Der Schatten der Pandemie: Warum wir Arbeit neu denken müssen

Hat die Corona-Pandemie Frauen in traditionelle Rollen zurückgeworfen? Es spricht viel dafür – auch, weil Care-Arbeit immer noch systematisch abgewertet wird. Aber so muss es nicht bleiben. Die ZukunftsReporter-Serie.

vom Recherche-Kollektiv die ZukunftsReporter:
15 Minuten
Das Bild zeigt den Schatten einer Frau mit einem Kind an der Hand, andere Menschen stehen am Bildrand. In der Pandemie kümmerten sich vor allem Frauen um die Kinderbetreuung.

Es waren große Hoffnungen am Anfang der Pandemie: Könnte Corona zu einem Umdenken in der Gesellschaft führen, zu einer Neubewertung von Arbeit, zu mehr Gleichberechtigung? Im ersten Lockdown mussten sich plötzlich auch die ins Homeoffice verbannten Väter um Mittagessen und Homeschooling kümmern. Die Verkäuferin, die Pflegerin, die Erzieherinnen in der Notbetreuung waren plötzlich die Heldinnen des Alltags. Endlich wurde offenbar, was die Gesellschaft sonst ignoriert: Kneipen können schließen, Firmen die Produktion herunterfahren, aber Kranke, pflegebedürftige Menschen, Kinder müssen weiter versorgt werden – egal ob Pandemie ist oder nicht. Care-Arbeit rückte all die vielen Aufgaben in den Fokus der Aufmerksamkeit, die Tag für Tag anfallen, die meistens von Frauen erledigt werden, die wir als Gesellschaft so dringend brauchen und gleichzeitig so gering bewerten.

Liebe statt Lohn

Sich um andere Menschen zu kümmern, sie zu pflegen, zu versorgen, zu erziehen, ihnen emotional beizustehen – diese Fähigkeiten wurden und werden selbstverständlich Frauen zugesprochen. Die Zuschreibung hat ihren Ursprung im 19. Jahrhundert. Im Zuge der Industrialisierung kam es zur klaren Trennung zwischen der öffentlichen Sphäre der Erwerbsarbeit und der privaten Sphäre der Familienarbeit. Männern wurde der Bereich der bezahlten Erwerbsarbeit zugesprochen, Frauen die Familienarbeit und der Haushalt. Dieser galt seitdem nicht mehr als Arbeit, vielmehr wurde behauptet, Frauen widmeten sich diesen Tätigkeiten aus Liebe, wie Forscherïnnen der Universität Hamburg im Film „Wie arbeiten und leben wir? Und was hat das mit Geschlecht zu tun“ aufzeigen. Diese systematische Abwertung von Care-Arbeit ist ein wesentlicher Grund, warum zwischen Frauen und Männern in Deutschland nach wie vor eine große Kluft besteht.

Wo Deutschland scheitert

Laut dem Global Gender Gap Report 2021 steht Deutschland in Sachen Gleichstellung auf Rang 11 von 156 Ländern. Obwohl es gelang, die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern innerhalb der vergangenen 15 Jahre zu verringern, rutschte Deutschland in der Rangliste ab, weil andere Länder weit erfolgreicher waren, Frauen und Männer auf eine Stufe zu stellen. Der Blick auf das Ranking in einzelnen Kriterien zeigt, wo es besonders klemmt. Wirtschaftliche Teilhabe: Rang 62, Lohngerechtigkeit: Platz 97.

Der Gender Pay Gap – der Lohnunterschied zwischen Mann und Frau – verharrt bei 18 Prozent. Ein zentraler Grund für den geringeren Verdienst ist, dass Frauen familienbedingt längere Job-Auszeiten nehmen und öfter Teilzeit arbeiten, um Kinder und pflegebedürftige Angehörige zu versorgen. Frauen verdienen im Laufe ihres Erwerbslebens mit rund 830.000 Euro nur etwa halb so viel wie Männer. Ihre Rente liegt um die Hälfte niedriger, ihre Armutsquote im Alter um neun Prozent höher als bei Männern. Das zeigt: Frauen sind in Deutschland finanziell deutlich schlechter gestellt. Dabei arbeiten sie nicht weniger.

Nimmt man Erwerbsarbeit, Haushalt und Kinderbetreuung zusammen, arbeiten Männer wie Frauen an Wochentagen etwa gleich viel, nur die Art der Tätigkeit unterscheidet sich deutlich. Grob gesagt gilt noch immer: Der Mann geht Vollzeit arbeiten, die Frau hat einen Teilzeitjob und kümmert sich um Haushalt, Kinder, Pflege. Frauen leisten täglich anderthalbmal mehr unbezahlte Sorgearbeit als Männer, haben sie kleine Kinder, ist es sogar mehr als doppelt so viel. Diese Lücke – der Gender Care Gap – ist in den vergangenen 20 Jahren nur moderat geschrumpft, was erstaunt, weil Frauen und Mütter immer häufiger erwerbstätig sind. Das heißt: Sie gehen nicht nur x Stunden ihrem Job nach, sondern erledigen die Hausarbeit und Kinderbetreuung noch irgendwie nebenher. Diese Sorgearbeit wird weder gesehen noch entlohnt.

Der Wert von Arbeit

„Die nicht bezahlte Care-Arbeit in privaten Haushalten bildet die Basis unseres Wirtschaftssystems“, sagt die Ökonomin Uta Meier-Gräwe, die am Ersten und Zweiten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung mitgearbeitet hat. Die klassisch männliche Erwerbsbiografie, 40-Stunden-Vollzeit, ohne Unterbrechungen, funktioniere nur, weil sich eine andere (in der Regel weibliche) Person um die Versorgung der Kinder, die Pflege von Angehörigen, die Einkäufe und den Haushalt kümmert. In Deutschland wird Jahr für Jahr 35 Prozent mehr unbezahlte als bezahlte Arbeit geleistet, hat das Statistische Bundesamt schon vor Jahren errechnet. „Das entspricht immerhin 39 Prozent der im Bruttoinlandsprodukt enthaltenen gesamten Bruttowertschöpfung von Staat und Wirtschaft in Deutschland“, so Meier-Gräwe.

Doch bisher werden Menschen bestraft, die beruflich kürzertreten, um Care-Arbeit zu leisten. Ökonomen sprechen von einem „unterbrechungsbedingten Humankapitalverlust“, der im Moment vor allem Frauen trifft.

Auch professionelle Care-Arbeit wird systematisch abgewertet. Hier ist die berufliche Belastung oft hoch, die Bezahlung aber gering. Krankenpflegerinnen, Altenpflegerinnen, Erzieherinnen – sie alle verdienen weniger als Beschäftigte in gleichwertigen Berufen. Es sind Tätigkeiten, die ihren Ursprung im Privaten haben, die traditionell Frauen zugesprochen werden und die nicht wie andere Berufe professionalisiert wurden, stellt der Zweite Gleichstellungsbericht fest. Frei nach dem Motto: Kinder betreuen, Alte versorgen, das können Frauen qua Geschlecht, dafür braucht es weder Expertise noch anständigen Lohn.

Zurück in alte Rollen

Die Corona-Pandemie war die Chance, an diesen Verhältnissen etwas zu ändern. Jetzt, nach zwei Jahren, ist die Ernüchterung groß. Jutta Allmendinger, Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung, warnte schon zu Beginn der Pandemie vor einer Re-Traditionalisierung und vor einem Rückschritt in der Gleichberechtigung. Sie sieht sich durch die aktuellen Entwicklungen bestätigt: Die meisten Väter arbeiten wieder in gewohnter Vollzeit, während Mütter angesichts der vielen Corona-Unwägbarkeiten (Schule zu, Schule auf, Wechselunterricht, Quarantäne) ihre Arbeitszeiten sogar weiter reduzierten, damit sie auf Abruf das Kind zu Hause betreuen können. Die Belastung in den Krankenhäusern und Pflegeheimen ist so groß, dass viele Pflegekräfte die Segel streichen. Statt die Pflegeberufe nachhaltig aufzuwerten, gibt es unwürdige Diskussionen um Bonuszahlungen. Pflegende Angehörige wurden in den langen Pandemie-Monaten gänzlich vergessen.

Daran ließe sich viel ändern, wenn Care-Arbeit endlich den Stellenwert in der Gesellschaft zugesprochen bekäme, den sie verdient. „Es gilt, Produktion und Reproduktion, Beruf und Privatleben zusammen zu denken“, fordern Sascha Verlan und Almut Schnerring in ihrem Buch „Equal Care“.

Wie könnten Lösungen aussehen? Was müssen wir jetzt tun, damit Frauen in Zukunft nicht mehr zwischen Beruf und Familie zerrieben werden und Männer Zeit für Care-Arbeit haben? Wie können Care-Berufe die Anerkennung erfahren, die sie verdienen? Welche Rolle spielt die Wirtschaft, wie könnte der Staat steuern? Die ZukunftsReporter gehen in vier Zukunftsszenarien diesen Fragen nach.

Teil 1: Mütter in der Familienfalle: Führt das Elterngeld zu mehr Gleichberechtigung?

Teil 2: Die Wirtschaft profitiert von Pflege, Kindererziehung, Hausarbeit: Soll sie auch dafür zahlen?

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