Evolutionsbiologie und Epigenetik: Wie die Rochen zu ihren Segelflossen kamen

Über den Körperbau der urtümlichen Fische entscheidet nicht nur die DNA, sondern auch die dreidimensionale Struktur des Erbguts im Zellkern. Das zeigt eine neue Studie zur Evolution der Rochen. Daraus lässt sich auch einiges über die frühe Evolution des Menschen lernen.

vom Recherche-Kollektiv Tierreporter:
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Ein flacher Fisch mit großem, runden ihn wie ein Umhang umgebenden Flossensaum  in der Aufsicht. Der Flossensaum ist blau, das Knochengerüst rötlich.

Es ist ein Höhepunkt für Schnorchelnde: Gemütlich treiben sie auf der Suche nach exotischen Fischen an der Wasseroberfläche vor sich hin, und auf einmal, wie aus dem Nichts, erhebt sich ein gut getarnter Rochen vom Boden und schwebt völlig entspannt – fast lässig – davon. Die faszinierenden Wesen sind einzigartig. Ihr ganzer Rumpf ist platt und mit den großen flügelartigen Flossen verschmolzen. Nur der meist erstaunlich lange Schwanz kommt ohne Flossensaum aus.

Laut einer neuen, im Fachblatt Nature publizierten Studie bringt genau diese Einzigartigkeit der Rochen die Evolutionsbiologie jetzt weiter voran. Sie zeigt, wie der Evolution große Entwicklungssprünge ohne allzu großen Aufwand gelingen. Obwohl die Gene dabei unverändert bleiben, können völlig neue Arten entstehen.

Auch die Epigenetik bringt Evolution voran

Lange haben wir gelernt, Antreiber der Evolution seien Mutationen in einzelnen Genen, die Organismen einen Selektionsvorteil verschaffen. Doch es häufen sich Beispiele, dass gerade die spektakuläreren Anpassungen ganz anders zustande kommen: durch Umbauten des Erbguts, die weniger die Gene selbst betreffen als deren Regulation.

Auch eine Veränderung im Aufbau, aber nicht im Text der DNA kann nämlich zahlreiche Veränderungen bewirken. Dann wandeln sich der Körperbau oder der Stoffwechsel eines Lebewesens oft sogar viel grundsätzlicher als durch eine einzelne Mutation. Eine solche Art der Veränderung fällt in den Bereich der Epigenetik, die auch als Neben- oder Zusatzgenetik bezeichnet wird. Dieser Oberbegriff fasst alle Strukturen oder DNA-Abschnitte zusammen, die nicht wie klassische Gene Baupläne für Proteine enthalten, sondern darüber mitentscheiden, welche Gene eine bestimmte Zelle in ihrer Entwicklung überhaupt nutzen kann und welche nicht.

Analyse der Molekularbiologie des Kleinen Igelrochens

Ein internationales Forschungsteam fand jetzt beim Rochen ein wichtiges Beispiel dafür, wie stark solche epigenetischen Veränderungen die Evolution beeinflussen können. Mithilfe akribischer Analysen der Molekularbiologie des Kleinen Igelrochens spürten sie die wenigen maßgeblichen Veränderungen mit großer Wirkung auf, die den flachen Fischen ihre einzigartigen Flossen schenkten. Diese umgeben die Rochen wie ein weites Gewand und lassen sie dank unauffälliger Wellenbewegungen über den Meeresboden gleiten, als seien sie Luftkissen-Unterseeboote.

Auf einem weißlichen, mit roten Blutgefäßen durchzogenen Eidotter sitzt ein kleiner, noch fast durchsichtiger Rochen mit riesigen dunklen Augen
Ein etwa zehn Wochen alter Embryo des Kleinen Igelrochens sitzt auf dem Eidotter.

Die Flügelflossen sind das sichtbarste Merkmal, das Rochen von ihren nächsten Verwandten, den Haien, unterscheidet. Gemeinsam gehören sie zu den Arten, die am engsten mit den Vorfahren aller Wirbeltiere verwandt sind. Wer mehr über die Evolution der Rochen lernt, erfährt deshalb indirekt auch eine Menge über eine frühe Phase der Evolution des Menschen.

Eine Analyse der Genetik, der Epigenetik und der Genaktivität (Transkriptomik) der Zellen mehrerer heranwachsender Rochen-Embryonen ergab nun, dass es vor etwa 286 Millionen Jahren zu deutlichen Umbauten in deren Erbgut gekommen sein muss. Ganze Chromosomenstücke wurden offenbar an andere Stelle versetzt. Und weite Teile der sogenannten nichtkodierenden Regionen der DNA wandelten sich. Das sind jene Bereiche des Genoms, die keine Gene enthalten, also keine Bauanleitungen für Proteine, die aber dennoch wichtig für die epigenetische Genregulation sind. Vereinfacht gesagt, entscheiden sie mit darüber, welche Gene eine Zelle in Proteine übersetzen kann und welche nicht.

Beim Erbgut kommt es auch auf die dreidimensionale Faltung an

Die Gene selbst veränderten sich kaum, aber das ganze Erbgut faltete sich neu. Dadurch gerieten einige Gene plötzlich in die Nähe sogenannter Verstärker-Einheiten. Das hatte zur Folge, dass die Zellen sie plötzlich sehr viel intensiver benutzten als zuvor. Andere Gene wurden hingegen weniger stark abgelesen.

Durch diese und noch ein paar weitere epigenetische Veränderungen werden bestimmte Gene in der Entwicklung des Rochenembryos in einem anderen zeitlichen Muster aktiv. Ihre Aktivierung startet früher oder später als zuvor oder dauert insgesamt länger an. Daraus resultiert letztlich die ebenso ungewöhnliche wie einzigartige Flossenform. Und weil diese offenbar wichtige Vorteile hat, blieb die dafür hauptsächlich verantwortliche dreidimensionale Struktur der Rochen-DNA seit den Umbauten vor fast 300 Millionen Jahren bis heute weitgehend unverändert.

„Das ist eine neue Perspektive darauf, wie sich das Erbgut im Lauf der Evolution weiterentwickelt“, sagt Darío Lupiáñez, an der Studie beteiligter Genetiker am Berliner Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in einer Pressemitteilung. Auch allgemeine Veränderungen des Erbguts und nicht nur solche des genetischen Codes brächten die Evolution demnach weiter voran.

Co-Autor José Luis Gómez-Skarmeta vom Andalusischen Zentrum für Entwicklungsbiologie im spanischen Sevilla präzisiert: „Die Evolution ist zu einem großen Teil eine Geschichte von Veränderungen der Genregulation während der biologischen Entwicklung von Organismen.“ Es scheint, als erobere mit dem Kleinen Igelrochen auch ein neues Denken die Welt der Evolutionsbiologie.

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