„Die Irreversibilität der körperlichen Entwicklung stellt uns vor ein ethisches Dilemma“

Der Einsatz von Pubertätsblockern bei trans Jugendlichen steht derzeit in der Kritik. Was sagt einer der erfahrensten Experten dazu? Der Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie Georg Romer übernimmt für diese Behandlungen seit 25 Jahren die Verantwortung. Im Interview spricht er über die biologische Uhr, den Stress Betroffener, politische Hintergrundmusik und vieles mehr.

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Eine Gruppe von Menschen auf einer Demonstration. Einer trägt ein Schild mit folgendem Text: „Keep health out of healthcare.“

Menschen, deren empfundenes Geschlecht nicht dem körperlichen entspricht, werden als trans Personen oder geschlechtsinkongruent bezeichnet. Sie haben häufig eine Geschlechtsdysphorie, leiden also massiv unter dem Leben im falsch empfundenen Körper. Dann benötigen sie eventuell eine Hormonbehandlung und vielleicht auch eine operative Geschlechtsangleichung. Bei Jugendlichen in einem frühen Stadium der Pubertät halten behandelnde Mediziner*innen unter bestimmten Voraussetzungen das Fortschreiten der Pubertät vorübergehend mit Pubertätsblockern auf.

Bald erscheint wichtige Leitlinie

Georg Romer leitet die Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie des Uniklinikums Münster. Mit Kolleg*innen aus 26 medizinischen und psychotherapeutischen Fachgesellschaften arbeitet er derzeit an einer neuen Leitlinie zur Behandlung von trans Jugendlichen. Im ausführlichen Interview erklärt er, warum dieses Leiden keine Krankheit ist, aber fast immer krank macht. Er sagt, wieso Pubertätsblocker – nach dem aktuellen Wissensstand eingesetzt – von Vorteil für Betroffene sein können. Und er äußert eine Bitte an die Skeptiker*innen.

Professor Romer, es gibt Menschen, deren empfundenes Geschlecht vom körperlichen Geschlecht abweicht. Wie diagnostizieren Sie einen solchen Zustand?

Dazu benötigen wir die Gesamtbetrachtung eines mehrere Jahre anhaltenden Entwicklungsverlaufs. Wir müssen verstehen, ob es sich um ein dauerhaftes Muster handelt oder nur um einen vorübergehenden Zustand. Außerdem müssen wir klären, ob die Ursache der Probleme tatsächlich diese Form eines als falsch empfundenen Körpers ist. Zur Diagnose gehört also auch genügend Zeit, in der Betroffene ihre neue Geschlechterrolle im sozialen Umfeld erproben können. Wenn diese Veränderung das Problem bereits löst, weil zum Beispiel ein Unbehagen mit der sozial konstruierten Geschlechterrolle bestand, dann liegt keine Geschlechtsinkongruenz vor. Davon sprechen wir erst, wenn mit den körperlichen Geschlechtsmerkmalen dauerhaft kein Frieden gefunden werden kann.

Ähnliches war in den vergangenen 30 Jahren bei der Homosexualität zu beobachten.

Wie häufig kommt das vor?

Es gibt aktuelle Daten aus Volkszählungen in Kanada, England und Wales, in denen zwischen 0,4 und 0,8 Prozent der Bevölkerung über 16 Jahre angeben, sich nicht mit ihrem Geburtsgeschlecht zu identifizieren. Das sind jedoch Selbstbeschreibungen. Eine repräsentative Studie in Schweden hat ergeben, dass zwischen 0,8 und 1,0 Prozent der Erwachsenen eine solche Geschlechtsinkongruenz in sich fühlen und einen sozialen Rollenwechsel wünschen. 0,2 Prozent gaben einen starken Wunsch nach medizinischen Schritten zur Geschlechtsangleichung an.

Seit etwa zwei Jahrzehnten nimmt die Zahl der Fälle in vielen westlichen Ländern stark zu. Von „Steigerungen von mehr als tausend Prozent“ ist die Rede. Wechseln wir bald alle unser Geschlecht? Oder wie kann man solche Zahlen verstehen?

Die tausend Prozent beziehen sich ausschließlich auf die Zahl der Anmeldungen an spezialisierten Zentren. Und das sind ja weitgehend neue Angebote, die es vorher nicht gab. In Kanada hat man verschiedene Altersgruppen über die gesamte Lebensspanne betrachtet. Dort findet sich ein stetiger Zuwachs über alle Erwachsenengenerationen, der überhaupt nicht für die heutige Generation Jugendlicher spezifisch ist, sondern in diese hineinreicht. Ähnliches war in den vergangenen 30 Jahren bei der Homosexualität zu beobachten. Mit zunehmender Aufklärung sowie gesellschaftlicher Toleranz und Offenheit können sich mehr Menschen in ihrer Selbstwahrnehmung annehmen und nach außen dazu stehen.

Die Vorwürfe sind unsachlich und werden der Versorgungsrealität nicht gerecht.

Man hat viel zu lange an einem veralteten Protokoll festgehalten.

Eine glückliche junge trans Frau tanzt auf einer Pride-Parade und trägt als Umhang eine Transgender-Fahne.
Eine trans Frau demonstriert am 14. Oktober in Atlanta, USA, für die Rechte von trans Personen und gegen neue Gesetze im US-Staat Georgia, die Transgender-Jugendliche von einer adäquaten medizinischen Versorgung fernhalten.

Wir lindern den empfundenen Dauerstress, den für eine betroffene Person die biologische Uhr bedeuten kann.

Eine trans Person ist natürlich nicht psychisch krank. Geschlechtsinkongruenz ist weder eine Störung noch eine Krankheit.

Für eine ausschließlich psychotherapeutische Begleitung des Leidens an der tiefen Stimme oder den breiter werdenden Schultern oder der wachsenden Brust gibt es null Evidenz.

Ich habe in der Begegnung mit diesen jungen Menschen und ihren Eltern viel dazugelernt.

Die Evidenzdebatte ist ein Stück weit eine Scheindebatte. Sie lenkt von den wesentlichen Kontroversen ab, die im Kern ethischer Natur sind.