Nicaragua: Wo die Toten die Lebenden besuchen

Für die Miskito der Karibikküste ist klar: Wenn die Totenseele nicht richtig bestattet wird, kommt sie zurück. Ulrike Prinz hat das bei ihrem Besuch am eigenen Leib erlebt.

vom Recherche-Kollektiv Südamerika+Reporterinnen:
9 Minuten
Weiß-blau gekachelte Gräber mit Betonkreuzen vor Palmen und Holzhäusern auf Pfählen

Der Bootsmann lenkt das Motorboot durch die von Mangroven gesäumten Kanäle. Wir sind auf dem Weg nach Wawa Bar, einer kleinen etwa 1.500 Seelen-Gemeinde an der Karibikküste von Nicaragua. Fischerbötchen schaukeln auf den Wellen. Unser Boot ist vollgepackt mit Taschen, Rucksäcken und Nahrungsmitteln. Wir sitzen eng gedrängt auf dem Holzbänkchen in der Mitte, neben mir Victoria Planas und Kanischa Gomez, unsere Übersetzerin für das Miskito. Zwischen den Bänken und auf den Taschen fährt noch eine Familie aus Wawa Bar mit ihren drei Kindern mit. Die folgenden drei Tage werden wir dort die Arbeit einer Hilfsorganisation auswerten.

Nach etwa einer Stunde Fahrt geben die Mangrovenwälder die Sicht auf das türkisblaue Meer frei. Sonnenstrahlen tanzen auf den Wellen, darüber kreisen Pelikane und Möwen. Es sieht nach Paradies aus: weißer Sandstrand, Palmen und Mangobäume.

Hier in der autonomen Region Costa Norte leben die Miskito, eine indigene Gruppe Nicaraguas, die sich mit den Nachfahren europäischer Seeräuber und afrikanischer Sklaven vermischt hat. Sie heißen Coleman, Cunningham und sogar Müller. Die meisten der Miskito wurden seit den 1930er Jahren vom böhmischen Herrenhuter Orden, der „Moravian Church“, missioniert und sind offiziell zum Christentum übergetreten.

Der Betonsteg bildet die Achse des Dorfes Wawa Bar. Links und rechts stehen auf den vom Regen aufgeweichten Wiesen die Häuser auf Pfählen.
Der Betonsteg bildet die Achse des Dorfes Wawa Bar. Links und rechts stehen auf den vom Regen aufgeweichten Wiesen die Häuser auf Pfählen.

Wir landen am Strand und balancieren unser Gepäck über dem Kopf zum Ufer hin. Dann führt ein Betonsteg ins Landesinnere. Der Steg ist so etwas wie die Achse des Dorfes um den sich bunte Pfahlhäuser gruppieren. Einige sind himmelblau, rosa oder maigrün angemalt, den Farben der Karibik. Bei anderen ist die Farbe abgeblättert, sie stehen windschief und verlassen. Der Regen hat die Wiesen zwischen den Häusern unter Wasser gesetzt. Es gibt sogar ein paar Betonhäuser. In ihnen wohnen der Pfarrer oder Fischer, die einen „golpe de suerte“ hatten: das Glück, ein paar Kilo Koks oder Marihuana aus dem Meer zu fischen und dann gewinnbringend zu verscherbeln.

Empfang vom Pfarrer und den Dorfältesten

Vor der überdimensionalen Kirche von Wawa Bar haben sich die Autoritäten der Gemeinde eingefunden, um uns zu empfangen: der Pfarrer, die Dorfältesten sowie Frauen, Männer und Kinder, die uns mit neugierigen Blicken mustern. Regenwolken hängen dicht über der Landschaft, zwischen den Häusern tummeln sich Kühe, Ziegen, Schweine und Hühner.

Zwei Frauen thronen auf einer gemauerten und weiß, blau und lila gestrichenen Veranda.
Hier auf der Veranda empfängt Virginia Hodgson ihre Besucherinnen aus der Nachbarschaft.
Auf einer himmelblau gestrichenen Holzwand sind neben einem Familienfoto auch Kuscheltiere an die Wand genagelt.
In vielen Häusern schmücken neben Familienfotos auch an die Wand genagelte Kuscheltiere an die Holzwände.
Das Innere eines verlassenen Holzhauses mit löchrigen Dielen.
Die Dielen des verlassenen Hauses sind einbruchgefährdet.
Mit blauem Kopftuch und rot-weiß-karierter Schürze steht Virgínia Hodgson in ihrer Küche, die aus zwei Kochstellen eines Gaskochers besteht.
Doña Virgína Hodgson in ihrer Küche.
Im Vordergrund sind mehrere betonierte und gekachelte Grabstätten zu sehen, auf einem davon haben sich die Ziegen ins Trockene gebracht.
Der Friedhof von Wawa Bar steht halb unter Wasser. Auf einem Grab haben es sich die Ziegen gemütlich gemacht.
Ein abgemagerter Hund läuft durch das Bild, in dessen Hintergrund ein Holzhaus auf Pfählen steht, dahinter Palmen und Meer.
Ein Fischerhaus vor der Küste. Es heißt der Name Wawa Bar kommt vom Klang des Meeres.
Zwei Männer mit Baseball-Kappen und ernsten Gesichtern.
Zwei Bewohner von Wawa Bar.
Ein kleines Fischerboot mit vier Mann und einem bunt zusammengestückelten Segel durchkreuzt das aufgewühlte Meer vor der Küste. Im Vordergrund weiden Kühe zwischen Fischernetzen.
Blick aufs Meer von Wawa Bar. Das Dorf wurde im November 2020 durch die beiden Hurrikane Eta und Iota mit Windstärken von 260 Stundenkilometern dem Erdboden gleichgemacht.