Niklas Boers: Neue Klimamodelle für verlässliche Zukunftsszenarien

Der Klimaforscher Niklas Boers optimiert Klimamodelle, um extreme Wetterereignisse und mögliche Kipppunkte im Erdsystem besser vorhersagen zu können – aus tief empfundener Verantwortung für künftige Generationen.

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Prof. Dr. Niklas Boers, TU München

Nein, ein Bild von sich im Amazonas-Regenwald möchte Freigeist-Fellow Niklas Boers nicht. „In den Amazonas gehören westlich sozialisierte Menschen nur wenn es für Forschungszwecke absolut notwendig ist“, sagt Boers. „Einladungen dort hinzufliegen habe ich immer ausgeschlagen.“ Für ihn ist klar: „Dem Ökosystem ginge es gut, gäbe es uns nicht.“

Dabei hat der Erdsystem-Wissenschaftler erst 2022 eine der wichtigsten Studien zur Widerstandsfähigkeit dieses Regenwalds veröffentlicht, der durch Klimawandel und Abholzung bedroht ist.

Ein Bild vor einem schmelzenden Gletscher in den Alpen hingegen würde gut zu ihm passen: Als begeisterter Skitouren-Geher war Boers während seines Physik- und Mathematikstudiums an der Ludwig-Maximilian-Universität München oft schon früh morgens auf Tour, mit „feinstem Pulverschnee, selbst in den wirklich nicht sehr hohen bayrischen Voralpen“. Doch in den letzten Jahren gab es viel weniger Tage, an denen das noch möglich gewesen wäre, „die Winter waren einfach zu warm“.

Die Stabilität des grönländischen Eisschilds, der atlantischen Umwälzströmung, und eben des Amazonas-Regenwaldes hat der Mathematiker im Rahmen des EU-Projekts Tipping Points in the Earth System (TiPES) und seines Freigeist-Fellowships untersucht: „Bei keinem dieser Systeme wissen wir sicher, ob sie durch den menschenverursachten Klimawandel ‚abrupt kippen‘ könnten und es ist praktisch unmöglich, eine Wahrscheinlichkeit anzugeben, wann das passieren würde“, sagt er. „Aber trotzdem wird es bei zunehmender Erwärmung wahrscheinlicher“.

Von allen vermutlichen Kippelementen seien die Altantikzirkulation, der Amazonas, und die polaren Eisschilde die wahrscheinlichsten: „Obwohl das Kippen hochgradig unsicher ist, wäre es so katastrophal, dass wir es uns nicht leisten können, diese Möglichkeit zu ignorieren“, hält Boers fest. Dazu verpflichte auch die Gerechtigkeit im Namen künftiger Generationen.

Tun, was zählt

Wie der Mensch nachhaltig im Einklang mit seiner Umwelt leben kann – „das treibt mich schon lange um“, erzählt Niklas Boers. Während seines Studiums sei er für eine Weile in die Mathematik „mit ihrer schönen, klaren Abstraktheit und Präzision abgedriftet“. Er habe viel gelernt, doch mit Beginn seiner Dissertation fühlte er sich wie in einer Sackgasse: „Ich fand, es war nicht meine Lebensaufgabe, Lösungen für Probleme zu finden, die nur wenige interessieren“.

2009 besuchte Boers auch den Weltklimagipfel in Kopenhagen, der damals die hochgesteckten Erwartungen der Entwicklungsländer bitter enttäuscht hatte. „Es war allen klar, dass hier etwas mit 180 Stundenkilometer gegen die Wand fährt“, erinnert er sich, „es machte mich wütend, dass ein offensichtliches Problem nicht angegangen wurde“. Er wollte seine Fähigkeiten so einsetzen, dass sie helfen würden, eine für die Menschen nachhaltige Zukunftsvision zu entwerfen.

Er brach seine Dissertation in Mathematik nach drei Monaten ab und startete am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) mit einer neuen Dissertation in theoretischer Physik, die sich mit der netzwerkbasierten Modellierung und Vorhersage von Starkregen-Ereignissen befasste und langfristig eine bessere Implementierung von Niederschlagsereignissen in Klimamodellen ermöglichen sollte. „So konnte ich halbwegs theoretisch arbeiten und trotzdem relevante Probleme lösen“, sagt Boers.

Als Postdoc arbeitete er in Paris und London an der Modellierung von nichtlinearen Phänomenen im Erdsystem, wobei er sich zunächst lange zurückliegenden abrupten Klimaänderungen zuwandte, die in Eisbohrkernen festgehalten sind. Zu seinen Betreuern Michael Ghil an der Ecole Normale Supérieure de Paris und Brian Hoskins am Imperial College in London entstand ein sehr gutes Verhältnis: „Sie haben mich so unterstützt, dass ich meinen Weg gefunden habe.“ In London schrieb Boers den Antrag für das von der Europäischen Kommission finanzierte Projekt Tipping Points in the Earth System, das er seit 2019 am PIK gemeinsam mit der Universität Kopenhagen koordiniert.

Wissenschaftlicher Shootingstar

2019 überstürzten sich die Ereignisse: Im Frühjahr erhielt der Nachwuchswissenschaftler ein Angebot für eine Professur in Norwegen. Im Juni kam ein Ruf der University of Exeter auf eine Professur hinzu, und nur drei Tage später erreichte ihn die Zusage der VolkswagenStiftung für ein Freigeist-Fellowship. Seit 2020 setzt er sein Freigeist-Projekt Predicting abrupt transitions and extreme events in the Earth system um. Die Stelle in Exeter wurde in Folge in eine Ehrenprofessur in Mathematik umgewandelt. Am PIK leitet er seit 2019 das Future Lab für Künstliche Intelligenz im Anthropozän.

Seit Herbst 2021 ist Niklas Boers Professor für Erdsystemmodellierung an der TU München. Hier arbeitet er an einer „großen Herausforderung“ der Klimaforschung: Ein Erdsystemmodell für klimatische Vorhersagen zu bauen, dessen Teilmodelle mit Methoden des maschinellen Lernens verbessert werden. Die Arbeiten der Teams laufen über ihn zusammen, wobei die Teams in München und am PIK stark miteinander verknüpft sind.

„Sehr kompliziert“ – die Balance zwischen Arbeit und Familie finden

Während des Lockdowns lief die Team-Arbeit über Zoom. Inzwischen finden nur noch größere Meetings online statt, Präsenz ist gefragt. Zeitmanagement ist etwas, an dem Boers noch arbeitet: „Ich habe kein Rezept für eine gute Balance zwischen Arbeit, Zeit mit Doktorandinnen und Doktoranden und andererseits mit meiner Familie“, gesteht er, „das finde ich sehr kompliziert.“

Mit Hochdruck arbeitet Boers daran, die aktuellen Klimamodelle zu verbessern. Er befürchtet, dass einige Prozesse in diesen Modellen zu stabil sein könnten, dass Extremereignisse nicht gut wiedergegeben werden und dass die Modelle zu stark an die Beobachtungsdaten der vergangenen 150 Jahre angepasst sind: „Das ist sicherlich ein Problem.“

Sein hybrides Modell soll die physikalischen Grundgleichungen des Erdsystems, soweit wir sie kennen, mit Hilfe von Maschinellem Lernen mit Informationen aus empirischen Daten kombinieren. Dabei geht es ihm nicht in erster Linie darum, die derzeit leistungsstärksten Exascale-Rechner „auf ihr Maximum hochzufahren, nur weil wir es können“. Sein wissenschaftlicher Ehrgeiz besteht eher darin, die notwendigen Berechnungen möglichst effizient zu gestalten, „denn ab einem gewissen Punkt wird es wieder klimarelevant, wieviel man rechnet“.

IPCC: Sonderbericht zu Kipppunkten?

Gemeinsam mit dem Schweizer Klimaforscher Thomas Stocker und anderen Kollegen setzt er sich für einen Sonderbericht zu Kipppunkten des Weltklimarats IPCC ein. Ein ausgewogener wissenschaftlicher Bericht sei wichtig, um die Risiken vernünftig einschätzen zu können und die „überhitzte Debatte zu Tipping Points wieder auf einen soliden wissenschaftlichen Boden zu bringen“.

Die Frage der Klimagerechtigkeit treibt ihn „emotional um“. Doch Aussagen wie „wenn wir nicht bis 2030 klimaneutral sind, dann wird die Atlantische Meereszirkulation 2050 kollabieren“ hält er wegen der großen Unsicherheiten für „sehr problematisch“: „Für solche Aussagen fehlt uns die wissenschaftliche Evidenz“.

In der Gesamtsumme der wissenschaftlichen Erkenntnisse sei aber klar: „Je später man anfängt ernsthaft auf Klimaneutralität hinzuwirken, desto teurer wird es, desto mehr Leid entsteht, und desto größer wird auch die Wahrscheinlichkeit, dass doch ein Kipppunkt überschritten werden könnte.“ Seine Rolle sieht Niklas Boers darin, zu zeigen, was die Auswirkungen menschlichen Handelns auf den Planeten realistischerweise sein könnten. Am Ende bleibt er „sehr optimistisch, dass wir als Menschheit das Ruder noch herumreißen können“.

Dieses Portrait wurde im Auftrag der VolkswagenStiftung geschrieben.

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