Ornithologe: Neue Offshore-Windparks entlang von Schiffsstrecken statt in Schutzgebieten bauen

Der Kieler Ornithologe Stefan Garthe hat ermittelt, dass Seetaucher in der Nordsee Offshore-Windkraftanlagen weiträumig meiden – und bereits einen Großteil ihrer früheren Nahrungsgebiete verlassen haben. Ein Gespräch über die Abwägung zwischen Natur- und Klimaschutz und mögliche Lösungen.

vom Recherche-Kollektiv Flugbegleiter:
10 Minuten
Zahlreiche Windkraftanlagen im Meer unter wolkigem Himmel.

Damit die Energiewende zum Erfolg wird und das Ziel der Klimaneutralität erreicht werden kann, wollen Bund und Länder den Ausbau von Windkraft- und Solaranlagen massiv beschleunigen, auch in der Nordsee. Dort sind bereits zahlreiche Offshore-Windparks entstanden, mehrere weitere sollen hinzukommen. Doch das bleibt nicht ohne Folgen für die Bewohner der Nordsee. In einer aktuellen Studie legt ein Team um den Kieler Ornithologen und Zoologen Stefan Garthe im Wissenschaftsmagazin „Nature“ dar, wie Pracht- und Sterntaucher – zwei Seevögel, für die Deutschland eine besondere Verantwortung trägt – Offshore-Windkraftanlagen weiträumig meiden und ihr Lebensraum dadurch schon jetzt massiv geschrumpft ist. Was bedeutet das für die Energiewende?

Garthe mit Fernglas in einer Kolonie von Basstölpeln am Meer.
Der Ornithologe Stefan Garthe.

Herr Garthe, was war der Anlass für Ihre neue Studie, wie sich Offshore-Windanlagen in der Nordsee auf Seetaucher auswirken?

Wir untersuchen schon lange, wie menschliche Eingriffe in das Ökosystem Nordsee die Lebensbedingungen der Seevögel verändern. Da geht es um Fischerei, Kiesabbau, Schifffahrt, militärische Nutzungen – und in zunehmendem Maß um Offshore-Windanlagen. Schon früh haben wir mehrere Windparks einzeln untersucht. Jetzt war es unser Ziel – im Auftrag des Bundesamts für Seeschifffahrt und Hydrographie und des Bundesamts für Naturschutz – alle Daten zusammenzuführen und mit einer verfeinerten Methodik herauszufinden, ob sich die anfänglichen Befürchtungen bestätigt haben.

Warum haben Sie sich auf Seetaucher konzentriert?

Prachttaucher und Sterntaucher gehören zu den gefährdeten Arten. Aufgrund ihres Schutzstatus und weil bei uns ein Schwerpunkt des Vorkommens liegt, trägt Deutschland eine besondere internationale Verantwortung für diese Arten.

Warum ist das so, diese Arten brüten ja fernab in der skandinavischen und russischen Tundra und Taiga?

Aber sie fliegen nach ihrer Brutzeit auf das offene Meer und bleiben dort bis ins Frühjahr. Dann sammeln sie sich, um sich für den bevorstehenden Zug nach Norden und für die Brutzeit Fettreserven anzufressen.

Und die Deutsche Bucht spielt dabei eine zentrale Rolle?

Vogel mit spitzem Schnabel, grauen Federn und schwarz-weißen Streifen auf dem Wasser.
Prachttaucher, für die Deutschland besondere Verantwortung trägt, meiden Offshore-Windanlagen weiträumig. Ihr Lebensraum in der Nordsee schrumpft deshalb.

Die östliche Deutsche Bucht, wo die Süßwasser der Elbe sich mit dem salzigen Nordseewasser mischen, ist ein hochproduktiver Raum mit viel Nahrung, der ideale Lebensraum. Die Deutsche Bucht ist deshalb ihr letzter großer Aggregationsplatz vor dem Abflug. Wir haben hier bisher die dichteste Ansammlung der Seetaucher, die es in der Nordsee gibt. Die Tiere kommen in großer Zahl in bestimmte Gebiete, um sich gute Fettreserven anzulegen. Nur wenn sie das können, werden sie den Zug gut schaffen und entsprechend erfolgreich brüten. Ansonsten produzieren sie kleinere Eier und ihr Nachwuchs ist weniger überlebensfähig. Dann gehen die Bestände langfristig zurück.

Was haben Sie über die Auswirkungen von Offshore-Windanlagen herausgefunden?

Wir können zeigen, dass Seetaucher Windparks überall stark meiden. In den Windparks selbst und in einem Radius von einem Kilometer um sie herum verschwinden Pracht- wie Sterntaucher so gut wie komplett; eine verringerte Häufigkeit stellen wir aber noch bis in über zehn Kilometer Entfernung von den Windenergieanlagen fest. Die Ansammlungen im Frühjahr finden als Folge nur noch in einem kleinen Bereich statt, der von allen Windparks maximal entfernt liegt. Die ehemaligen Schwerpunkte der Frühjahrsvorkommen, die im EU-Vogelschutzgebiet liegen, sind jetzt stark ausgedünnt oder ganz verschwunden. Das Vogelschutzgebiet „Östliche Deutsche Bucht“ ist durch die Windparks massiv entwertet worden, weil die Störradien so groß sind.

Der NABU hatte gegen den Windpark Butendiek westlich von Sylt noch geklagt – im Rückblick also zu Recht?

Zwei Landkarten im Vergleich von vor und nach dem Bau der Offshore-Anlagen: Vorher wurden in weiten Teilen der Nordsee Seetaucher beobachtet, nachher konzentrieren sich die Seetaucher auf eine kleine Fläche im Zentrum.
Ergebnis der Studie: Während Seetaucher vor dem Bau von Offshore-Windanlagen weit verteilt in der Nordsee vorkamen, konzentrieren sie sich nun auf einer kleineren Fläche mit maximalem Abstand zu den Anlagen.

Dieser Windpark ist leider zum Negativsymbol für die Debatte „Klima versus Artenschutz“ geworden. Das muss man einfach klar sagen. Wir können belegen, dass die Vorkommen der Seetaucher dort nahezu verschwunden sind. Vorerst haben sie sich nur verlagert, das ist die gute Nachricht. Aber wenn weitere Windparks dazukommen, dann werden die geeigneten Bereiche der Nordsee immer kleiner. Wir haben bedauerlicherweise keine Anzeichen dafür gefunden, dass sich die Seetaucher an die Anlagen gewöhnen. Deshalb gibt es das Risiko, dass sie bei einem weiteren massiven Ausbau der Windkraft in Küstennähe ganz verschwinden würden.

Wie haben Sie und Ihr Team eigentlich auf einer so großen Fläche verlässliche Daten erhoben?

Anfangs passierte das mit Zählungen von Schiffen aus, dann aus dem Flugzeug. Da wir wegen der Windparks nicht mehr so niedrig fliegen dürfen, werden seit deren Bau aus größerer Höhe hochauflösende Aufnahmen angefertigt und ausgewertet. Zur Bestätigung der Daten gibt es auch noch Ausfahrten per Schiff. Für unsere Studie haben wir nun erstmals alle Methoden harmonisiert und die Daten zusammengeführt.

Sind die Populationen von Stern- und Prachttaucher schon geschrumpft?

Derzeit sieht es so aus, als würde sich der Gesamtbestand in der deutschen Nordsee noch einigermaßen halten. Wir führen aber gerade genauere statistische Analysen durch.

Gibt es Erkenntnisse darüber, warum genau die Seetaucher die Offshore-Windanlagen meiden?

Zu hundert Prozent wissen wir das nicht, aber die Tiere reagieren hauptsächlich auf die reine Präsenz der Anlagen. Es scheint wenig Einfluss zu haben, ob sich die Rotoren drehen. Entscheidend ist wohl grundsätzlich, dass es da jetzt diese großen vertikalen Strukturen mitten im Meer gibt. Die Seetaucher haben eben im Verlauf ihrer Evolution nie mit so etwas auf dem Meer zu tun gehabt und plötzlich tauchen überall solche Anlagen auf. Seetaucher reagieren da einfach, indem sie diese meiden.

Tun andere Vögel das nicht?

Doch, auch bei Basstölpeln, Trottellummen und Eissturmvögeln beobachten wir Meideverhalten, wohingegen Möwen zum Beispiel vielfach dicht an die Windparks heranfliegen, um sie sich neugierig anzugucken. Sie fliegen auch höher und sind eher in Gefahr, mit einem Rotor zu kollidieren.

Das Unternehmen Vattenfall hat Ende Februar von einer unternehmenseigenen Studie berichtet, der zufolge Seevögel Windparks meiden. Es wurde als Erfolg dargestellt, dass über zwei Jahre hinweg mit Radar keine einzige Kollision beobachtet werden konnte. Wie bewerten Sie das?

Das ausgeprägte Meideverhalten ist ja auch unsere Erkenntnis. Aber wenn man keine Kollisionen beobachtet, heißt das noch nicht, dass es keine ökologischen Schäden und keine Mortalität gibt. Wenn überall Windparks entstehen, der Rest des Meeres vielbefahrene Schiffsstrecken sind und die Tiere beides meiden – dann bleibt für sie am Ende nichts übrig. Das schlägt sich dann auch bei der Überlebensrate und beim Bruterfolg nieder. Und vor diesem Szenario stehen wir.

Während der Vattenfall-Studie wurden keine direkten Kollisionen beobachtet. Wie sieht das in Ihrer Studie aus?

Wir haben nicht die Mortalität durch Vogelschlag, sondern eben das Meidungsverhalten untersucht. Auf dem Meer ist es extrem schwer, gute Daten zur Mortalität zu erheben.

Wie schätzen Sie das direkte Vogelschlag-Risiko ein?

Tagsüber bei guter Sicht ist es wahrscheinlich so, dass viele der Seevögel, die in die Nähe der Anlagen kommen, unter den Anlagen durchfliegen, weil sie insgesamt eine relativ geringe Flughöhe haben. Alken und Eissturmvögel zum Beispiel fliegen relativ flach. Problematisch ist es am ehesten bei Möwen.

Da werden die meisten Menschen sagen, Möwen gibt es doch wie Sand am Meer?

Das ist leider falsch. Wir beobachten bei fast allen Möwenarten starke Rückgänge der Bestände. Die Mantelmöwe steht bald auf der weltweiten Roten Liste gefährdeter Arten. Die Silbermöwe ist zum Beispiel in Großbritannien deutlich im Bestand zurückgegangen, bei uns an der Nordseeküste ebenso. Und die Bestände der Dreizehenmöwe nehmen schon lange ab. Diese Art ist auf der Schutzliste der Meereskonvention OSPAR für den Nordostatlantik als gefährdet eingestuft. Das wird von unseren Genehmigungsbehörden aber noch nicht ausreichend berücksichtigt.

Ist Offshore-Windenergie Stressfaktor Nummer eins für die Meeresumwelt?

Ein erwachsener Sterntaucher und ein Jungvogel auf dem Wasser.
Sterntaucher auf Island.

Das kann man so pauschal nicht sagen. Die höchste Sterblichkeit verursacht die Stellnetzfischerei, bei der oftmals kilometerlange Netze frei im Wasser hängen. Darin verheddern sich vor allem in der Ostsee jedes Jahr Tausende von Vögeln bei der Jagd nach Fischen und ertrinken dann. Das führt also direkt zum Tod. Viele weitere Stressfaktoren kommen hinzu wie zum Beispiel Schiffsverkehr und Industriefischerei. Das Problem bei der Windkraft ist, dass der Lebensraum für Vogelarten, die die Anlagen meiden, immer weiter schrumpft. Noch sehen wir deswegen keine direkten dramatischen Bestandsrückgänge, sondern nur, dass Tiere wie die Seetaucher die Anlagen meiden. Aber bei der geplanten stetigen Zunahme der Windparks wird es dann sehr schnell sehr eng für die betroffenen Arten.

Der Erfolg der Energiewende wird jetzt tagtäglich beschworen – haben Sie Angst, da als Spielverderber zu gelten?

Unsere Studie kommt zu einer Zeit, wo das keiner hören will, das ist völlig klar. Meine Rolle als Wissenschaftler ist aber, nach der Wahrheit zu suchen und dabei völlig unvoreingenommen und mit transparenten Methoden vorzugehen. Meine Aufgabe ist es zu untersuchen, wo die verschiedenen Vogelarten leben und wie sie auf die verschiedenen menschlichen Eingriffe reagieren.

Sind Sie gegen neue Offshore-Windparks?

Nein. Erneuerbare Energien sind wichtig und sinnvoll. Aber neben dem Pariser Klimavertrag gibt es auch den Montreal-Vertrag zum Schutz der Biodiversität, und der ist genauso wichtig. Es geht darum, die Erneuerbaren so auszubauen, dass Natur und Artenvielfalt nicht allzu sehr darunter leiden. Man muss so vorgehen, dass beide Ziele möglichst gut erreicht werden und nicht einfach wild drauflos bauen.

Sie haben es also nicht speziell auf die Windkraft abgesehen?

Natürlich nicht. Windkraft ist auch nur einer von vielen Stressfaktoren, die wir untersuchen. Es wäre mir sehr viel lieber, wenn Offshore-Windanlagen keine Probleme für Vögel darstellen würden, denn die Energiewende ist für den Klimaschutz ja notwendig und sinnvoll. Aber wenn wir Wissenschaftler wichtige Erkenntnisse über Risiken und Schäden für Natur und Arten erlangen, dann müssen wir diese auch publizieren – unabhängig davon, ob das der Politik passt oder nicht. Wir haben ja auch selbst keine politische Entscheidungsbefugnis, sondern liefern Fakten und geben auf ihrer Basis Empfehlungen ab.

Und finden diese Empfehlungen Gehör?

Habeck am Rednerpult.
Robert Habeck, Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz, im Januar 2023 im Bundestag.

Die Genehmigungsbehörden schauen sich unsere Studien sehr genau an. In letzter Zeit finden wir aber leider etwas weniger Gehör. Und es ist sehr, sehr problematisch, wenn der Schutz der Biodiversität auf so hoher Ebene nicht wirklich ernst genommen wird. Beim Pariser Klimavertrag kann man sich das aus guten Gründen nicht erlauben, warum dann aber beim Montreal-Vertrag zum Schutz der Biodiversität?

Ist das in der Gesamtschau Ihre Einschätzung – Bonanza in der Nordsee ?

Die Pläne der Bundesregierung und der EU führen im Prinzip zu einem Industriepark Südliche Nordsee. Wenn alles umgesetzt wird, reihen sich dort Windparks, Schifffahrtsstrecken sowie Öl- und Gasplattformen von England bis nach Dänemark fast lückenlos aneinander.

Was setzen Sie dem entgegen?

Wenigstens die Schutzgebiete müssen großräumig freigehalten bleiben, damit sich die Seevögel dort aufhalten können. Sonst haben wir mit Windparks die Klimakrise ein Stück weit gelöst, aber die Biodiversitätskrise noch massiv verschärft.

Die Meeresschutzgebiete in der Nordsee erfüllen also ihren Zweck nicht?

Bei keinem der Anrainer der Nordsee kann man von wirklich strengen Schutzgebieten auf dem offenen Meer sprechen.

Auch nicht in Deutschland?

In Deutschland hat man bei der Ausweisung der Offshore-Naturschutzgebiete so gut wie keine Nutzung unterbunden. Wenn nahezu unbegrenzt Fischerei, Sand- und Kiesabbau sowie der Bau von Energieanlagen möglich sind, dann ist es unmöglich, die Schutzziele zu erreichen.

Es gibt jetzt Vorschläge, dass auf zehn Prozent der Meeresfläche ein strenger Naturschutz gelten soll. Wie bewerten Sie das?

Zehn Prozent streng geschützter Gebiete wären auf jeden Fall ein Fortschritt im Vergleich zur heutigen Praxis. Aber das müssten dann die Gebiete sein, die für die Seevögel und andere Tiere am wichtigsten sind, nicht die Gebiete mit dem geringsten wirtschaftlichen Nutzen. Im Gebiet der Doggerbank gibt es zum Beispiel Pläne für eine massive wirtschaftliche Nutzung, aber die Region ist als Lebensraum enorm wichtig.

Was dann?

Dass ein maximaler Vogelschutz nicht möglich ist, das ist völlig klar. Aber man sollte versuchen, für die Meeresumwelt das Bestmögliche zu erreichen, und das passiert noch nicht.

Was wäre jetzt die dringlichste Aufgabe für den Naturschutz?

Die Prämisse muss erstmal sein, dafür zu sorgen, dass die Naturschutzgebiete ihre Aufgabe erfüllen können. Wenn man den Stressfaktor Windenergie vergrößert, muss man eben umgehend andere Stressfaktoren reduzieren, also die Fischerei in den Schutzgebieten einschränken, den Sand- und Kiesabbau dort beenden. Zudem muss man dafür sorgen, dass neue Anlagen nur außerhalb der Schutzgebiete entstehen.

Wo?

Die ausgewiesenen Schifffahrtsstrecken etwa sind viel breiter, als es nötig wäre. Die kann man an vielen Stellen deutlich schmaler machen, ohne dass ein Sicherheitsrisiko entsteht. In dem so gewonnenen Raum kann man dann auch die Windparks installieren, um die Schutzgebiete freizuhalten.

Wenn man Kiesabbau und Fischerei einschränkt, gehen aber Arbeitsplätze verloren.

Das stimmt leider, aber es gibt auch viele andere Fälle, wo Menschen ihr Berufsfeld verlieren. Es muss dann gesamtgesellschaftlich möglich sein, sie dafür zu entschädigen. Zudem muss man auch daran denken, wie es sich auf den Tourismus mit seinen vielen Arbeitsplätzen auswirkt, wenn die Schutzgebiete der Nordsee zu Industriegebieten werden.

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