Tunesien: Wo ist die Opposition?

Warum es keinen breiten Widerstand gegen Präsident Kais Saieds autoritäre Tendenzen gibt

vom Recherche-Kollektiv Afrika-Reporter:
9 Minuten
Eine Tränengaskartusche taucht einen Teil einer breiten, leeren Straße in Rauchschwaden. Rechts und links stehen einige Menschen

Das Innenministerium hatte groß aufgefahren am 14. Januar, dem elften Jahrestag der Flucht des ehemaligen Machthabers Zine El Abidine Ben Ali. Wasserwerfer auf der einen Seite, Polizisten mit Schlagstöcken und Tränengas auf der anderen. Von allen dreien machten sie reichlich Gebrauch: Journalistïnnen und Demonstrierende wurden teils brutal zusammengeschlagen, in Gewahrsam genommen, angezeigt. Eine Person starb – mutmaßlich an den Folgen eines Übergriffs durch die Sicherheitskräfte, werfen seine Familie und Anwälte dem Innenministerium vor.

Dabei standen der Polizei kaum mehr als tausend eigentlich friedliche Demonstrantïnnen gegenüber. Doch am Vortag war kurzfristig ein Versammlungsverbot in Kraft getreten, offiziell auf Grund der anrollenden fünften Corona-Welle – wie schon im Vorjahr am Jahrestag der Revolution, an dem traditionell verschiedene Gruppierungen in der Innenstadt von Tunis demonstrieren. Diese war dieses Jahr abgeriegelt, der Zutritt zur Hauptstraße, wo auch das imposante Innenministerium steht, verboten.

Gemeinsam einzeln demonstrieren

Parteien, politische Bündnisse, zivilgesellschaftliche Zusammenschlüsse hatten aufgerufen, an diesem Freitag für eine Rückkehr zu demokratischen Verhältnissen auf die Straße zu gehen. Fünf waren es an der Zahl, alle riefen zur gleichen Zeit zu Protesten am gleichen Ort auf, allerdings nicht gemeinsam.

Was sie spaltet? In erster Linie die Haltung zu Ennahdha. Denn wie man es mit der islamisch-konservativen Partei hält ist nach wie vor in weiten Teilen der politischen Landschaft, aber auch in der tunesischen Gesellschaft, die Gretchenfrage: Muss man sie politisch einbinden, um eine Radikalisierung zu verhindern, oder sind alle ihre Bekenntnisse zu einem demokratischen, zivilen Staat nur Augenwischerei, zumal sie selbst in den vergangenen zehn Jahren nie die rechtsstaatlichen Garantien geschaffen hat, um einen Rückfall in ein autoritäres System zu verhindern – und unter deren Abwesenheit sie heute leidet?

An einer Polizeisperre stehen an diesem 14. Januar Nabil Hajji und einige weitere Politiker eines Bündnisses aus kleinen sozialdemokratischen Parteien. Mit den Sicherheitskräften zu verhandeln, ob sie sie durchlassen, haben sie aufgegeben. Sie stehen nur noch dort, um Präsenz zu zeigen. Hajji war Abgeordneter, bis Präsident Kais Saied bei seiner Machtübernahme am 25. Juli das Parlament kaltgestellt hat.

Eigentlich war der 14. Januar in den letzten zehn Jahren ein Feiertag. Doch Kais Saied hat ihn kurzerhand umgelegt, auf den 17. Dezember, den Tag der Selbstverbrennung Mohamed Bouazizis, die den Ausschlag für die Proteste gegeben hatte. Eine Symbolpolitik, die tief blicken lasse, findet Hajji. “Hätte es den 14. Januar nicht gegeben würde Kais Saied immer noch in seinem Viertel seinen Kaffee trinken und seine Schachtel Zigaretten rauchen. Er ist heute nur dank der Leute, die damals ihr Leben gelassen haben, Präsident. Doch der 14. Januar war der Tag der Flucht des Diktators, und da er heute auf dem Weg ist, einer zu werden, macht ihm dieses Datum Angst.“

Ein Demonstrant schreibt auf Arabisch „Bewegung 17 – 14“ auf eine Pappe.
Den 17. Dezember und den 14. Januar kann man nur gemeinsam denken, finden viele Kritiker des Präsidenten

Man müsse sich gemeinsam an einen Tisch setzen, um einen Kompromiss zu finden, einen Ausweg aus der Krise. Doch Kais Saied „hört niemandem zu, außer dem internationalen Währungsfond und den wenigen internationalen Partnern, auf die er angewiesen ist. Und denjenigen, die ihm applaudieren. Wer ihn kritisiert, wird angegriffen.“

Hungerstreik „für die Demokratie“

Ähnlich lautet die Diagnose bei dem Zusammenschluss „Bürger gegen den Putsch“. „Saied hört niemandem zu, attackiert alle, und das in einem sehr drohenden, aggressiven Tonfall“. Schlimmer als unter Ben Ali sei es, so Ajmi Lourimi, einer der historischen Köpfe von Ennahdha. Mehr als drei Wochen war er im Hungerstreik, ebenso wie Yosri Daly. Der Psychologie-Dozent saß zuletzt für die islamistisch-rechtspopulistische Karama-Bewegung im Parlament. „Wir wissen, dass Saied rigide ist in seiner Denke.“ Daly spricht von Kommunikationsunfähigkeit, Größenwahn und Paranoia des Präsidenten. Immer wieder muss er pausieren, Luft holen, sich vor Schmerz krümmen. „Wir streiken nicht für ihn, sondern für die wahren Demokraten.“

Auch ein linker ehemaliger Häftling aus der tunesischen Studentenbewegung der 60er und 70er Jahre war unter den Streikenden, und sogar Abderraouf Betbaieb, Diplomat im Ruhestand und ehemaliger Berater von Kais Saied, der bereits vor zwei Jahren nach nur wenigen Monaten an der Seite des Präsidenten sein Amt niedergelegt hatte. Über die Gründe will er nicht sprechen. Dienstgeheimnis. „30 Prozent meiner Initiative, am Hungerstreik teilzunehmen, waren gegen den Putsch gerichtet, und 70 Prozent waren ein Appell an die verschiedenen politischen Akteure, vor allem an diejenigen, die sich selbst als ‚demokratisch‘ bezeichnen, zur Vernunft zu kommen und sich an einen Tisch zu setzen und zu reden.“

Die tunesische Demokratie sei „balkanisiert“. Hätte es eine geeinte demokratische Front gegeben, wäre es nie zum 25. Juli gekommen, ist Betbaieb überzeugt. Deshalb bräuchte es sie heute um so mehr. Der Hungerstreik habe Leute an einen Tisch gebracht, „die sich vorher auf der Straße abgewandt haben, wenn sie sich begegnet sind. Sie haben sich in die Augen gesehen, gestritten und zugehört. So müssen wir die Dinge in Ordnung bringen.“

Ein Mann sitzt auf einem Stuhl, ein weitere neben ihm auf einer Matratze auf dem Boden. Sie halten die Hände zum Victory-Zeichen in die Luft. An der Wand hängen Plakate mit den Bildern festgenommener Politiker.
Ajmi Lourimi (l.) und Yosri Daly fordern von Kais Saied die Rückkehr zur verfassungsgemäßen Ordnung – doch stehen selbst wegen der Rolle ihrer Parteien in der Vergangenheit in der Kritik.