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Feliciano Lana: Der indigene Künstler, der die Geschichte der Weißen erzählt
Vom Studienobjekt zum Erzähler: Der indigene Künstler Feliciano Lana Sibé dreht den Spieß um
Der Künstler aus der oberen Rio-Negro-Region Amazoniens war einer der ersten, der mit Pinsel und Farben seine Kultur sichtbar machte – selbst die unsichtbaren Geister. Jetzt zeigt das Humboldt Forum in Berlin seinen Bildzyklus über die Ankunft der Weißen. Ein Porträt.

Für die Weißen war er ein Lehrer, ein Übersetzer. Seine indigenen Künstler-Kollegen nannten ihn kenhiporã: Sohn der Traumzeichnungen. Als Feliciano Lana mit etwa 30 Jahren begann, die alten Geschichten und Traditionen seines Volkes in Bild und Wort festzuhalten, entstand ein neuer Bildkosmos mit eigener Sprache. Noch bis 1. Juni 2026 zeigt das Humboldt Forum in Berlin seinen eigens geschaffenen Zyklus „Die Geschichte der Weißen“. Besuchen konnte Feliciano Lana die Ausstellung nicht. Er starb 2020 an Covid.
Geboren wurde Feliciano Pimentel Lana Sibé 1937 in der kleinen Desana-Gemeinde São João Batista am Fluss Tiquié, im Nordwesten Brasiliens. Sein Vater Manuel Lana ist Desana (siehe Kasten). Seine Mutter Paulina Pimentel gehört der Tukano-Sprachgruppe an. Sie geben ihm den Namen Sibé, was so viel bedeutet wie „Sohn der Sonne“. Denn es ist seine Bestimmung, kumu zu werden, ein Weiser.
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Missionare erziehen ihn mit Gewalt
Mit vier Jahren wird Sibé ins Internat der Salesianer-Missionare geschickt. Es ist seine erste Begegnung mit der Welt der Weißen. Und die ist traumatisch: Dort erhält er seinen christlichen Namen Feliciano Lana. Dazu bekommt er einen militärischen Kurzhaarschnitt und westliche Kleidung verpasst.
In der Internatsschule kommen etwa 100 Kinder aus 22 unterschiedlichen indigenen Gruppen zusammen. Sie werden gezwungen, Portugiesisch zu sprechen. Wer seine Sprache benutzt, bekommt den Mund mit Seife ausgewaschen. Die Kinder müssen mithelfen, das Internat zu erbauen – und dafür schwere Ziegel schleppen.
Zum normalen Lehrplan der nicht-indigenen Schulen in der Stadt hinaus gibt es Werkstätten, in denen die Priester die Jungen zu Schreinern oder Mechanikern und die Mädchen als Schneiderinnen ausbilden.


Das Internatsessen macht die Kinder krank
Ein weiteres Problem ist das Essen im Internat. Es ist ungewohnt fett und remoso. So bezeichnen die Indigenen Nahrungsmittel, die als gesundheitsschädlich gelten, weil sie das Blut verschmutzen, Allergien hervorrufen oder Infektionen auslösen. Dazu gehören gegrilltes oder verbranntes Fleisch.
Die Schulkinder werden krank. Der Vater muss Sibé nach Hause holen. Die Familie erkennt, dass die Bestimmung des Jungen, ein kumu, ein Weiser zu werden, sich nicht mit der Schulnahrung verträgt.
Deshalb muss der Großvater diese Bestimmung aus seinem Körper „herausziehen“. Denn die Schulbildung ist für die Familie wichtig. Sibé kehrt ins Internat zurück.
Erster Kontakt mit der Malerei
Dort lernt er zeichnen und erfährt etwas über Proportionen, Perspektive, geometrische Konstruktion, Komposition, Licht und Schatten. Nach den sechs Jahren Grundschule hätte er gerne weitergelernt. Doch niemand erzählt ihm von einer weiterführenden Schule.
Also arbeitet er mit elf Jahren zunächst mit seinem Vater auf dem Bau. Dann geht er wie viele andere Indigene seiner Region nach Kolumbien, um Kautschuk zu zapfen und Gold zu schürfen.
Als er nach fünf Jahren in seine Heimatregion zurückkehrt, heiratet er die indigene Joaquina Machado und hat mehrere Kinder mit ihr. Er nimmt Gelegenheitsarbeit auf Plantagen an, arbeitet als Maurergehilfe, Telegrafist, Ziegler und in Minen. Mitte der 1960er Jahre ergibt sich eine Zusammenarbeit mit dem Salesianerpater Casimiro.
Der heißt eigentlich Kazys Jurgis Béksta und stammt aus Litauen. Pater Casimiro will die untergehende Kultur der Völker des Oberen Rio Negro dokumentieren und drückt Feliciano Lana eine Kamera in die Hand.
Wie fängt man unsichtbare Geister ein?
Lana fotografiert die Weisen (kumua) bei ihren Segenssprüchen. Er dokumentiert rituelle Tänze und schickt die Filme zum Entwickeln nach Manaus zu Pater Casimiro. Doch die fotografischen Darstellungen scheinen Lana nicht angemessen, denn sie konnten nicht das Universum dahinter zeigen. Im Interview mit Filmemacher Thiago Oliveira erinnert er sich so daran:
„Dann dachte ich: Ob er das wohl versteht, dieser Priester Casimiro? Damit er das versteht, nehme ich mir lieber ein Heft und zeichne. So malte ich den Donner eines bestimmten Ortes, […] bis hin zum Donner im Zentrum des Himmels. So kam es, dass ich zu zeichnen begann.“
In seiner Kunst verschmilzt er die westliche Bildung mit seinem indigenen Wissen. Das Zeichnen von unsichtbaren Wesen stellt den Künstler vor echte Herausforderungen, wie die Professorin für Bildende Kunst Larissa Menendez im Katalog zur Ausstellung schreibt.
Pater Casimiro berichtet, dass Lana ihn um transparentes Papier bat, um Geister darzustellen. Doch dann entscheidet er sich dafür, die Weltschöpfer in Form und Gouache-Farbe darzustellen, so auch die Großmutter des Universums.

Sein Familienerbe: das spirituelle und kulturelle Wissen weitergeben
Ende der 1970er Jahre taucht die brasilianische Ethnologin Berta Gleizer Ribeiro am oberen Rio Negro auf, die langjährige Leiterin des Museu do Índio in Rio de Janeiro. Sie entdeckt das Talent der Familie Lana. Denn auch Felicianos Cousin und sein Vater fassen bereits die Entstehung der Welt in Wort und Bild.
Ribeiro erkennt, dass diese Familie mit dem katholischen Namen Lana zu einer Gruppe gehört, die das spirituelle und kulturelle Wissen hütet. Sie werden kenhiporã genannt, „Söhne der Traumzeichnungen“. Sie sind dazu bestimmt, das kollektive Wissen und kosmologische Vorstellungen weiterzugeben, die ihnen in Träumen offenbar werden. Mit Unterstützung von Berta Ribeiro entsteht das Buch Antes o mundo não existia (Früher existierte die Welt nicht). Es gilt heute als Beispiel für eine frühe partizipative Forschung.


Flucht vor der Gewalt
In den 1980er Jahren dringt der illegale Bergbau an den Rio Tiquié vor – und mit ihm Goldsucher und Militärs. Viele der Indigene arbeiten in den Minen oder produzieren Maniokmehl, um die Goldgräber zu versorgen. Die Goldvorkommen ziehen viele Händler an, die dort Geschäfte machen. Unruhe und Gewalt halten Einzug in den indigenen Dörfern und neue Waren.
Daher verlässt Lana den Rio Tiquié und zieht Mitte der 1990er Jahre nach São Gabriel da Cachoeira. Dort lebt er allein mit seiner Familie auf dem Berg nahe der alten portugiesischen Festung, die auf eine Verengung des Rio Tiquié hinabblickt. Einen mythischen Ort.

Als seine Frau stirbt, verlässt Lana den Festungsfelsen und zieht an den Stadtrand von São Gabriel. Trotzdem besuchen ihn dort viele Menschen, weil er auch als Heiler arbeitet.
Endlich fragt jemand nach der Geschichte der Weißen
Heute sind Lanas Werke sehr gefragt für Ausstellungen in brasilianischen, aber auch in europäischen Museen. Als Andrea Scholz und Thiago de Oliveira, die Kuratoren der Ausstellung im Humboldt-Forum, den Künstler 2019 in São Gabriel da Cachoeira treffen, lebt er allein in einem baufälligen Haus in einem abgelegenen Stadtteil. „Er war trotz seines Alters – damals schon über 80 – sehr agil und daran interessiert, Geschichten zu erzählen“, sagt Andrea Scholz.
Scholz und de Oliveira schlagen ihm vor, einen Bilderzyklus über die Geschichte des Kontaktes zwischen Weißen und Indigenen anzufertigen. Das gefällt dem Künstler. „Jeden Tag arbeite ich mit Wissenschaftlern, Journalisten, Filmemachern, Ethnologen“, erklärt ihnen Lana, „aber kein einziges Mal haben sie mich nach der Geschichte der Weißen gefragt! Nichts dergleichen. Jetzt, hier haben wir sie, die Geschichte der Weißen.“
Mit Begeisterung macht er sich ans Werk. Der erste Teil des Zyklus mit 30 Bildern entsteht innerhalb von zwei Wochen. Den zweiten Teil schafft er in der zweiten Jahreshälfte 2019 und übergibt sie zusammen mit einem Notizbuch mit kurzen Erläuterungen an das Instituto Socioambiental.
Lanas Werk ist eine Datenbank voll magischen und alltäglichen Wissens. Es muss studiert, bewahrt und geteilt werden, besonders für die zukünftigen Generationen.
Denilson Baniwa, brasilianischer Künstler
Alles beginnt mit einer schlechten Wahl
Sein Zyklus beginnt in der mythischen Zeit mit dem Motiv der schlechten Wahl, das bei vielen Ethnien verbreitet ist. Es erklärt, warum die Indigenen ihre traditionellen Waffen (oder wie hier im Bild den Zeremonialstab) wählten und die Weißen zum Gewehr griffen.
Denn die Desana-Ursprungsmythe erzählt, dass das Anakondaboot nicht nur Indigene, sondern auch einen Weißen an den Fluss Vaupés brachte. Dort liegt das zentrale Langhaus der Welt. „Sie kamen als Brüder an“, erzählt Lana.

Doch dann verpatzt es der Weiße. Im heiligen Langhaus feuert er sein Gewehr ab. Daraufhin wird er verbannt. Doch die Weißen kommen immer wieder: Mit Karavellen landen sie an den Ufern Brasiliens, sie kommen als „Entdecker“, Missionare, Kautschukpatrone, Goldsucher und Forschende.

Die Geschichte der Weißen und Indigenen – immer wieder Gewalt
Feliciano Lanas Zeichnungen zeigen Misshandlungen und ungleichen Tauschhandel, aber auch, wie sich die Gemeinde zum Kampf gegen die Goldsucher rüstet. Und ein paar Bilder weiter die drei weißen Goldsucher. Lana kennt ihre Namen. „Sie starben, weil der Schamane alles richtig gemacht hatte“, kommentiert er sein Bild lakonisch.

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Abgründe mit Witz und Tiefe
Dennoch ist Lanas Kunst in ihrer Direktheit nicht auf politische Anklage aus. Sie dokumentiert die lokale Geschichte und funktioniert dabei viel subtiler, indem sie auf ihre lakonische Art die wahren und die tiefen Geschichten des kollektiven Gedächtnisses der Desana erzählt.
Diese Geschichten sind zum Lachen und zum Weinen gleichzeitig. In der Verschränkung der persönlichen, mythischen und historischen Ebenen wird das Fortbestehen von kolonialer Gewalt sichtbar.

Ein vorzeitiger Tod – wegen Covid-19
Seine Ausstellung hat Feliciano Lana nicht mehr sehen können. Am 12. Mai 2020 erliegt Feliciano Lana Sibé in São Francisco einer Covid-19-Infektion.
Für indigene Künstler und Wissenschaftler gilt er als wichtiger Botschafter der indigenen Welt und seine Arbeit als bahnbrechend.
„Für mich ist er immer noch derjenige, der mir die Möglichkeit gab, ein Künstler zu sein“, sagt der Künstler Denilson Baniwa „Er gab mir die Möglichkeit zu verstehen, dass die (indigene) Geschichte und die Baniwa- und Tukano-Götter genauso wichtig sind wie die Götter Neptun, Aphrodite und Zeus. Und dass die indigene Erzählung und visuelle Geschichte des Rio Negro genauso wichtig ist wie jede andere visuelle Erzählung eines anderen Landes oder einer anderen Zivilisation.“
Der Tukano-Wissenschaftler João Paulo Baretto beschreibt es so: „Durch die Sprache der scheinbar einfachen Zeichnungen – die manchmal als naiv, kindlich und ohne ästhetisch-akademische Strenge angesehen werden – hat er auf dem Papier eine indigene Theorie für ein größeres Publikum entwickelt, das die Tiefe seiner Arbeit erst noch verstehen muss.“