Denisova-Menschen lebten noch vor 21.000 Jahren
Neue Gen-Analyse: Mindestens vier Mal unabhängig voneinander hatten der Homo sapiens und die asiatischen Urmenschen Sex – als die Neandertaler schon längst ausgestorben waren
Eigentlich hatten die Forschenden herausfinden wollen, wie der Homo sapiens den pazifischen Raum besiedelte und sich dabei an neue Umwelten oder Krankheiten anpasste. Doch was die Untersuchung des Erbguts nebenbei ergab, ist eine Sensation: Mindestens vier Mal hatten Homo-sapiens-Leute Sex mit den viel älteren Denisova-Menschen – das letzte Mal offenbar erst vor 21.000 Jahren. Die Denisovas lebten folglich sehr viel länger als Neandertaler.
Schon seit einigen Jahren ist bekannt, dass sich der moderne Mensch, der Homo sapiens, mit älteren Menschenformen vermischte, als er Afrika verlassen hatte und begann, den Rest des Globus zu erobern. Heutige Europäer tragen etwa ein Prozent Neandertaler-Erbgut in sich, Ostasiaten sogar fast zwei Prozent. Und die Papua auf Neuguinea oder die Aborigines in Australien besitzen rund drei Prozent DNA, die vom Denisova-Menschen stammt, einem einst in Asien heimischen Urmenschen.
Die Spuren solcher Vermischungen im Erbgut wollte nun eine internationale Gruppe von Genetikerinnen und Genetikern unter französischer Leitung nutzen, um besser zu verstehen, wie sich die modernen Menschen in den pazifischen Raum ausbreiteten und an die neue Umwelt anpassten. Die Forschenden um Etienne Patin und Lluis Quintana-Murci vom Institut Pasteur in Paris entzifferten die Genome (die komplette DNA-Sequenz jeweils eines Menschen) von 317 Personen aus 20 Bevölkerungsgruppen, die heute in der pazifischen Region leben. Außerdem bezogen sie weitere, schon vorhandene genetische Daten von südostasiatischen Bevölkerungen in ihre Analyse ein. Mitte April 2021 veröffentlichte das Team im Wissenschaftsmagazin „Nature“ seine Ergebnisse – und die enthielten gleich mehrere Überraschungen.
Schon vor 45.000 Jahren erreichten die ersten Bewohner Neuguinea
Bekannt war schon zuvor, dass Teile der pazifischen Inselwelt erstmals vor rund 45.000 Jahren von den Vorfahren der Papua besiedelt wurden. Sie kamen ursprünglich aus Asien, wanderten über Australien nach Neuguinea. Beide waren in jener Zeit noch durch eine Landbrücke verbunden. Schließlich drangen sie bis auf den Bismarck-Archipel und die Salomonen vor. Erst sehr viel später, vor rund 5000 Jahren, begann eine weitere Welle der Besiedelung. Nun machte sich ein Volk extrem tüchtiger Seefahrer – heute bekannt als Lapita – von Taiwan aus in Richtung Süden auf, drang in den Lebensraum der Papua vor, eroberte danach allmählich die Fidschi-Inseln, Tonga, Samoa und am Ende die gesamte Inselwelt der Südsee (Polynesien).
Dieses Szenario konnte das Team bestätigen, ihm jedoch weitere Erkenntnisse hinzufügen. So ergaben die genetischen Daten, dass es nur eine kleine Anzahl von Menschen gewesen sein kann, die vor 45.000 Jahren nach Neuguinea kam, und dass ihre Nachkommen dort über Jahrzehntausende isoliert lebten, bevor die nächste Einwanderungswelle sie erreichte. Noch spannender aber ist, was die Forschenden über die sexuellen Kontakte der Homo-sapiens-Leute mit anderen Menschenformen herausfanden: Mindestens vier Mal unabhängig voneinander vermischten sich die Vorfahren der heutigen Bewohner Neuguineas und der pazifischen Inselwelt mit den viel urtümlicheren Denisova-Menschen.
Denisova-Menschen unterschieden sich sowohl vom Homo sapiens als auch vom Neandertaler
Diese uralten Bewohner Asiens waren erst im Jahr 2010 identifiziert worden – anhand der Erbsubstanz eines 50.000 Jahre alten Fingerknochens aus der sibirischen Denisova-Höhle. Sie sind nahe Verwandte der Neandertaler und lebten einst in großen Teilen Asiens. Zwar sind bisher kaum Knochenrelikte dieser Urmenschen bekannt, doch fand eine israelisch-spanische Gruppe von Forschenden um Liran Carmel und David Gokhman von der Hebrew University in Jerusalem anhand von Informationen aus der Erbsubstanz etwas über das Aussehen der Denisova-Menschen heraus: Demnach hatten sie längere Kieferbögen und breitere Köpfe als Neandertaler und moderne Menschen. In anderen Eigenschaften ähnelten sie den Neandertalern: Die Denisovas besaßen kein Kinn, hatten kräftige Kiefer, eine fliehende Stirn und ein vorstehendes Gesicht, verfügten über einen mächtigen Brustkorb und ausladende Becken.
Dass sich Denisova-Menschen – ebenso wie die Neandertaler – einst mit dem Homo sapiens einließen und gemeinsame Kinder bekamen, belegen Untersuchungen des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig und der Mongolischen Akademie der Wissenschaften: Die Forschenden analysierten die DNA einer in der östlichen Mongolei gefundenen, 34.000 Jahre alten Schädeldecke. Sie hatte einer Homo-sapiens-Frau gehört, doch ihre DNA enthielt auch Denisova-Anteile.
Sexuelle Begegnungen zwischen verschiedenen Menschenformen waren nicht selten
Eine solche Vermischung war indes nicht einmalig, sondern geschah mehrfach. Das zeigen nun die Daten des Teams um Etienne Patin und Lluis Quintana-Murci. Ein erstes Mal hatten Homo-sapiens-Leute demnach bereits vor rund 46.000 Jahren in Südostasien Sex mit Denisova-Menschen gehabt. Als Vorfahren der Papua lebten sie danach rund 20.000 Jahre lang isoliert auf Neuguinea, den Inseln des Bismarck-Archipels und der Salomonen. Vor 25.000 Jahren aber rollte eine zweite Einwanderungswelle moderner Menschen über sie hinweg. Und diese brachte weitere Denisova-Gene mit sich.
Einen dritten Zeitraum mit intimen Kontakten zwischen Denisova-Menschen und Homo-sapiens-Leuten gab es, so die Forschenden, vor 21.000 Jahren. Er fand wahrscheinlich auf dem ostasiatischen Festland statt. Und schließlich lassen die neuen Analysen sogar eine vierte Vermischung erkennen, deren Zeitpunkt bislang aber noch unklar ist. Ihre Spuren fanden sich bei den Agta (auch Aeta genannt), einer Gruppe von indigenen Völkern, die auf den Philippinen, vor allem der Insel Luzon leben.
Besonders aufregend ist eine logische Schlussfolgerung aus der aktuellen Studie: Wenn die Analysen stimmen, dann lebten Denisova-Menschen noch vor 21.000 Jahren. Da die Neandertaler bereits vor rund 40.000 Jahren ausgestorben sind, wären sie diejenigen Vertreter der menschlichen Verwandtschaft, die am längsten neben dem Homo sapiens überdauert hätten.
Die Denisova-Gene halfen den Neuankömmlingen, mit Krankheiten und Hunger fertig zu werden
Am Ende aber verschwanden auch die Denisovas. Nur einige ihrer Genvarianten blieben bis heute in den Menschen zurück. Doch weshalb hat sie natürliche Selektion nicht herausgesiebt? Welchen evolutionsbiologischen Vorteil haben sie? Die Forschenden um Patin und Quintana-Murci versuchten auch diese Fragen zu klären. Dazu schauten sie sich genauer an, welche Art von Erbinformationen die Urmenschen den heutigen Pazifikbewohnern hinterlassen haben. Das Ergebnis: Es waren vor allem Gene, welche die Regulation des Immunsystems sowie den Fettstoffwechsel betreffen.
Die Genetikerinnen und Genetiker glauben, das Denisova-Erbe hilft den modernen Menschen zum einen besser mit lokalen Krankheitserregern fertig zu werden, zum anderen, sich an ein stark schwankendes Nahrungsangebot anzupassen. Und beides dürfte den Menschen bei ihrer Eroberung Neuguineas und der Inselwelt des Pazifiks von großem Nutzen gewesen sein.
Auch die Einverleibung von Neandertaler-Genen – das hatten frühere Forschungen gezeigt – hatte für die modernen Menschen Vorteile. Das Neandertaler-Erbgut betrifft zum Beispiel die Haut- und Haarfarbe, den Stoffwechsel, die Entwicklung des Nervensystems oder die Bekämpfung verschiedener Krankheiten. Egal ob vom Neandertaler oder vom Denisova-Menschen: Der Homo sapiens hat offenbar ein großes Talent dafür, sein eigenes Erbgut mit dem älterer Menschenformen aufzufrischen – und sich das Beste für sein eigenes Wohlergehen herauszupicken.