Schlechte Daten, zu wenige Studien: Wie lassen sich dann gute Gesundheitsentscheidungen treffen?

Wenn zu einer Gesundheitsfrage solide Evidenz fehlt, sind Entscheidungen oft schwierig. Wie geht es trotzdem – oder lohnt es sich, doch auf bessere Daten zu warten?

vom Recherche-Kollektiv Plan G:
8 Minuten
Auf einem U-Bahn-Gleis steht „Mind the gap“.

Mehr Informationen zum Projekt „Plan G: Gesundheit verstehen“ finden Sie auf der Spezialseite Besser entscheiden in Sachen Gesundheit.

Gute Gesundheitsentscheidungen stützen sich im besten Fall auf gute Daten aus klinischen Studien, kurz: ausreichende Evidenz. Allerdings gibt es die nicht immer. Wie kann man dann vernünftige Entscheidungen treffen?

Darüber hat Plan G mit Michaela Eikermann gesprochen. Die promovierte Ärztin leitet den Bereich Evidenzbasierte Medizin beim Medizinischen Dienst (Bund) und ist damit auch für den IGeL-Monitor verantwortlich. Dieses Online-Angebot bewertet individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL), die Patient:innen in der Arztpraxis selbst bezahlen müssen.

Zu Beginn der Corona-Pandemie haben wir es alle erlebt: Wir mussten Gesundheitsentscheidungen treffen, obwohl gute Daten fehlten. Auch beim IGeL-Monitor müssen Sie Bewertungen erstellen, wenn medizinische Behandlungen oder Untersuchungsmethoden noch nicht umfassend untersucht sind. Wie würde denn dafür die ideale Evidenz aussehen?

Für Behandlungen oder Früherkennungsuntersuchungen steht auf unserer Wunschliste ganz oben eine methodisch hochwertige randomisierte kontrolllierte Studie mit möglichst wenig Verzerrungspotenzial. Sie sollte außerdem ausreichend viele Patient:innen über einen angemessen langen Zeitraum untersuchen. Allerdings finden wir solche Studien nicht immer.

Weshalb fehlen solche Studien?

Bei den IGeL liegt es ein bisschen in der Natur der Sache, wenn es keine aussagekräftigen Studien gibt. Es hat ja einen Grund, dass sie keine Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung sind: Oft zum Beispiel, weil der Beleg für einen Nutzen noch nicht erbracht ist.

In manchen Bereichen besteht aber offensichtlich kein großes Interesse, noch Studien durchzuführen, zum Beispiel wenn eine Leistung in der Versorgung schon etabliert ist. Da gibt es also wenig Motivation, genau hinzuschauen, ob die Maßnahme etwas bringt oder nicht. Denn solche Studien bedeuten immer Aufwand und kosten meist viel Geld.

Das Bild zeigt Michaela Eikermann, die im Beitrag interviewt wird.
Dr. Michaela Eikermann leitet den Bereich Evidenzbasierte Medizin beim Medizinischen Dienst (Bund) und den IGeL-Monitor.

Was macht das Team des IGeL-Monitors, wenn es die ideale Evidenz nicht gibt?

Nehmen wir mal eine Früherkennungsuntersuchung: Am liebsten hätten wir da eine Studie, die die ganze Screening-Kette abbildet. Sie würde dann also mit Menschen starten, die keine Symptome der betreffenden Krankheit haben. Die unterziehen sich der Screening-Untersuchung, bekommen je nach Ergebnis dann eventuell weitere Tests und anschließend bei Bedarf eine Therapie. Die ideale Studie würde dann nach fünf, zehn oder noch mehr Jahren schauen, ob zum Beispiel mit Screening weniger Menschen gestorben sind als ohne Screening oder ob die Lebensqualität besser ist. Das bedeutet meist aufwändige Studien, weil man viele Menschen lange beobachten muss.

Wenn es solche Studien nicht gibt oder diese gerade noch laufen und wir aber nicht auf die Ergebnisse warten können, machen wir manchmal eine Hilfskonstruktion: Wir nehmen diese Screening-Kette auseinander und verbinden verschiedene Bausteine miteinander.

Was heißt das konkret?

Wir fragen als erstes: Bringt es etwas, wenn die Therapie früher startet? Dazu suchen wir zum Beispiel nach Therapiestudien mit Menschen, bei denen die Krankheit zufällig entdeckt wurde oder die nur sehr leichte Beschwerden haben. Das lässt sich dann oft mit der Situation beim Screening vergleichen. Wenn diese Studie zu dem Ergebnis kommt, dass die frühe Therapie tatsächlich Vorteile hat, können wir unter bestimmten Voraussetzungen daraus schon Schlussfolgerungen ziehen.

Was ist der zweite Baustein?

Wir bewerten danach die diagnostische Maßnahme. Also wie gut erfasst die Untersuchungsmethode Gesunde als gesund und Kranke als krank? Und funktioniert die Untersuchungsmethode auch genau so gut, wenn Menschen ohne Symptome oder sogar ohne Risikofaktoren untersucht werden?

Ist die Kombination der Bausteine dann genauso gute Evidenz wie die ideale Screening-Studie?

Nein, es ist nicht gleichwertig. Aber wir haben zumindest für viele Aspekte einen ersten einigermaßen brauchbaren Anhaltspunkt für die Bewertung. Allerdings können wir damit nicht alle Auswirkungen der Früherkennung bewerten, zum Beispiel mögliche Überdiagnosen. Überdiagnose bedeutet: Es wird eine Krankheit entdeckt, die der betroffenen Person zu Lebzeiten nie Probleme gemacht hätte. Das Risiko für Überdiagnosen durch die Früherkennung können wir nur mit einer gut gemachten idealen Screening-Studie verlässlich abschätzen.

Welche Folgen hat das dann für die Bewertung im IGeL-Monitor?

Wir weisen dann transparent darauf hin, dass es nur solche indirekte Evidenz gibt. Wir würden dann auch nicht vollmundig von Belegen für einen Nutzen sprechen, sondern eher etwas abgestuft von Hinweisen. Konkret hängt es aber immer davon ab, wie gut die Studienlage ist, die wir finden, wie gut sich die Ergebnisse zusammenfassen lassen und auch von der konkreten Fragestellung. Grundsätzlich werten wir diese Studienlage aber als schwächere Evidenz, weil sie nicht die gleiche Sicherheit bietet wie eine große Screening-Studie.

Die Bewertungen des IGeL-Monitor haben ein ganzes Spektrum an Graustufen zur Verfügung. Da gibt es zum Beispiel „tendenziell positiv“, „tendenziell negativ“ oder „unklar“. Wenn ich in der Arztpraxis eine IGeL-Leistung angeboten bekomme, muss ich mich aber zwischen Schwarz und Weiß entscheiden, also ob ich die IGeL will oder nicht. Gibt es eine Schwelle, ab der ich mich für eine Maßnahme entscheiden kann, auch wenn die Evidenz nicht perfekt ist?

Ich finde, das hängt von der Fragestellung ab, ob es vielleicht persönliche Risikofaktoren gibt oder auch, wie man möglichen Nutzen und möglichen Schaden gewichtet. Wenn einem klar ist, dass es zu einer Maßnahme gar keine Evidenz gibt und man geht das Risiko bewusst ein, kann das auch in Ordnung sein.

Für mich persönlich ziehe ich die Grenze bei Maßnahmen, bei denen es Hinweise oder sogar Belege für einen Schaden gibt. Das ist zum Beispiel beim Ultraschall zur Früherkennung von Eierstockkrebs so. Hier wissen wir aus Studien, dass dadurch bei einigen Frauen zur Abklärung eigentlich gesunde Eierstöcke entfernt werden.

Grundsätzlich möchte ich persönlich eine halbwegs akzeptable Evidenz haben. Wenn ich für andere entscheiden muss und nicht für mich selbst, würde ich die Latte aber noch höher legen.

Wenn ich trotz unsicherer Studienlage eine Entscheidung treffen muss, stellt sich ja manchmal erst nach längerer Zeit heraus, ob ich richtig oder falsch entschieden habe. Zum Beispiel bei der HPV-Impfung war zum Zeitpunkt der Zulassung nicht klar, wie gut sie tatsächlich Gebärmutterhalskrebs verhindert. Erst etwa 15 Jahre später gab es solche Daten aus Studien in Schweden oder dem Vereinigten Königreich. Haben Menschen, die wegen der nicht-perfekten Evidenz ihr Kind nicht haben impfen lassen, dann eine falsche Entscheidung getroffen?

Wir haben weder eine Kristallkugel, um die Zukunft vorherzusehen, noch einen Zeitstein, mit dem wir hin- und herreisen könnten. Unsicherheit besteht ja meist nicht nur zum Nutzen, sondern auch zum Schaden. Und vermutlich hätte man ein genauso schlechtes Gefühl, wenn man das Kind hätte impfen lassen und es wäre eine schwerwiegende Nebenwirkung aufgetreten.

Es gibt einfach Situationen, in denen ist die Unsicherheit noch groß, da ist die Evidenz gerade noch im Entstehen und da kann die Entscheidung in die eine oder andere Richtung falsch oder richtig sein. Das weiß man nur rückblickend und dann sollte man sich nicht so viele Sorgen machen. Meist muss man aber ein Minimum an Evidenz abwarten, bevor man eine einigermaßen sichere Entscheidung treffen kann.

Hätten die Verantwortlichen in der Corona-Pandemie auch mehr Evidenz abwarten müssen, bevor sie Maßnahmen ergreifen?

Die Corona-Pandemie ist eine andere Situation als die HPV-Impfung. Natürlich setzt die HPV-Impfung an der Ursache an und verhindert, dass Zellveränderungen entstehen, aus denen sich später Gebärmutterhalskrebs entwickeln kann. Allerdings gibt es ein etabliertes Screeningprogramm, mit dem Frauenärztinnen und -ärzte Zellveränderungen früh erkennen und behandeln lassen können, so dass kein Krebs entsteht. Ohne Impfung steht man also nicht vollkommen hilflos da.

In der Pandemie wussten wir aber am Anfang gar nichts über diese neue Erkrankung Covid-19: weder wie sie verläuft, noch wie man sie sicher diagnostizieren und behandeln kann. Gleichzeitig war aber auch schnell klar: Viele Menschen erkranken sehr schwer und versterben auch daran. Da konnte man nicht einfach nichts tun, sondern musste zumindest Maßnahmen für einen grundlegenden Infektionsschutz ergreifen: Masken, Kontaktreduzierungen, Lüften. Die Evidenz war noch im Entstehen, aber wir konnten währenddessen nicht so tun, als gäbe es diese Erkrankung nicht. Sonst wären noch viel mehr Menschen schwer erkrankt und gestorben. Das war eine besondere Situation: Dass man so eine akute dramatische Lage hat und gezwungen ist, in dieser Unsicherheit zu handeln.

Manchmal gibt es in Studien „negative“ Ergebnisse, also dass zum Beispiel ein neues Arzneimittel nicht besser wirkt als Placebo. Wie lässt sich dann unterscheiden, ob es tatsächlich keinen Nutzen gibt oder ob die Evidenz nur noch nicht ausreicht, um einen Nutzen zu belegen? Das ist ja nicht das Gleiche.

Die erste Frage ist: War die Studie so konzipiert, dass sie überhaupt einen Effekt hätte zeigen können, selbst wenn er nur klein gewesen wäre? Da lohnt ein Blick auf die Anzahl der Patient:innen und wie gut die Studie durchgeführt wurde. Oder war die Beobachtungsdauer lang genug, um überhaupt einen Effekt zu sehen?

Wenn man da Zweifel hat, dann ist es legitim zu sagen, dass man weitere Forschung braucht. Grundsätzlich ist es von Vorteil, wenn man nicht nur eine Studie hat, sondern mehrere, die in einer Meta-Analyse zusammengefasst werden. Dann bekommt man oft eine stärkere Aussage als mit einer einzelnen Studie. Und wenn dann weitere Studien die Gesamteinschätzung verändern könnten, dann sollte das auch so dargestellt werden: Wir brauchen weitere Studien, um die Evidenz abschließend beurteilen zu können.

Gegenbeispiel: Die Homöopathie. Da gibt es sehr viele Studien und in der Gesamtschau zeigt sich kein Nutzen. Dann ist es offenbar so, dass es auch wirklich keinen Nutzen gibt. Irgendwann ist es dann auch mal gut mit den Studien und man braucht nicht mehr Forschung.

Manchmal habe ich den Eindruck, es gibt beim Umgang mit Unsicherheit nur zwei Extreme: Die einen halten an nutzlosen Globuli fest mit der Begründung, die Wirksamkeit wäre eben nur noch nicht nachgewiesen. Die anderen, zum Beispiel Maskengegner in der Pandemie, argumentieren: Es gibt keine guten Belege, also halte ich Masken nicht für wirksam. Wie kann man in dieser Gemengelage eine gute Entscheidung treffen? Welche Überlegungen können dabei helfen?

Ganz grundsätzlich muss ich mir überlegen: Wie gut lassen sich Studien zu einer Frage überhaupt durchführen? Zum Beispiel die Masken: Da kann man nicht erwarten, dass große randomisierte kontrollierte Studien durchgeführt werden, um zu sehen, ob das was bringt oder nicht. Da kann man vielleicht auch mal auf Plausibilitätsannahmen vertrauen, wenn klar ist, wie gut sie Aerosole filtern. Für die Maske im Alltag finde ich auch den möglichen Schaden nicht so groß – wohl wissend, dass es auch belastend sein kann, wenn Schulkinder sieben Schulstunden lang eine FFP2-Maske tragen müssen.

Aber in den meisten anderen Fällen lassen sich durchaus Studien durchführen. Dann sollte man sich nicht so schnell von dem Schein-Argument in die Irre führen lassen, dass ein Nutzen nur noch nicht gezeigt ist oder sich grundsätzlich nicht in Studien untersuchen lässt. Das ist nur bei ganz wenigen Fragen der Fall.

Und ansonsten gilt bei allen Gesundheitsentscheidungen: Bei Informationen prüfen, woher sie kommen und wie solide sie sind. Und dann kann man auf der Basis dieser Informationen abwägen, ob man sich für oder gegen eine medizinische Maßnahme entscheidet.

Das ist bei so viel Unsicherheit aber nicht leicht.

Es ist wichtig, sich bewusst zu machen, dass es in der Wissenschaft immer Unsicherheiten gibt. Und gerade in solchen neuen und schnellebigen Gebieten kann es sein, dass die Evidenz gerade erst entsteht und man die Entscheidung manchmal schon vorher treffen muss – immer mit dem Wissen, dass sich zum Beispiel eine Empfehlung später nochmal ändern kann. Das sollte einen nicht verunsichern. Dieser Prozess ist ganz normal und spricht eher für eine wissenschaftsbasierte Medizin als dagegen.

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