Kommentar: Ist der Deutsche Ärztetag trans* feindlich?

Die Hauptversammlung der Bundesärztekammer fordert, den Einsatz sogenannter Pubertätsblocker gesetzlich einzuschränken. Die Mittel sind für Kinder gedacht, die sich nicht mit ihrem Geschlecht identifizieren. Über ihre Anwendung gab es lange Unsicherheit, schließlich haben sich Expert*innen auf eine Leitlinie für die Behandlung verständigt. Darin wird der Einsatz unter bestimmten Umständen empfohlen. Nun fällt die Ärzteschaft den eigenen Fachkolleg*innen in den Rücken. Warum bloß? Eine Spurensuche.

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Große, schwarz-weiß gezeichnete Manga Augen, die hinter einem aufgerissenen Papier staunend in die Welt blicken.

Stellen Sie sich vor: Eine Abordnung der Gewerkschaft für Einhorn-Pflegepersonal arbeitet sieben Jahre an einem neuen Tarifkonzept für diese oft diskriminierte Berufsgruppe. 27 erfahrene ausgewiesene Expert*innen auf dem Gebiet lesen Studien, diskutieren ihre Erfahrungen, stimmen sich mit Interessengruppen der Einhörner ab. Ihr Ziel ist die optimale Versorgung der seltenen Lebewesen.

Schließlich präsentiert die Abordnung eine Empfehlung, wie die Bezahlung der Einhorn-Pflegekräfte und die Pflege der Einhörner in Zukunft gestaltet werden sollte. Mehr als 95 Prozent der Beteiligten sind mit dem Resultat zufrieden. Eine wichtige Aufgabe wurde mit Fingerspitzengefühl, Erfahrung und fachlicher Kompetenz gelöst.

Doch dann kommt der Deutsche Gewerkschaftsbund, wirft alles um – mit einer abwertenden Begründung: Alles Unfug!

Neue Leitlinie für Behandlung trans* Jugendlicher

So ähnlich muss es sich anfühlen was der Kommission für die Ausarbeitung einer S2 k-Leitlinie der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) mit dem Titel „Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter – Diagnostik und Behandlung“ für Deutschland, Österreich und die Schweiz gerade passiert.

Zwischen 0, 8 und einem Prozent der Erwachsenen haben aktuellen Schätzungen zufolge eine Geschlechtsinkongruenz, empfinden sich also dem anderen Geschlecht zugehörig. Die Zahlen bei Kindern und Jugendlichen dürften ähnlich sein.

Im März 2024 hat die Kommission eine Entwurfsfassung ihrer Leitlinie vorgelegt. Vertretende von 27 Fachverbänden aus der Medizin und Psychologie sowie zwei Interessengruppen waren beteiligt. Sieben Jahre hatten sie sich für das Konsenspapier Zeit gelassen, das ausführlich zusammenfasst, wie man mit sogenannten trans* Kindern und Jugendlichen umgehen sollte. Ihr empfundenes Geschlecht entspricht nicht dem körperlichen.

Sie sind natürlich keine Einhörner. Die Leitlinie beschäftigt sich mit sehr realen, eigentlich völlig gesunden und gar nicht so seltenen Menschen, die täglich leider einen sehr realen Leidensdruck erleben, der so stark ausfällt, dass er zusätzlich noch ein erhöhtes Risiko für Folgeerkrankungen nach sich zieht.

Hass auf die körperliche Veränderung

In der Pubertät kann es passieren, dass trans* Personen nahezu täglich körperliche Veränderungen an sich entdecken, mit denen sie sich nicht identifizieren können. Im Extremfall beginnen sie, sich selbst zu hassen. Und das Schlimmste dabei: Viele dieser Veränderungen sind unumkehrbar. Die tiefe Stimme eines Mannes wird nicht wieder höher, weibliche Brüste verschwinden nicht mehr.

Angesichts dieses Drucks wächst das Risiko für schwere psychische Erkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen. Erfolgt keine Behandlung steigt sogar das Suizidrisiko.

Diese „Irreversibilität der körperlichen Entwicklung stellt uns vor ein ethisches Dilemma“, sagte der erfahrene Experte und Koordinator der Leitlinienkommission, Georg Romer vom Universitätsklinikum Münster vergangenes Jahr im ausführlichen Riffreporter-Interview. Wenn man als Ärzt*in nichts mache, entwickelten sich Betroffene womöglich in die falsch empfundene Richtung. Ihr Leid wächst.

Hohe Hürden für Pubertätsblocker

Wenn man aber zu früh mit Maßnahmen zur Angleichung an das empfundene Geschlecht beginne, hätte das womöglich ebenfalls irreversible negative Konsequenzen. Deshalb schlagen die Expert*innen ein abgestuftes Verfahren vor, nachdem zunächst über einen langen Zeitraum auf verschiedensten Wegen ausgeschlossen werden soll, dass der Leidensdruck der Betroffenen andere Ursachen hat als eine trans* Identität. Erst danach sollen sogenannte Pubertätsblocker verordnet werden, die die biologische Entwicklung zunächst nur aufhalten aber noch keine Entscheidung über die endgültige körperliche Entwicklung treffen.

Während dieser Zeit sollen Betroffene das Leben mit der anderen Identität im sozialen Umfeld erproben und dabei professionell begleitet werden. Und erst wenn eine endgültige Entscheidung gefallen ist, werden die Pubertätsblocker wieder abgesetzt. Danach startet entweder die gewöhnliche Pubertät oder es wird mit einer Hormontherapie die Entwicklung hin zum anderen Geschlecht eingeleitet.

Die behandelnden Ärzt*innen machen es sich dabei alles andere als leicht: Sie geben die Blocker „nur so lange wie unbedingt nötig“. Die Kinder und Jugendlichen werden zudem psychologisch betreut. Auch die Eltern und das weitere Umfeld werden beraten.

Gute Erfahrungen

An der Universitätsklinik Münster hat man damit gute Erfahrungen gemacht. Detransitionen – also der Wunsch in das frühere Geschlecht zurückzukehren – seien bei einer sorgfältigen Behandlung sehr selten, sagt Georg Romer: „Wir hatten bei insgesamt 600 Behandelten nur drei Fälle. Zwei davon waren noch im ganz frühen Stadium der Hormonbehandlung, sodass kein bleibender Schaden entstanden ist. Und im dritten Fall hat diese junge Person sich als Erwachsene neu umentschieden, rückblickend aber gesagt, ihr damaliger Weg sei dennoch der für sie stimmige gewesen.“

All dieses Wissen – gesammelt von vielen Ärzt*innen und Psycholog*innen aus drei verschiedenen Ländern, die insgesamt sehr viele Betroffene behandelt und über Jahre begleitet haben – sowie die derzeitige Studienlage versucht die Leitlinie abzubilden. Der Entwurf liegt derzeit bei den beteiligten Fachgesellschaften, damit sie ihn kommentieren können.

Unabhängige Expert*innen wie die schwedische Transgender-Medizinerin Cecilia Dhejne sind ob des Resultats „sehr beeindruckt“. Sie loben die Gründlichkeit und die Breite der Leitlinie, die auch rechtliche, ethische und moralische Aspekte diskutiert. Außerdem wird gelobt, dass die Leitlinie ausdrücklich darauf hinweist, dass die Studienlage zu einigen strittigen Fragen zu dünn ist und großer Bedarf an weiteren und besseren Studien zum Thema besteht.

Studienlage ist sehr schwach

Und hier kommt der Haken: Die meisten Studien zum Einsatz von Pubertätsblockern bei trans* Identität sind klein. Viele sind noch dazu schlecht gemacht. Die Evidenz, dass die Mittel wirklich helfen und gleichzeitig keine unerwünschten Wirkungen haben, ist erschreckend gering. Darauf wies gerade auch eine viel beachtete wissenschaftliche Übersichtsstudie aus England hin, der Cass Review.

Die Mitglieder der Leitlinienkommission haben den Review in ihrer Arbeit bereits berücksichtigt. Sie schließen sich den Forderungen der Autorin Hilary Cass weitgehend an. Empfehlungen aus dem Report sind in die Leitlinie eingeflossen. Außerdem führt zum Beispiel Georg Romer selbst mehrere Studien durch, um das Problem zu lösen.

Die dringend benötigten Langzeitstudien seien aufwändig und teuer, sagt Romer in einem SPIEGEL-Interview. Dennoch gebe es erste Ansätze, die „Evidenzlage“ zu verbessern. Bis es so weit sei, dürfe man Betroffenen aber nicht einfach jene Behandlung vorenthalten, die als derzeit Beste eingestuft werde: „Es ist in der Medizin immer so gewesen, dass sich die sogenannte ‚Best Practice‘ vorläufig auf der Basis klinischer Erfahrungen weiterentwickelt und Studien dies durch Evidenz nach und nach bestätigen oder modifizieren“, sagt der Jugendpsychiater.

Ist der deutsche Ärztetag trans* feindlich?

Ein solcher, leider unzureichender Wissenstand ist in der Medizin also nicht ungewöhnlich. Expert*innen weisen darauf hin, dass das zum Beispiel bei der Behandlung der Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung ADHS ganz ähnlich gewesen sei. Auch hier haben vorläufige aber fundierte Einschätzungen geholfen, den Umgang mit den Betroffenen nach und nach zu verbessern. Damit schließt sich der Kreis. Und ich komme zur Frage aus dem Titel dieses Kommentars zurück: Ist der Deutsche Ärztetag trans*feindlich?

Der Ärztetag hat nämlich einen Antrag verabschiedet, demzufolge die Bundesregierung anordnen soll, dass Pubertätsblocker bei trans* Identität nur noch im Rahmen wissenschaftlicher Studien verordnet werden dürfen. Man kann bezweifeln, dass das die medizinische Versorgung Betroffener verbessern würde. Und vor allem ist es ein Affront gegen die Kolleg*innen aus der Ärzteschaft, die gerade erst die Leitlinie erarbeitet haben.

Wahlkampf mit trans* feindlichen Parolen

Nun frage ich mich, warum macht der Verbandstag, der auch als „Parlament der deutschen Ärzteschaft“ bezeichnet wird, so etwas? Hätte er das auch gemacht, wenn es um ADHS oder eine neue Immuntherapie gegen Krebs gegangen wäre? Vermutlich nicht. Obwohl auch in diesen Fällen immer wieder ähnliche Dilemmata auftreten.

Dass es aber nicht nur um die inhaltlichen Fragen zu gehen scheint, zeigt ein weiterer Beschluss des Ärztetags: Auch das gerade erst vom Bundestag beschlossene Selbstbestimmungsgesetz soll nämlich für Minderjährige verschärft werden. Das Gesetz will die Änderung des Vornamens und Geschlechtseintrags im Personenregister erleichtern und wird von trans* Personen seit langem herbeigesehnt.

Zwangsläufig drängt sich die Frage auf: Warum macht der Ärztetag das ausgerechnet in einer Zeit, in der die rechtspopulistische AfD offen via Werbespots im TV mit trans* feindlichen Parolen um Stimmen bei der Europawahl wirbt? Wäre gerade deshalb nicht ein Umgang mit dem Thema geboten gewesen, der weniger auf die sensationsheischende polarisierende Botschaft setzt?

Der Umstand, dass der Antrag in dieser Form gestellt wurde und sogar eine Mehrheit gefunden hat, lässt für mich nur einen Schluss zu: Ich muss die Frage nach der trans* Feindlichkeit des Gremiums, das den Anspruch hat, die deutsche Ärzteschaft zu vertreten, bejahen.

Es ist kaum anzunehmen, dass ein ähnlich gearteter Antrag in einer vergleichbaren Situation durchgegangen wäre, wenn es zum Beispiel um die Therapie von Krebspatient*innen gegangen wäre. Wäre ich Mediziner*in, ich würde mich ernsthaft fragen, ob ich mich durch dieses „Parlament“ noch ausreichend vertreten fühle.

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