Taurin: Verlängert der Stoff aus Energy Drinks wirklich das Leben und stoppt das Altern?
Wie sich irreführende Schlagzeilen zu Gesundheitsthemen durchschauen lassen

Anfang Juni waren in vielen Medien solche Überschriften zu sehen: „Nahrungsergänzung mit Taurin verlängert Leben“. Die Berichte stützten sich auf eine wissenschaftliche Veröffentlichung, die am 8. Juni im Fachmagazin Science erschienen ist. Darin hat ein Forschungsteam eine Reihe von Experimenten, unter anderem an Mäusen und Affen, beschrieben. Im Fokus stand dabei die Substanz Taurin, die natürlich im Körper und in einigen tierischen Lebensmitteln vorkommt, aber auch in Energy-Drinks enthalten ist.
Das Ergebnis der Experimente: Tiere, die mit Taurin gefüttert wurden, erkrankten seltener und zumindest die Mäuse lebten auch etwas länger. Dieser Befund passt auch zu weiteren Laboruntersuchungen: Darin hatte Taurin einen positiven Einfluss auf molekulare Marker, die die Forschung mit Altern in Verbindung bringt. Das Forschungsteam hat außerdem Daten einer großen Beobachtungsstudie mit Menschen nachanalysiert und in dieser Stichprobe festgestellt, dass sich bei den Teilnehmenden im Laufe des Lebens immer weniger Taurin im Blut findet.
Sollten wir also alle am besten gleich 100 Dosen Energydrinks kaufen? Besser nicht. Denn natürlich ist die Publikation kein Beleg dafür, dass Menschen von der Einnahme von Taurin profitieren. Dafür bräuchte es zusätzliche Studien, die diese Frage untersuchen. Dieser Hinweis findet sich übrigens schon in der Science-Publikation.
Eine solche Klarstellung wäre auch an prominenter Stelle in der Berichterstattung über die Forschungsergebnisse angebracht gewesen. Was würde sich da mehr anbieten als die Überschrift? Aber was da zu lesen war, war zum Teil wirklich haarsträubend.
Was steckt dahinter?
Bei den Schlagzeilen über die Taurin-Studie findet sich ein breites Spektrum:
- Einige waren eindeutig sensationsheischend: „Krasse Studie: Dieser Wirkstoff könnte ihr Leben verlängern“ oder „Der Traum vom ewigen Leben: Aminosäure Taurin bringt ihn etwas näher“.
- Nur wenige erwähnten bereits in der Überschrift, dass es sich lediglich um Tierversuche handelt („Taurin verlangsamt Alterung bei Mäusen“), einige nutzten zumindest einen Konjunktiv, um offene Fragen zu signalisieren („könnte das Altern bremsen“). Andere dagegen formulierten forsch „Taurin-Gabe verlängert Leben“ – die Auflösung gab es dann erst im Text.
- Dass Taurin in vielen Energy-Drinks enthalten ist, ließ kaum ein Medium aus. Das führte manchmal zu etwas unbedarften Schlagzeilen: „Sind Energy-Drinks etwa doch gesund?“ oder „Lassen uns Energy-Drinks länger leben?“. Verschwiegen haben die Überschriften aber, dass Energy-Drinks in der Studie gar nicht getestet wurden. Erfahrene Nachrichten-Leser:innen kennen außerdem die journalistische Grundregel: Wenn die Schlagzeile eine Frage stellt, lautet die Antwort meistens „Nein“.
Wo informieren?
Welche Informationen und Überlegungen helfen, Schlagzeilen in den Medien auf den Zahn zu fühlen, die über neue Studienergebnisse zu Gesundheitsfragen berichten?
Woran lassen sich aussagekräftige Studien erkennen?
Nicht jede Studie trägt tatsächlich zu gesichertem Wissen in der Medizin bei. Wenn es um Behandlungen geht, müssen verlässliche Studien eine Reihe von Anforderungen erfüllen: Zum Beispiel, dass sie tatsächlich Menschen und nicht nur Tiere untersuchen. Dass sie die Behandlung mit einer anderen oder keiner Behandlung vergleichen und dieser Vergleich auch fair ist. Und natürlich muss die Studie auch das messen, was wirklich wichtig ist.
Wenn es darum geht, auf der Basis von Studienergebnissen (im Idealfall anhand einer verlässlichen Zusammenfassung aller relevanten Studien) eine Gesundheitsentscheidung zu treffen, lohnt es sich auch zu fragen: Welche Wissenslücken gibt es zu diesem Thema noch?
Wie ließe sich mehr zum Nutzen von Taurin herausfinden?
Forschung, die Gesundheit oder Krankheiten mit einzelnen Blutwerten in Verbindung bringt (nicht nur Taurin, sondern auch Vitamin D oder ähnliches), ist oft eine Schlagzeile wert, aber nicht immer aussagekräftig. Denn nur, weil sich statistisch ein Zusammenhang zeigt (Korrelation), ist das nicht automatisch ein Beleg für einen ursächlichen Zusammenhang (Kausalität). Außerdem: Je nach Studie lässt sich manchmal noch nicht mal sicher sagen, was die Ursache und was die Folge ist. In den Taurin-Experimenten gibt es bei Tieren gute Hinweise auf einen ursächlichen Zusammenhang. Aber ist das bei Menschen genauso? Das ist bisher nicht belegt.
Gesundheit und Krankheit entstehen in der Regel nicht durch einen einzigen Faktor, sondern oft durch eine ganze Reihe verschiedener Faktoren, die sich manchmal auch noch gegenseitig beeinflussen. Das gilt umso mehr, je komplexer ein Organismus ist. Wie zum Beispiel der menschliche.
Um einen Nutzen von Taurin beim Menschen sauber nachzuweisen, bräuchte es deshalb eine große gut gemachte vergleichende Studie von ausreichender Dauer. Sie könnte zum Beispiel so aussehen:
Nach dem Zufallsprinzip würde die eine Hälfte der Teilnehmenden Taurin einnehmen (dabei wäre noch zu klären, in welcher Dosis), die andere ein Placebo. Die Forschenden würden dann beobachten, in welcher Gruppe Menschen früher versterben oder bestimmte Krankheiten entwickeln. Welche das sein könnten, ist gar nicht so trivial, denn körperliche Veränderungen mit zunehmendem Alter sind sehr individuell und oft entstehen Krankheiten nicht durch das Alter allein. Studien, die nur Blutwerte testen, wie es zum Beispiel diese brasilianische Studie gemacht hat, helfen bei der Frage nach dem Nutzen von Taurin nicht weiter. Und auch die Nebenwirkungen einer jahrzehntelangen Einnahme müsste man untersuchen.
Wenn man bedenkt, dass es viele Faktoren gibt, die Gesundheit und Krankheit beeinflussen, wird der Effekt von Taurin – selbst wenn ein ursächlicher Zusammenhang belegt wäre – wahrscheinlich nicht riesig sein. Dann müsste eine solche Studie sehr, sehr viele Menschen untersuchen und würde Jahrzehnte dauern.
Was sich zu Taurin sonst noch zu wissen lohnt
Bisher sind für Nahrungsergänzungsmittel mit Taurin wegen fehlender Belege keine gesundheitsbezogenen Aussagen erlaubt. In Deutschland sind in Erfrischungsgetränken bis zu vier Gramm Taurin pro Liter erlaubt. Als gesundheitlich unbedenklich gelten bis zu sechs Gramm Taurin pro Tag. Allerdings warnt die Verbraucherzentrale, dass bei übermäßigem Konsum von Energy-Drinks besonders durch das ebenfalls enthaltene Koffein gesundheitliche Probleme entstehen können – besonders gefährdet sind Teenager.
Wie lassen sich Schlagzeilen kritisch hinterfragen?
- Es lohnt sich, sich nicht auf die Schlagzeilen zu verlassen, sondern den ganzen Artikel zu lesen. Das hilft nicht immer, bei Taurin hätte das in vielen Fällen den Eindruck der Schlagzeile aber zumindest gemildert. Was auch etwas bringt: Die Schlagzeilen von seriösen Medien vergleichen. Finden sich da bereits Relativierungen und Konjunktive, ist das ein guter Anhaltspunkt dafür, dass es für Euphorie noch zu früh ist. Zu manchen Themen gibt es vielleicht auch Bewertungen beim Medien-Doktor. Diese Initiative prüft die Berichterstattung von Medien zu wissenschaftlichen Themen.
- Außergewöhnliche Behauptungen erfordern außergewöhnlich gute Belege. Medienberichte sollten auch erklären, wie die vermeintlich sensationellen Ergebnisse zustande gekommen sind: Waren es Tierversuche oder eine klinische Studie? Wie war die angelegt? Gibt es bereits eine wissenschaftliche Publikation oder nur eine Pressemitteilung? Wenn solche Angaben fehlen oder die Beleglage doch eher dünn ist, lassen sich daraus die richtigen Schlussfolgerungen ziehen.
- Einfache Lösungen sind selten: Den meisten Menschen ist vermutlich klar, dass bei Gesundheit und gesundem Altern viele Faktoren eine Rolle spielen. Und oft gehören dazu so unbequeme Antworten wie ein gesunder Lebensstil, genügend Bewegung, ausgewogene Ernährung, genügend Schlaf. Dass im komplexen System Mensch eine einzige Stellschraube wie zum Beispiel Taurin ausreichen soll, um Krankheiten zu verhindern und das Altern aufzuhalten, ist dann doch eher unwahrscheinlich.
Dieser Text wurde am 16. Juni 2023 als Newsletter verschickt. Der Newsletter von Plan G erscheint zweimal im Monat. Er hilft dir mit konkreten Infos und Tipps, bessere Gesundheitsentscheidungen zu treffen.