So viel Liebe!

von Maximilian Steinbeis
6 Minuten

Liebe Freunde des Verfassungsblogs,

Romantik ist in der gefühlskargen Welt des Verfassungsrechts ja sonst nicht so unser Ding. Aber was sich zwischen EuGH und Bundesverfassungsgericht gerade abspielt, ich muss schon sagen, das rührt mir ans Herz. Wie ein altes Paar, seit Ewigkeiten zusammen, die beiden. Wir lieben sie ja alle beide sehr und leiden um so mehr unter ihren periodisch wiederkehrenden fürchterlichen Krächen und zittern mal um mal, dass womöglich jetzt wirklich einer von beiden seine Sachen packen und ausziehen könnte. Und dann sieht man sie plötzlich wieder zärtlich vereint und Hand in Hand durch die Stadt spazieren. Hach! Alles Gute euch beiden. Ihr habt es ja nicht leicht miteinander und seid auch beide manchmal echt unmöglich. Aber insgesamt macht ihr das toll.

Was war passiert? Angefangen hatte diesmal, tut mir leid das zu sagen, der EuGH. Vor knapp vier Jahren war das, mit dem Melloni-Urteil, das den nationalen Verfassungsgerichten barsch mitteilte, dass sie sich ihre eigenen nationalen Erwartungen, in welchem Umfang Angeklagte Grundrechtsschutz genießen sollten, an den Hut stecken können, wenn sie der wechselseitigen Anerkennung und Vollstreckung von EU-Haftbefehlen im Weg stehen. Hoho! So nicht, mein Lieber, lautete die Antwort aus Karlsruhe, und nicht in dem Ton! Bevor wir jemanden an die Justiz eines anderen Mitgliedsstaats ausliefern, prüfen wir erst mal, ob das nicht gegen die Menschenwürde verstößt. Das ist nämlich unser höchster Verfassungswert. Dein Unionsrecht kann uns da gar nichts, so hoch ist der. Und wenn du glaubst, dass wir dir das zur Vorabentscheidung auch noch vorlegen, dann träum weiter. Menschenwürde, knurrte es daraufhin aus Luxemburg zurück. Menschenwürde, Menschenwürde. Also gut, dann lösen wir das halt auch über die Menschenwürde. Aber unsere Menschenwürde! Unionsrecht, nicht nationale Grundrechte. Haben wir nämlich auch, Menschenwürdeschutz als Unionsgrundrecht. So weit kommt’s noch, dass hier jeder mit seiner eigenen nationalen Menschenwürde herumfuchtelt.

Der vorläufig letzte Akt in diesem Drama wurde an diesem Donnerstag aufgeführt, in Karlsruhe. Und so ein Happy End! Aber natürlich, Liebling, hauchte der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts. Du hast ja noch gar nicht darüber entschieden, ob die Quadratmeterzahl pro Häftling in rumänischen Gefängnissen den unionsrechtlichen Anforderungen der Menschenwürde genügt. Dieses OLG Hamburg, das hätte dir doch wirklich den Fall vorlegen müssen. Und nicht einfach selber entscheiden, dass das grosso modo schon in Ordnung geht mit dem rumänischen Knast und der Menschenwürde. So was! Zuständig zur Klärung dieser Frage bist selbstverständlich du, und weil das Grundgesetz das Recht auf den gesetzlichen Richter schützt, heben wir das OLG Hamburg aus diesem Grunde auf und brauchen zu der eigentlich an uns gerichteten Frage, wie wir selbst das nun sehen mit der Menschenwürde, keinen Ton mehr zu sagen.

Es ist wie in einem Jane-Austen-Film, die Glocken läuten, die Pfarrer lächelt, wir wischen uns die Tränen aus den Augenwinkeln, und wer etwas vorzubringen hat gegen die Verbindung dieser beiden, möge jetzt vortreten oder für immer schweigen…

Aber genug der Albernheiten. Dies war auch in anderer Hinsicht keine schlechte Woche für die ansonsten so schwer gebeutelte Integration durch Recht in Europa: Melchior Wathelet, Generalanwalt am EuGH, stellt Rumänien in seinen Schlussanträgen im Fall Coman in Aussicht, gleichgeschlechtliche Ehen aus anderen Mitgliedsländern anerkennen zu müssen, auch wenn sie selber keine einführen wollen. Die Sondierungsgespräche der GroKo sind beendet, und so schlapp das Ergebnis in den meisten Politikbereichen wirkt, so viel Anlass zur Hoffnung stiftet es in punkto Europa: Mehr Strenge in Richtung Polen, der intergouvernementale ESM soll in die Verträge, und es gibt mehr Geld fürs EU-Budget. Noch nicht da, wo Macron uns haben will. Aber immerhin.

Lieber zu wenig als zu viel

Ansonsten hat in dieser Woche in Deutschland das Inkrafttreten des berüchtigten Netzwerk-Durchsetzungsgesetzes viel Staub aufgewirbelt. Dass die sozialen Netzwerke selber die Jurisdiktion darüber ausüben, wo Meinungsfreiheit aufhört und Hate Speech anfängt, scheint einstweilen nicht besonders toll zu funktionieren, um es mal vorsichtig zu formulieren. MATHIAS HONG hält dies für ein strukturelles Problem, das bei einem Gesetz, das Underblocking scharf sanktioniert und Overblocking damit geradezu erzwingt, sozusagen in der Natur der Sache liegt.

In Frankreich hat der Verfassungsrat den Gesetzgeber wegen seines wiederholten Versuchs, den Besuch von Terror-Webseiten unter Strafe zu stellen, zurück an den Zeichentisch geschickt, wie THOMAS HOCHMANN berichtet.

+++ A Note from GLOBAL CONSTITUTIONALISM +++

CfP Scholars Workshop: Challenges to Global Constitutionalism

The editorial team of GLOBAL CONSTITUTIONALISM, in conjunction with PluriCourts, will be organizing a workshop from July 4th to 6th at the WZB Berlin Social Science Center. As part of this workshop we will be running special sessions for scholars interested in publishing in the field of global constitutionalism. Each selected scholar will be invited to present a paper to the workshop. Details are here. If you have any questions, please contact: .

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Und auch die andere Top-Institution staatlicher Rechtskontrolle in Frankreich, der Conseil d’État, war urteilend aktiv, wenngleich nach Ansicht von SÉBASTIEN PLATON auf wenig glorreiche Weise: Mit dem Segen der obersten Verwaltungsrichter übergeht Frankreich wieder und wieder seine Schengen-Pflicht, die Wiedereinführung der Grenzkontrollen zeitlich zu begrenzen.

Unser Online-Symposium zu Erinnerungspolitik und Recht nimmt weiter Gestalt an: ERIC HEINZE umreißt die Konturen dieses entstehenden Forschungsgebiets. NIKOLAY KOPOSOV geht der inhärenten Verbindung von Erinnerungspolitik durch Recht und Nationalismus nach. GRAZYNA BARANOSWKA beschreibt den vergeblichen Kampf der Angehörigen des Massakers von Katyń, Informationen zum Schicksal der Ermordeten zu erhalten. MARIA MÄLKSOO untersucht und kritisiert die erinnerungspolitische Gesetzgebung der Ukraine. GÁBOR HALMAI schildert die Bemühungen der ungarischen Verfassung von 2011, den Blick des Landes auf die eigene Vergangenheit zu regulieren, und MARINA BÁN beschreibt die bizarren Folgen des Verbots des Roten Sterns in Ungarn, der nicht nur ein kommunistisches Symbol, sondern auch Markenzeichen der Heineken-Brauerei ist. JIRI PRIBAN schließlich blickt auf die Affäre um den Schriftsteller Milan Kundera zurück und im Postkommunismus ein „neurotisches Kollektivgedächtnis“ am Werk.

Anderswo

OLIVER GARCIA kritisiert das Bundesverfassungsgericht für seine jüngst veröffentlichten Ethik-Richtlinien für seine Richter_innen, die u.a. die Vermarktung der Richterwürde nach dem Ausscheiden aus dem Gericht auf dem Medien-, Vortrags- und Gutachtenmarkt reguliert (Lex Di Fabio/Papier? You may very well think that but Herr Voßkuhle couldn’t possibly comment). Was García daran missfällt, ist die mangelnde Rechtsqualität dieser Leitlinien: „Umgehungskonstruktionen, die letztlich auf der Ebene des Gruppenzwangs und einer medialen Mobbingmentalität gegenwärtige und vor allem künftige Richter zu einer Selbstunterwerfung unter Normen außerhalb des verfassungsrechtlich vorgesehenen Kanons bestimmen, sind kein gutes Zeichen für die Gesundheit einer Verfassungskultur, und schon gar nicht, wenn sie gerade von der Institution erfunden werden, deren Aufgabe der Schutz der Verfassung ist.“

KENNETH ARMSTRONG warnt vor allzu viel Hoffnung auf ein zweites Brexit-Referendum in UK.

GERMÁN TERUEL LOZANO analysiert einen Vorstoß der regierenden Partido Popular in Spanien, die Anonymität im Internet zu regulieren.

RICHARD MACKENZIE-GRAY SCOTT untersucht, ob an den von Amnesty International erhobenen Vorwürfen an die EU, an Folter und Menschenrechtsverletzungen gegenüber Flüchtlingen in Libyen Mitschuld zu tragen, nicht nur moralisch, sondern auch rechtlich etwas dran ist.

MARK GRABER bestreitet, dass die Verfassung der USA nur tatsächlich geistes- oder physisch kranke Präsidenten ihres Amtes enthebbar macht und findet, dass Donald Trump so maßlos unfit for office ist, dass er erkennbar alle Anforderungen an ein Impeachment-Verfahren erfüllt.

PIERRE DE VOS gibt dem Parlament von Südafrika Ratschläge auf den Weg, wie sie den Auftrag des Verfassungsgerichts, die Amtsenthebung des Präsidenten zu regeln, erfüllen können.

STEFANUS HENDRIANTO berichtet von einer äußerst knapp (4:5) ausgegangenen Entscheidung des Verfassungsgerichts von Indonesien, wonach es dem Gericht nicht zustehe, außerehelichen und gleichgeschlechtlichen Sex für illegal zu erklären, und warnt davor, dieses Urteil vorschnell als Sieg der LGBT-Sache zu feiern.

Damit genug für diesmal. Ihnen eine gute Woche und bis bald. Falls Sie dies hier künftig wöchentlich in Ihrer Mailbox geschickt bekommen wollen und nicht bereits haben: einfach hier Ihre Emailadresse eintragen. Kost’ nix.

Ihr Max Steinbeis

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