimapolitik für die Dekade 2030 bis 2040 sein.

Können Sie eine Prognose wagen, wie die Europawahl ausgehen wird?

Ich kann mich nur an den aktuellen Projektionen orientieren. Dort sieht man, dass die Europäische Volkspartei (EVP) aller Voraussicht nach die größte Partei bleiben wird. Danach folgen die Sozialdemokraten und darauf mit recht großem Abstand die anderen, enger beieinander liegenden Fraktionen. Die tatsächlichen Implikationen des Ergebnisses können wir aber erst abschätzen, wenn wir wissen, wie sich die nationalen Parteien im Nachhinein zusammenschließen. Das ist ein wichtiger Teil der Machtpolitik nach den Europawahlen. In Hinblick auf die Klimapolitik ist die entscheidende Frage: Gibt es weiterhin robuste Mehrheiten für ambitionierte Klimapolitik.

Inwiefern?

Der Green Deal wurde bisher vor allem von der EVP, den Sozialdemokraten, den Grünen und Renew, also den Liberalen, maßgeblich unterstützt. Nach den bisherigen Projektionen zur Europawahl hätten sie rein rechnerisch auch weiterhin eine Mehrheit, könnten also gemeinsam Klimapolitik machen. Entscheidend wäre dann aber, wie die Diskussionen in diesen Fraktionen verlaufen – und ob sie Mehrheiten für eine ambitionierte Klimapolitik finden. Das würde von der Kompromissbereitschaft der vier Parteien abhängen, insbesondere wenn es um kritische Bereiche wie Landwirtschaft und Industriepolitik geht. Die Frage ist, ob und wie sie mit der Klimapolitik in Einklang gebracht werden können, um den Green Deal umzusetzen. Meiner Ansicht nach ist die inhaltliche Frage nach diesen möglichen Kompromisslinien genauso wichtig wie die Frage, was der rechte Rand macht.

Welche klimapolitischen Maßnahmen stehen als Erstes für die neue Kommission an?

Die neue Kommission hat gleich eine große Aufgabe vor sich, weil sie die Klimapolitik ab 2031 fortschreiben muss. Es geht also darum, das Klimaziel für 2040 zu verhandeln und einen entsprechenden konkreten Legislativvorschlag zur Änderung des Klimaschutzgesetzes vorlegen. Ein Vorschlag, der den gesamten Gesetzgebungsprozess durchlaufen muss und auf den voraussichtlich 2026 ein neues Gesetzgebungspaket folgt. Wir werden vermutlich sehr schnell sehen, wie robust die Mehrheiten im Parlament sind. Zunächst anhand des 2040-Ziels und anschließend in den Abstimmungen über die Politikinstrumente wie zum Beispiel den Emissionshandel.

Was sind neben dem 2040-Ziel die nächsten großen Baustellen in der zweiten Phase des Green Deals für die neue Kommission?

Es rücken vor allem zwei Sektoren in den Fokus: die sogenannten schwer vermeidbaren Emissionen in der Landwirtschaft und in der Industrie. In der aktuellen Diskussion sehen wir bereits Forderungen nach einem Green Industrial Deal. Er soll eine industriepolitische Antwort auf Initiativen wie den Inflation Reduction Act (IRA) in den USA (Anmerkung der Redaktion: Ein milliardenschweres Investitionsprogramm, das darauf abzielt, den Klimaschutz zu fördern und eine Neuausrichtung der US-amerikanischen Wirtschaft hin zu erneuerbaren Energien sowie umfassende steuerliche Neuregelungen zu ermöglichen) und ähnliche Maßnahmen in anderen Ländern finden. Die zweite große Baustelle ist die Landwirtschaft. Hier stellt sich die Frage, wie man Emissionen in diesem politisch sensiblen Sektor bepreisen und senken kann.

Es wird oft kritisiert, dass die EU sozial benachteiligte Privathaushalte und sehr kleine Unternehmen auf dem Weg zur Klimaneutralität nicht genug unterstützt. An welchen Lösungen wird hier gearbeitet?

In ersten Schritten wurde im Green Deal diese soziale Dimension schon berücksichtigt. So wurde ja zum Beispiel der Klimasozialfonds ins Leben gerufen, um finanzielle Belastungen der CO2-Bepreisung abzufedern. Aber es gibt auch die Kritik, dass dieses Instrument zu schwach ist, einerseits, weil die Mittel zu knapp bemessen sind, aber auch in Hinblick auf die Implementierung. Die übergeordnete Frage ist hier – wie auch bei vielen anderen europäischen Beschlüssen im Rahmen des Green Deal: Werden die Mitgliedstaaten die Maßnahmen so umsetzen, wie sie auf europäischer Ebene beschlossen wurden? Von dieser Frage hängt der Erfolg europäischer Klimapolitik maßgeblich ab.

„Die Recherchen zu diesem Beitrag wurden gefördert von der HERING-Stiftung Natur und Mensch.“

VGWort Pixel