Konflikt um Windkraft-Ausbau: „Das Artenhilfsprogramm ist kein Trostpflaster“

Der neue Sonderbeauftragte für das Nationale Artenhilfsprogramm Josef Tumbrinck über seine Ziele, Kritik von Naturschützern und das Ringen um Artenschutz und Energiewende

vom Recherche-Kollektiv Countdown Natur:
10 Minuten
Porträtfoto Josef Tumbrinck im Grünen

Der von der Ampel-Koalition forcierte Ausbau der Erneuerbaren Energien wird nicht nur zum Stresstest für Verwaltungen, Planer und Bauunternehmen: Tausende neue Windräder, Photovoltaik-Großanlagen und Wasserkraftwerke bringen auch viele bedrohte Tierarten weiter unter Druck, deren Lebensraum ohnehin knapp ist.

Mit den gerade vom Bundestag verabschiedeten Gesetzen des „Osterpakets“ gelten künftig drastisch verkleinerte Schutzabstände zwischen Vogelbrutstätten und Windrädern. Die Liste der als „windkraftsensibel“ eingestuften Arten wird stark reduziert. Windräder sollen künftig auch in Landschaftsschutzgebieten gebaut werden dürfen.

82 Millionen Euro sollen Artenschutz absichern

Um diese negativen Folgen der Energiewende auf die Artenvielfalt abzufedern, hat die Bundesregierung erstmals ein nationales Artenhilfsprogramm aufgelegt. Bis zum Ende der Wahlperiode stehen gut 82 Millionen Euro zur Verfügung. Damit soll die Lage besonders gefährdeter Arten soweit verbessert werden, dass sie zusätzliche Verluste etwa an Windrädern verkraften können.

Die zügige Umsetzung der Hilfsprogramme ist Aufgabe von Josef Tumbrinck. Er wurde zum Sonderbeauftragten für das Artenhilfsprogramm berufen. Im ersten Interview in der neuen Funktion erklärt Tumbrinck, wie es gelingen soll, Artenschutz und Energiewende gemeinsam voranzubringen.

Ihre Chefin, Bundesumweltministerin Steffi Lemke sieht im „Osterpaket“ einen guten Kompromiss, zwischen den Zielen eines schnelleren Ausbaus der Erneuerbaren Energien und dem Naturschutz. Ist dieses Kunststück aus Sicht des Artenhilfskoordinators gelungen?

Natürlich ist es ein Spagat, vor dem wir stehen. Wir müssen die Erneuerbaren Energien angesichts der Klimakrise rasch ausbauen – auch der Krieg gegen die Ukraine illustriert die Gefahren einer Energieabhängigkeit nochmal dramatisch – und wir müssen gleichzeitig die Biodiversität sichern. Beides miteinander zu vereinbaren, hat auch der Bundestag mit seinen Beschlüssen im Blick. Und die Ampel-Koalition hat in ihrem Entschließungsantrag zu den Gesetzen deutlich gemacht, dass es gilt, die Umsetzung der Artenhilfsprogramme in gleichem Maß wie den Ausbau der Erneuerbaren Energien zu beschleunigen und dafür die notwendigen Grundlagen zu schaffen.

Die Liste der Arten, die als „windkraftsensibel" angesehen werden und damit besonderen Schutz genießen, wurde auf 15 verkleinert. Auch die Schutzabstände zu Windrädern sind gegenüber den Regeln, die bisher in den Bundesländern gelten, verkleinert worden, entgegen den Empfehlungen der staatlichen Vogelschutzwarten. Wäre hier nicht Prävention durch eine Beibehaltung der bisherigen Regeln der bessere Weg zum Schutz der Arten als ein Artenhilfsprogramm?

Prävention wird mit den beschlossenen Neuerungen nicht ausgeschlossen. Die Liste der 15 Brutvogelarten bezieht sich auf das Tötungs- und Verletzungsrisiko von Brutvögeln durch den Betrieb von Windkraftanlagen. Darüber hinaus gibt es beispielsweise auch die Gruppe der störungsempfindlichen Vogelarten. Diese werden in dem Gesetz überhaupt nicht adressiert, und als störungsempfindlich gilt eine größere Zahl als die 15 im Gesetz genannten Arten. Hier bleiben Regelungen der Länder und Standards unberührt.

Eine Gruppe Großtrappen fliegt vor einem Windrad.
Vorrang für Erneuerbare hat seinen Preis: Die vom Aussterben bedrohten Großtrappen verlieren mit der Novelle des Bundesnaturschutzgesetz komplett die Anerkennung als windkraftsensible Vogelart.

Gleichwohl bedeuten die neuen Gesetze faktisch deutliche Verschlechterungen des Schutzniveaus gegenüber den bisher geltenden Regeln…

Letztlich wollen wir den nötigen Windenergieausbau beschleunigen, indem wir unter anderem Genehmigungen vereinfachen. Durch die Festlegung von Nah- und Prüfbereichen wird geregelt, in welchen Fällen von einem signifikant erhöhtem Tötungs- und Verletzungsrisiko ausgegangen werden muss und wann nicht. Und bei der Festlegung dieser Bereiche bezieht sich das Gesetz auf die Erkenntnisse aus den Bundesländern und auf einen Beschluss der Umweltministerkonferenz. Das ist eine deutschlandweite Vereinheitlichung der Standards. Wichtig ist, dass auch mit den neuen Regeln nicht gesagt wird, dass betroffene Vögel fortan durch die Windräder getötet werden dürfen. Jetzt gilt es, die Bestände der gegenüber der Windkraft besonders anfälligen Arten in einen besseren Erhaltungszustand zu bringen und zu stärken.

Wie sieht ihre Aufgabenbeschreibung als Sonderbeauftragter für das nationale Artenhilfsprogramm aus?

Wir wollen den Ausbau der Erneuerbaren beschleunigen und gleichzeitig den Artenschutz stärken. Mit Blick auf den Artenschutz liegt die Verantwortung für die fachlichen Grundlagen und die konkreten Hilfsprogramme beim Bundesamt für Naturschutz. Meine Aufgabe ist es, sicherzustellen, dass das mit dem nötigen Tempo aber auch mit der erforderlichen Sorgfalt passiert. Da geht es um Fragen wie die frühzeitige und umfassende Einbindung der Länder und der verschiedenen Verbände, des Finanzflusses und weiterer wichtigen Grundlagen dafür, dass es zügig vorangeht und wir es schaffen, parallel zum Ausbau der Erneuerbaren auch beim Artenschutz Tempo zu machen.

Welche Arten soll denn mit gezielten Programmen geholfen werden?

Der Schwerpunkt der Überlegungen wird sicher auf den 15 im Gesetz genannten Vogelarten sowie den Fledermäusen liegen. Es sollen aber auch andere vom Ausbau der erneuerbaren Energien betroffene Arten in den Blick genommen werden. Die Ausweitung der Photovoltaik in Grünlandbereiche ist beispielsweise ein wichtiges Thema. Und wenn es darüber hinaus Arten gibt, für die Deutschland eine ganz besondere Verantwortung trägt oder die vielleicht kurz vor dem Aussterben stehen, ist die Tür des nationalen Artenhilfsprogrammes für sie nicht verschlossen.

Sie sind jetzt seit etwa einem Monat im Amt, gibt es bereits konkrete Programme für die einzelnen Arten und wie sehen sie aus?

Es ist nicht so, als liege das komplette Programm bereits fertig in der Schublade und warte nur auf seine Veröffentlichung. Das Bundesamt für Naturschutz ist unter Hochdruck dabei, Kernpunkte zu definieren: Welche Arten kommen für das nationale Artenhilfsprogramm in Betracht, welchen Gefährdungen sind sie ausgesetzt und welche Maßnahmen wären sinnvoll, um ihre Situation zu verbessern? Dann müssen wir natürlich Prioritäten setzen. Die 15 im Gesetz genannten Vogelarten gehören zuvorderst dazu. Bei allem gilt: Wir müssen auch realistisch sein und sehr gut überlegen, welche Programme wir mit den gut 82 Millionen Euro finanzieren können, um Arten in allen Regionen des Landes in einen guten Zustand zu bringen. Und das nicht nur an Land, sondern auch auf dem Meer.

Schwarzstorch-Junge im Nest, kurz vor dem Ausfliegen
Flog buchstäblich in letzter Minute aus der Liste der als windkraftanfällig anerkannten Vogelarten: Auf Schwarzstorch-Vorkommen muss künftig noch weniger Rücksicht genommen werde.
Eine junge Wiesenweihe im Flug
Wiesenweihen gehören zu den Arten, die windkraftsensibel sind und auf dem Zugweg vielen Gefahren ausgesetzt sind.
Eine Gruppe Bekassinen im flachen Wasser zwischen Ufervegetation
Nach europäischem Recht eine besonders geschützte Art, soll es beim Ausbau der Windkraft keinerlei Beschränkungen wegen der vom Aussterben bedrohten Bekassine geben.

Stehen schon erste Projekte?

Im Moment entwickeln wir noch die Kernparameter Artenliste, Gefährdung, Maßnahmen und Priorisierung. Aber es werden natürlich schon Ideen eingereicht.

Die Erneuerbaren Energien sind nicht der einzige, aber ein wichtiger Grund, dass einige Vogelarten noch stärker in Bedrängnis geraten …

Richtig, und der Bundestag adressiert in seinem Entschließungsantrag ausdrücklich die Notwendigkeit, den Blick auch darauf zu richten, welchen zusätzlichen Belastungen die Bestände windkraftsensibler Arten durch andere Faktoren ausgesetzt sind. Auf dieser Basis soll das Bundesamt für Naturschutz dann Vorschläge für Maßnahmen auch in anderen Sektoren, wie zum Beispiel Land- und Forstwirtschaft, machen, um die Populationen sensibler Arten zu stärken.

Haben Sie ein Beispiel für solche mehrfach betroffenen Arten?

Nehmen wir das Rebhuhn und das Thema Biomasse. Sie führt zusammen mit dem Maisanbau für Futterzwecke zu einer Vermaisung mancher Landschaften. Arten wie das Rebhuhn oder der Feldhamster gehen drastisch in ihren Beständen zurück, weil sie mit dieser Nutzung auf großer Flächen nicht mehr klarkommen. Also müssen wir überlegen, wie wir auch diesen Arten helfen können. Ein anderes Beispiel ist das Thema Bleivergiftung beim Seeadler. Viele Seeadler – auch andere Greifvögel – sterben immer noch an Vergiftungen durch Rückstände aus Bleimunition, die sie durch Aas von geschossenem Wild aufnehmen. Also muss man sich bei dieser Art nicht nur ansehen, ob sie genug Nahrung findet, ob die Horststandorte gesichert werden gegen Störung und Abholzung und so weiter. Um die Bestände zu stärken – auch, um Verluste auszugleichen, die durch den Ausbau von Windanlagen entstehen können – muss das Thema Bleivergiftung gelöst werden. Hier ist es nötig, dass Deutschland das Verbot von Bleimunition unterstützt – das ist ein Prozess, der gerade auf EU-Ebene läuft.

Aber ein lokales Projekt gegen Bleivergiftung wäre also denkbar als Bestandteil eines Artenhilfsprogramms?

Wenn die Bleivergiftung ein Faktor bleiben sollte und wenn ein gutes Projekt da wäre, dann wird das BfN das prüfen müssen. Es geht immer um eine sehr konkrete Frage: Hilft es den Beständen? Hilft es, um den Seeadler regional oder bundesweit in einen guten Zustand zu bringen?

Ein Rebhuhn schaut aus einer Wiese
Symbol für die Aussterbekrise im Agrarland: Das Rebhuhn kämpft in der Agrarsteppe ums Überleben.

Bei Naturschutzverbänden und vielen aktiven Naturschützern herrscht die große Sorge, dass der Artenschutz mit den neuen Gesetzen unter die Räder gerät. Der NABU, dessen Landesvorsitzender in NRW sie lange waren, sprach von zahlreichen Verschlechterungen für die Natur in letzter Minute. Gibt Ihnen das zu denken?

Einerseits höre ich aus der Naturschutzszene, dass viele in Sorge sind, etwa mit Blick auf die von Ihnen auch angesprochene Novelle des Bundesnaturschutzgesetzes und die Frage, ob damit ein starker negativer Einfluss auf die Populationen einhergeht. Aber es wird auch gesehen, dass es jetzt eine neue Möglichkeit gibt, dass neue Chancen für einen besseren Artenschutz aus dem nationalen Programm erwachsen.

Welche Chancen könnten konkret erwachsen?

Nehmen wir die Entwicklung der Wiesenweihe und das Netzwerk der Naturschützer und Naturschützerinnen, die das möglich gemacht haben. Bayern hat den Bestand der Wiesenweihe innerhalb von 20 Jahren von fast Null auf 250 Paare gebracht. Das bayerische Umweltministerium und der Landesbund für Vogelschutz LBV haben eine richtig gute Arbeit gemacht. Die Überlegung ist jetzt, wie kann man das bayerische Erfolgsmodell im Sinne eines Best-Practice-Modells auf ganz Deutschland übertragen. Elemente für den Erfolg können auch anderswo helfen: Das Land hat das Netzwerk der Wiesenweihenschützer finanziell unterstützt, der LBV hat alles gut organisiert und sie haben parallel in Schwerpunktgebieten der Art auch versucht, über die Instrumente der Agrarförderung die Nahrungsgrundlage für die Vögel zu verbessern.

Die Wiesenweihe ist ein Langstreckenzieher, die auch auf dem Zug Gefährdungen ausgesetzt ist. Sind die Artenhilfsprogramme immer an das Brutgebiet gebunden, oder könnte ein Programm beispielsweise auch den Schutz auf den Zugwegen umfassen?

Wir schauen uns den gesamten Lebenszyklus an, alles andere ergibt keinen Sinn. Auch der Bundestag hat in seinem Entschließungsantrag hervorgehoben, dass man sich die gesamte Ökologie einer Art ansehen muss. Dazu gehören bei Zugvögeln und vielen Fledermäusen auch das Winterquartier und die Zugwege – und die Gefährdung dort.

Ein Porträtfoto eines Schreiadlers
In Deutschland fast ausgestorben und extrem gefährdet durch die Windkraft. Dennoch wird der Mindestabstand zwischen Horst und Windrädern mit der Novelle des Bundesnaturschutzgesetzes drastisch verringert.

Welche anderen Arten könnten in diesem Zusammenhang in den Blick genommen werden?

Beispielsweise wird beim Schreiadler von vielen Ehrenamtlichen mit hohem Aufwand versucht, bei uns die letzten 130 Paare zu schützen. Gleichzeitig wird auf dem Zugweg im Nahen Osten ein hoher Prozentsatz abgeschossen. Da muss man sich die Frage stellen: Ist Tötung auf dem Zug ein wesentlicher Faktor? Das ist er. Wenn man es also ernst nimmt mit dem Schreiadlerschutz, und das betrifft natürlich auch andere Arten, muss man diese Themen angehen. Von daher gehören sie auch in Artenhilfsprogramme. Es ergibt keinen Sinn, viel Geld in Deutschland auszugeben, wenn eine wichtige Gefährdungsursache an anderer Stelle liegt und diese uns unser ganzes Wirken wieder kaputtmacht. Das muss man also angehen und deshalb gehören auch internationale Aktivitäten in das Portfolio. Auch hier geht es darum zu ermitteln, welche Arten ausgewählt werden und wie Maßnahmen auf- und erfolgreich umgesetzt werden können.

Wieviel Geld haben Sie zur Finanzierung der Programme zur Verfügung?

Der Bund stellt mit dem Haushalt 2022 bis zum Ende der Wahlperiode 82,4 Millionen Euro für nationale Artenhilfsprogramme bereit. Hinzu kommen die vorgesehenen Beiträge der Windkraftbetreiber.

Die Berechnung der Beiträge durch die Betreiber von Anlagen ist ziemlich kompliziert geregelt. Können Sie abschätzen, mit welchen Summen die Windradbetreiber für den Artenschutz in die Pflicht genommen werden?

Das kann zum jetzigen Zeitpunkt noch niemand genau beziffern. Aber wichtig ist, dass Geldzahlungen, die so kommen, dann über 20 Jahre gezahlt werden und die Programme langfristig stützen.

Ursprünglich war von einer Summe von bis zu einer Milliarde Euro für Artenhilfsprogramme die Rede. Können Sie mit dem nun zur Verfügung stehenden Geld überhaupt etwas erreichen?

Natürlich können wir etwas erreichen, das werden die Maßnahmen auch zeigen. In dem Moment, in dem wir das Netzwerk der Akteure stärken und ihnen auch mit kleineren Maßnahmen helfen, erreichen wir viel. Diese Netzwerke gibt es für viele Arten – denken Sie an die Wiesenweihe, den Weißstorch, Schreiadler, Wanderfalke, Fledermäuse und viele mehr. Da brauche ich keine Beträge von hunderten Millionen, um richtig viel bewegen zu können. Ein hohes Engagement gekoppelt mit effektiven Programmen kann sehr viel bewirken.

Trotzdem sprechen Kritiker von einem Trostpflaster, um die Naturschützer zu besänftigen…

Das Artenhilfsprogramm ist kein Trostpflaster. Die Größenordnung von zunächst 82 Millionen Euro ist eine gute Grundlage. Diejenigen engagierten Naturschützer vor Ort, mit denen ich gesprochen habe, sehen das Programm nicht als Trostpflaster, sondern als eine Chance, die ihre Arbeit wirklich hilfreich unterstützen kann. Jetzt gilt es, diese Chance zu ergreifen und etwas daraus zu machen.

Im Projekt „Countdown Natur“ berichten wir mit Blick auf den UN-Naturschutzgipfel über die Gefahren für die biologische Vielfalt und Lösungen zu ihrem Schutz. Die Recherchen zu diesem Beitrag wurden von der Hering Stiftung Natur und Mensch gefördert. Sie können weitere Recherchen mit einem Abonnement unterstützen.

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