Ameisenjungfern und ihre Löwen – Sandkünstler mit Taktik und Taktgefühl

Ameisenlöwen sind die unscheinbaren Larven der grazilen Ameisenjungfern. Sie lauern in selbstgebauten Sandfallen Ameisen und anderen Krabbeltieren auf, deren Schritte sie über empfindliche Borsten ertasten. Nähert sich ein Beutetier, wirft der Ameisenlöwe mit Sand.

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Ein bräunliches Insekt mit langen, transparenten Flügen klammert sich mit seinen sechs Beinen an einen grünen Pflanzenstängel mit zahlreichen kleinen, grün-rötlichen Blüten.

Ein heißer, trockener Julitag weicht der Abenddämmerung. Der weiche Sandboden an der dänischen Ostseeküste färbt sich im Licht der untergehenden Sonne orangerot. Im Windschatten eines großen Steins regt sich etwas: Sandkörner rutschen zur Seite; braune keulenförmige Fühler und ein spitzer Kopf mit blaugrün schimmernden Facettenaugen schieben sich an die Oberfläche. Bald folgt ein schlanker, beige-braun gezeichneter Körper mit sechs borstenbesetzten Beinen und vier Stummelflügelchen.

Wir sind Zeuge, wie eine Ameisenjungfer aus ihrem sorgsam im Sand versteckten, kugelförmigen Kokon schlüpft. Das Insekt hält einen Moment inne, bevor es hektisch über den warmen Sand stolpert, zwischen Steinchen und Kiefernadeln hindurch zum nächsten Grasbüschel. Am höchsten Stängel klettert das Tier bis zu Spitze empor; dort verharrt es erneut, dieses Mal länger.

Der Hinterleib eines braun-beige gezeichneten Insekts steckt noch im Sand, Vorteil mitsamt Kopf schaut bereits heraus. Neben der schlüpfenden Ameisenjungfer liegt eine tote Ameise.
Am Boden ihres Trichters hat sich diese Ameisenjungfer verpuppt und schiebt sich nun durch den Sand an die Oberfläche; neben ihr liegen die Überreste ihrer letzten Mahlzeit als Ameisenlöwe
Ein rundes, hohles Gebilde aus Sand mit einem Loch in der Mitte liegt auf einer sandigen Oberfläche.
Gerade einmal einen knappen Zentimeter misst der kunstvoll gewobene, über und über mit Sandkörnern besetzte Kokon, aus dem sich die Ameisenjungfer nach der Metamorphose zum erwachsenen Insekt durch den Sand gräbt

Elf Arten von Ameisenjungfern (Myrmeleontidae) zählen Fachleute in Mitteleuropa, weltweit sind es rund 2.000. Die nachtaktiven Insekten besiedeln bevorzugt trockene Gebiete, Wüsten und Halbwüsten; in Europa vor allem sandige Dünen. Besonders häufig finden sich in unseren Breiten zwei Arten: die Gemeine Ameisenjungfer (Myrmeleon formicarius) und die Geflecktflügelige Ameisenjungfer (Euroleon nostras). Beide teilen sich mitunter denselben Lebensraum, so wie an dieser bewachsenen Düne in Dänemark. Jetzt, im Juli und August, klettern die ausgewachsenen Tiere aus ihren Puppenhüllen.

Auf den ersten Blick kann man Ameisenjungfern mit Libellen verwechseln, nicht nur wegen des ähnlichen Körperbaus. Die einen wie die anderen leben räuberisch, jagen also Fluginsekten wie etwa Fliegen oder Falter. Doch ungeachtet dieser äußeren Ähnlichkeiten sind Ameisenjungfern mit Libellen nicht näher verwandt; ihre Familie gehört einer eigenen Ordnung an: den Netzflüglern, zu denen auch die Familie der Florfliegen zählt oder die abenteuerlich aussehende Schwarzhalsige Kamelhalsfliege.

Ein gelb-schwarz gezeichneter Insektenkopf in Großaufnahme.
Nach dem Schlupf aus dem Kokon kleben Sandkörner am Kopf der Ameisenjungfer
Ein bräunliches Insekt klammert sich an eine gelbe, geschlossene Blüte.
Ameisenjungfern haben zwar große Facettenaugen, sind aber kurzsichtig

Ein kurzes Leben als elegante Jägerin

Die Ameisenjungfer wiegt sich mit dem Grashalm im lauen Abendwind. So verschmilzt sie perfekt mit ihrer Umgebung. Nur wer genau hinschaut, entdeckt das rund vier Zentimeter lange Insekt. Die Tarnung ist notwendig, denn noch kann das zarte Wesen nicht fliegen. Im engen Kokon war kein Platz, die Flügel auszubreiten, sie sind beim Schlupf noch zusammengefaltet wie ein Fallschirm im Rucksack. Bevor die Ameisenjungfer zur Jagd aufbrechen kann, muss sie ihre Flügel ausbreiten – und zwar so unauffällig wie möglich, damit sie nicht im Schnabel eines hungrigen Vogels landet.

Ein bräunliches Insekt mit großen, dunklen Augen klammert sich mit sechs Beinen an einen grünen Grashalm.Von links nach rechts sind drei Phasen abgebildet, in denen die Flügel immer ein Stück größer werden.
Sobald die Ameisenjungfer einen Grashalm erklommen hat, beginnt sie, ihre Flügel zu entfalten

Das Entfalten braucht Zeit. Bis zu einer Stunde klammert sich das Insekt an den Halm und pumpt Hämolymphe aus dem Körperinneren in das fein verästelte Geflecht der Flügeladern. Stück für Stück entfalten sich die transparenten Flügel, gleich einer Luftmatratze, die langsam mit einem Blasebalg mit Luft gefüllt wird.

Ein bräunliches Insekt mit großen, dunklen Augen klammert sich mit sechs Beinen an einen grünen Grashalm.Von links nach rechts sind drei Phasen abgebildet, in denen die Flügel immer ein Stück größer werden.
Das Insekt pumpt grün-gelblich schimmernde Hämolymphe aus dem Körper in die Adern der Flügel, damit diese sich weiter entfalten
Ein bräunliches Insekt mit großen, dunklen Augen klammert sich mit sechs Beinen an einen grünen Grashalm. Die Flügel sind voll entfaltet.
Nach rund einer Stunde hat es diese Ameisenjungfer geschafft, ihre Flügel sind voll entfaltet
Ein bräunliches Insekt mit großen, dunklen Augen klammert sich mit sechs Beinen an einen grünen Grashalm. Die Flügel sind voll entfaltet und geöffnet.
Die Ameisenjungfer ist fertig zum Abflug; sobald es dunkel ist, geht sie auf die Jagd

Als die Ameisenjungfer das erste Mal mit voll entfalteten Flügeln von ihrem Grashalm abhebt, ist es bereits dunkel. Die erste Mahlzeit des erwachsenen Insekts wird vermutlich ein Nachtfalter sein, im Flug erbeutet. Den Rest ihres nur rund 30 Tage kurzen Lebens als Vollinsekt verbringt sie mit Fressen, Partnersuche und damit, einer neuen Generation von Ameisenjungfern das Leben zu schenken.

Aus den Eiern, die das Weibchen im lockeren Sand ablegt, schlüpfen Larven. Die unterscheiden sich deutlich von ihren geflügelten Eltern: rundlicher, sandfarbener Körper mit sechs stark behaarten Beinen; der flache Kopf trägt außer den dunklen, nadelspitzenkleinen Augen und kaum sichtbaren Fühlern ein Paar kräftige Kieferzangen. Diese sind fast länger als der gesamte Kopf und an den Innenseiten mit zahlreichen Zähnen und störrischen Borsten bestückt. Es wundert nicht, dass die Larve als Inspiration für zahlreiche mystische Kreaturen in Science Fiction-Filmen herhalten musste, etwa das menschenfressende Wüstenungeheuer Sarlacc bei Star Wars.

Ein braun-beige gezeichnetes Insekt mit rundlichem Hinterteil und einem kleinen, flachen Kopf mit riesigen Greifkiefern sitzt auf sandigem Untergrund.
Augen und Fühler des Ameisenlöwen wirken verkümmert, die kräftigen Mandibeln hingegen sind länger als der flache Kopf

Vor echten Ameisenjungfern muss sich jedoch kein Mensch fürchten; sie sind, wie ihr Name schon sagt, vor allem für Ameisen gefährlich. Und ihre Jagdstrategie ist so außergewöhnlich, dass die Larven der Ameisenjungfern ihr einen eigenen Namen verdanken: Ameisenlöwen.

Ein braun-beige gezeichnetes Insekt mit rundlichem Hinterteil und einem kleinen, flachen Kopf mit riesigen Greifkiefern sitzt auf sandigem Untergrund.
Im Sand ist der Ameisenlöwe perfekt getarnt; mit dem Hinterteil voran gräbt sich die Larve in den lockeren Boden

Ameisenjungfer-Larven bauen Sandfallen

Die meisten europäischen Ameisenlöwen-Arten verfolgen ihre Beute nicht aktiv, sondern lauern ihr auf. Das tun auch die beiden Spezies, die an der dänischen Düne vorkommen. Sie nutzen ihr spezielles Habitat in Perfektion. „Der Sand ermöglicht es den Ameisenlöwen, schnell und einfach einen Trichter zu bauen“, sagt David Sillam-Dussès. Der Biologe erforscht an der Universität Sorbonne in Paris hauptsächlich das Verhalten von Termiten; er untersucht zum Beispiel, wie diese mittels Pheromonen und „Klopfzeichen“ miteinander kommunizieren. Mit französischen und slowenischen Kolleg:innen hat er sich aber auch das Jagdverhalten der Ameisenlöwen genauer angeschaut. Einen Fangtrichter zu bauen, sagt er, sei Teil ihrer Strategie. Und wie genau diese funktioniert, beschreibt er im Gespräch.

Ein braun-beige gezeichnetes Insekt sitzt im Sand, der kleine Kopf mit den riesigen Greifwerkzeugen schaut nach vorne.
Die kräftigen Mandibeln des Ameisenlöwen sind mit Zähnchen und Borsten besetzt

Einer festgelegten Choreografie folgend buddelt die Larve eine kegelförmige Grube in den lockeren Sand, beginnend mit einem kleinen Kreis, der immer größer und tiefer wird. „Dafür schleudert sie mit ihren kräftigen Mandibeln und dem flachen Kopf Sandladung für Sandladung aus dem Loch“, sagt Sillam-Dussès, zunächst nach außen, später weit über den Trichterrand hinaus. Bis zu 30 Zentimeter weit fliegen die Sandkörner, mehr als 20 Mal so weit wie die kleine Larve lang ist. Am Ende verkriecht der Ameisenlöwe sich am Boden des Trichters und wartet. Nur die sichelartigen Fangwerkzeuge und manchmal ein Teil des Kopfes schauen aus dem Sand.

In einer Vertiefung aus Sand schaut ein bräunlicher Insektenkopf mit mächtigen Fangkiefern heraus.
Nur der flache Kopf und die kräftigen Mandibeln schauen aus dem Sand, wenn der Ameisenlöwe am Boden seines Trichters auf Beute lauert

Wie eine Lawine reißen die rutschenden Sandkörner die Beute in den Abgrund

Verhaltensforscher David Sillam-Dussès

So entstehen ganze Krater-Landschaften. Eine Ameisenlöwen-Kolonie kann mehrere Quadratmeter mit Hunderten Tieren umfassen. Für Ameisen und andere Insekten, die zufällig in so ein „Minenfeld“ geraten, beginnt ein Spießrutenlauf. Irgendwann geraten sie vom sicheren Weg ab und fallen in einen der Trichter. Der ist zwar so stabil, dass er nicht von selbst zusammenstürzt. Krabbelt aber eine Ameise an den steilen Wänden entlang, gibt der Sand nach. „Wie eine Lawine reißen die rutschenden Sandkörner die Beute in den Abgrund“, sagt Verhaltensforscher Sillam-Dussès. Je kräftiger die Ameise strampelt, um den rettenden Trichterrand zu erreichen, umso schneller kullern die Sandkörner bergab – und mit ihnen, immer wieder, das Insekt.

Zahlreiche kegelförmige Löcher sind in den Sand gegraben, dazwischen liegen kleine Steinchen und Zweige.
An geschützten Stellen bilden Ameisenlöwen große Kolonien und errichten im lockeren Sand Trichter neben Trichter

Manchmal gelingt es Beutetieren, Halt an den Grubenwänden zu finden. Damit sie nicht entkommen, bewirft die am Boden lauernde Larve die Flüchtenden gezielt mit einer Extraladung Sand und bringt sie so erneut zum Rutschen.

Ameisenlöwen „hören“ mit ihren Borsten

Woher aber weiß der Ameisenlöwe, wo die Beute sich befindet? Die kleinen, geradezu verkümmerten Augen sind im sandigen Habitat nutzlos. „Ameisenlöwen fühlen die Vibrationen, die eine vorbeilaufende Beute erzeugt“, erklärt David Sillam-Dussès. „Borsten an den Körperseiten sind mit Sensoren bedeckt, die kleinste Erschütterungen wahrnehmen.“ Aber nicht nur das: Die Borsten nutzen ein ähnliches Prinzip wie unsere menschlichen Ohren.

Das erklärt der Biologe so: „Wenn ein Geräusch von links kommt, erreicht der Schall das linke Ohr einen Sekundenbruchteil eher als das rechte Ohr.“ Dadurch gelingt es uns, die Quelle des Geräuschs ohne gezieltes Hinhören zu orten. „Interaurale Zeitdifferenz“ nennen Fachleute dieses Phänomen. Es zeigt seine Wirkung auch an den Borsten des Ameisenlöwen. Durch sie nimmt er wahr, ob ein Insekt sich von links, rechts, vorne oder hinten nähert. „Hat der Ameisenlöwe seine Beute lokalisiert, dreht er sich zu ihr hin und bewirft sie gezielt mit Sand, damit die Beute im Trichter hinabrutscht“, sagt Sillam-Dussès.

Sobald die Ameise in die Nähe der Fangwerkzeuge gerät, greift der Ameisenlöwe zu. Selbst Beutetiere, die deutlich größer sind als die Larve selbst, können diesem tödlichen Griff kaum entkommen. Denn der Körper des Ameisenlöwen ist über und über mit Borsten bedeckt, die ihn fest im Sand verankern. Mit einer giftigen Injektion betäubt der Räuber seine Beute und saugt sie mithilfe spezialisierter Mundwerkzeuge aus. Zurück bleibt eine leere Chitin-Hülle, die der Ameisenlöwe schwungvoll aus dem Fangtrichter schleudert.

In einer Kuhle ragt ein Insektenkopf mit kräftigen Greifzangen aus dem Sand. Die Zangen umklammern einen kleinen, bräunlichen Käfer.
Aus dem tödlichen Griff des Ameisenlöwen kann sich der Käfer nicht mehr befreien

An diesen Überbleibseln zwischen den Kratern zeigt sich, dass der Ameisenlöwe sich nicht nur auf seine namensgebenden Beutetiere beschränkt: Spinnen, Asseln, Käfer, Tausendfüßer, sogar unvorsichtige Fliegen, die in die Krater geraten, werden von der immer hungrigen Larve verzehrt.

Bis zu drei Jahre verbringt der europäische Ameisenlöwe mit Auflauern, Sand schmeißen und Fressen; die Wintermonate übersteht er ohne Nahrung in seinem sandigen Versteck. Irgendwann im Mai oder Juni spinnt der Löwe einen seidenen, mit Sandkörnen besetzten Kokon und wandelt sich im Laufe von etwa vier Wochen zur geflügelten Jungfer. Die wiederum schiebt an einem lauen Sommerabend zuerst ihre Fühler und die großen Augen, dann ihren Körper mit den Stummelflügelchen aus dem Sand.

Dies ist die sechste Folge der Geziefer-Serie „Insekt des Monats“. Hier geht es zur Ausgabe des letzten Monats über den Stahlblauen Grillenjäger.

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