Lucys Vorfahren zeigen ihr Gesicht

Ein spektakulärer Schädelfund aus Äthiopien enthüllt, wie Australopithecus anamensis aussah

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Das Bild zeigt das rekonstruierte Gesicht des Vormenschen Australopithecus anamensis, das wie ein Mischwesen zwischen Affe und Mensch aussah. Die Rekonstruktion hat der Paläo-Artist John Gurche vorgenommen

Bevor der Mensch die Erdenbühne betrat, lebten in Afrika sogenannte Vormenschen: die Australopithecinen. Dank eines neuen Fossils wissen die Forscher jetzt, wie die älteste Art von ihnen aussah, und versuchen ihre Verwandtschaft zu der weltbekannten „Lucy“ zu klären

Den 10. Februar 2016 wird der Urmenschenforscher Yohannes Haile-Selassie vom Cleveland Museum of Natural History wohl niemals vergessen. An diesem Tag entdeckt einer seiner Mitarbeiter an der Grabungsstelle Miro Dora in Äthiopien einen versteinerten Oberkiefer. Das Fossil muss aus grauer Vorzeit stammen, denn es liegt an der Oberfläche von Sedimenten, die mehr als drei Millionen Jahre alt sind. Die Wissenschaftler hoffen, da könne noch mehr verborgen sein und graben nach. Tatsächlich fördern sie schließlich einen nahezu vollständigen Schädel zutage – ein extrem seltener Fund.

Abgebildet ist die Frontalansicht des 3,8 Millionen Jahre alten Schädels von Australopithecus anamensis. Der Schädel offenbart ein Wesen mit kräftig gebauten Augenhöhlen und ausladenden Wangenknochen. Einen derart vollständigen Schädel eines Vormenschen haben die Forscher bislang selten gefunden
Der 3,8 Millionen Jahre alte Schädel von Australopithecus anamensis ist so komplett wie wenig andere vormenschliche Fossilien. Bemerkenswert sind die kräftig gebauten Augenhöhlen und die ausladenden Wangenknochen

„Ich habe meinen Augen nicht getraut, als ich den Rest des Schädels erblickte“, wird Haile-Selassie später sagen. „Es war ein Heureka-Moment; ein Traum wurde wahr“. Schon seit 2004 jagen die Paläoanthropologen dort im Bezirk Mille in der äthiopischen Wüstenregion Afar nach menschlichen Ahnen. Bereits 12.600 fossile Bruchstücke haben sie gefunden – die meisten von Tieren, aber auch 230 Relikte menschlicher Vorfahren. Doch niemals enthüllten sie etwas so Spektakuläres wie jetzt. Die Grabungsstelle liegt rund 550 Kilometer nordöstlich der Hauptstadt Addis Abeba. Nur 55 Kilometer weiter südlich wurde im Jahr 1974 die berühmte Vormenschendame „Lucy“ gefunden.

Zu sehen ist der Paläoanthropologe Yohannes Haile-Selassie, der den neu entdeckten Schädel an der Grabungsstelle Miro Dora in den Händen hält. Wie wichtig das Fossil für die menschliche Evolution ist, wird Haile-Selassie schon bald darauf klar.
Der Paläoanthropologe Yohannes Haile-Selassie erkennt, dass der gefundene Schädel ein wichtiges Puzzleteil der menschlichen Evolution ist

Die Entdeckung von Lucy warf damals ein völlig neues Licht auf die Urgeschichte des Menschen. Denn sie bewies: Schon lange bevor es eigentliche Menschen der Gattung Homo gab, bevölkerten sogenannte Vormenschen die Savannen Afrikas. Es waren Wesen, die bereits aufrecht auf zwei Beinen liefen, aber noch ein bescheidenes Gehirn besaßen, das kaum größer war als das eines Schimpansen. Lucy lebte vor rund 3,3 Millionen Jahren und gehört zur Art Australopithecus afarensis. 1994 war eine weitere, noch ältere Art entdeckt worden, die vor rund vier Millionen Jahren existierte und womöglich Vorfahr von Lucy ist: Australopithecus anamensis – bislang nur durch spärliche Funde von Zähnen, Teilen von Ober- und Unterkiefern, Schädelbruchstücken und wenigen Extremitätenknochen dokumentiert.

Eine jahrelange Untersuchung beginnt

Haile-Selassie wird klar, dass es sich bei dem neuen Fund um einen Verwandten Lucys handeln muss, vielleicht um eben jenen Australopithecus anamensis, der noch so rätselhaft ist. Doch drei Jahre vergehen, in denen die Forscher das Alter der umgebenden Sedimente und damit auch das des Schädels bestimmen, in denen sie den Fund sorgfältig analysieren und mit anderen Fossilien vergleichen. Dann, Ende August 2019, veröffentlicht die renommierte Wissenschaftszeitschrift „Nature“ ihre Ergebnisse, und die haben es in sich.

Abgebildet ist die seitliche Ansicht des Schädelfossils von Australopithecus anamensis: Kräftig gebaut waren Kiefer und Zähne des Vormenschen, doch besaß er nur ein kleines Gehirn und sein Schädel war schmal und länglich.
Das Gehirn von Australopithecus anamensis war eher von bescheidener Größe, lässt der längliche, schmale Schädel erkennen. Kräftig gebaut waren dagegen Kiefer und Zähne

Das Wesen gehört eindeutig der Art Australopithecus anamensis an und lebte vor 3,8 Millionen Jahren im Gebiet der heutigen Afar-Region Äthiopiens. Die Beschaffenheit des Oberkiefers und eines Eckzahns seien ausschlaggebend dafür gewesen, den Schädel dieser Art zuzuordnen, sagt Stephanie Melillo vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig, die an der Analyse mitwirkte.

Untersuchungen der Sedimente und von winzigen biologischen Überresten durch US-Forscher enthüllen zudem einiges über die Umwelt des Vormenschen. Er lebte damals offenbar in der Gegend eines Deltas an einer Stelle, an der ein aus dem äthiopischen Hochland kommender Fluss in einen See mündete. Die Vegetation bestand aus eher trockener Busch- oder Graslandschaft, aber es gab auch bewaldete Flächen am See und entlang des Flusses.

Entscheidend an dem neuen Schädelfund ist aber, dass die Paläoanthropologen nun der Art Australopithecus anamensis erstmals ein Gesicht geben und sie genauer beschreiben können. Der renommierte amerikanische Paläo-Artist John Gurche, der bereits viele menschliche Ahnen lebensecht rekonstruiert hat, wird beauftragt, anhand des Schädelfossils einen lebensechten Kopf des Vormenschen zu modellieren. Heraus kommt das eindrucksvolle Porträt eines Wesens in der Mitte zwischen Affe und Mensch (siehe Foto).

Die Rekonstruktion von Australopithecus anamensis zeigt ein behaartes, äffisches Wesen mit einem bewussten, menschlich wirkenden Blick.  Erstmals ließ sich das Gesicht dieses Vormenschen modellieren – anhand eines kürzlich entdeckten Schädelfossils.
Anhand des neuen Schädelfossils ließ sich erstmals das Gesicht eines Australopithecus anamensis modellieren

Der Schädel offenbart primitive sowie moderne Eigenheiten

Für die Paläoanthropologen ist die einzigartige Mischung von Merkmalen des Schädels hochinteressant: Manches wirkt primitiv und erinnert an noch ältere Vormenschenarten – etwa die vorstehenden Kiefer, der relativ große Eckzahn und der längliche, schmale Schädel, der nur einem kleinen Hirn Raum bot. Anderes dagegen gemahnt an jüngere Vormenschen wie die Lucy-Art Australopithecus afarensis – etwa die Form der Augenhöhle oder der Wangenknochen.

Somit könnte A. anamensis gut eine Übergangsform zwischen älteren Vormenschen und der jüngeren Art A. afarensis sein, also der Ahn von Lucy. Und genau das hatten die Forscher auch bislang angenommen. Doch aus der Altersdatierung des Schädels auf 3,8 Millionen Jahre ergibt sich ein Problem für diese Sicht. Denn die ältesten Vertreter von Australopithecus afarensis lebten neueren Erkenntnissen zufolge bereits vor 3,9 Millionen Jahren. Die beiden Arten existierten also mindestens 100.000 Jahre nebeneinander.

Das Foto zeigt Team-Mitglied Ali Bereino, der  in der äthiopischen Afar-Wüste neben der Fundstelle in Miro Dora hockt und auf einen fossilen Oberkiefer zeigt, den er im Wüstensand entdeckt hat. Später stellt sich heraus, dass hier der komplette Schädel eines Australopithecus anamensis liegt
An dieser Stelle in der äthiopischen Afar-Wüste stößt Team-Mitglied Ali Bereino auf einen fossilen Oberkiefer. Dann stellt sich heraus: Hier lagert der komplette Schädel eines Australopithecus anamensis

„Früher dachten wir, dass A. anamensis mit der Zeit allmählich zu A. afarensis wurde“, konstatiert Stephanie Melillo. „Unsere neue Entdeckung deutet aber darauf hin, dass die beiden Arten eine ganze Weile lang in der Afar-Region zusammengelebt haben. Das verändert unser Verständnis des evolutionären Prozesses und wirft neue Fragen auf: Konkurrierten diese beiden Arten um Nahrung und Lebensraum?“

So hat sich die Lucy-Art wohl sozusagen abgezweigt. Wie schon bei so vielen neuen Funden und Erkenntnissen aus den letzten Jahren zeigt sich auch hier: Die menschliche Evolution ist weniger geradlinig als die Paläoanthropologen früher angenommen haben. Häufig existierten verschiedene Vor- oder Urmenschenarten parallel und haben sich womöglich immer wieder auch vermischt.

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