Die Mär von den umweltfreundlichen Deutschen

10 beunruhigende Entwicklungen, die zeigen, dass wir nicht so umweltbewusst sind, wie wir denken

vom Recherche-Kollektiv Flugbegleiter:
7 Minuten
Eine vierspurige Autobahn auf der Stau herrscht.

Die Deutschen schon wieder, diese Öko-Musterknaben. Trennen Müll wie die Weltmeister, bauen Windräder ohne Ende, lieben die Natur. Sie schützen die Umwelt, während andere Länder sich nicht darum scheren. Soll an ihrem grünen Wesen etwa die Welt genesen?

Das sind die Klischees, die Deutsche gerne hören und pflegen. Doch stimmen sie auch? Diese zehn erstaunlichen Entwicklungen stellen Gewissheiten in Frage:

1. Die Zahl der Autos steigt dramatisch

Das Auto erlebt in Deutschland einen regelrechten Boom. Die Zahl der Pkw stieg laut Kraftfahrbundesamt von 41,3 Millionen im Jahr 2009 auf 47,1 Millionen im Jahr 2019. Das ist ein Zuwachs von 6 Millionen Pkw in weniger als zehn Jahren. Zudem steigt der Anteil der Stadtgeländewagen (SUV) an den Fahrzeugen auf über dreißig Prozent, die Zahl ihrer Neuzulassung liegt 2019 erstmals über eine Million. Dagegen waren am 1.1.2019 nur 83.175 Elektroautos und 20.000 Carsharing-Fahrzeuge in Deutschland gemeldet. Zwar sank der Kraftstoffverbrauch pro Fahrzeug, aber die Menschen fahren immer längere Strecken. Deshalb lag der Gesamtverbrauch laut Umweltbundesamt 2018 vier Prozent über dem von 1995. Mehr Autos produzieren Schadstoffe und Lärm, brauchen mehr Ressourcen, mehr Platz, mehr Straßen.

2. Der Anteil umweltfreundlicher Verkehrsmittel sinkt

Es gibt immer mehr Radfahrer? Das stimmt in vielen Städten, und auch für Urlaubsreisen ist das Fahrrad bei einigen populär. Aber der Anteil umweltfreundlicher Verkehrsmittel an der gesamten Mobilität, der sogenannte Personenverkehrsaufwand, stagniert seit 2002, seit den 1970er Jahren ist er gesunken. Laut Umweltbundesamt liegt der Anteil seit einigen Jahren konstant bei knapp zwanzig Prozent: Je rund sieben Prozent entfallen auf Bahn und andere öffentliche Verkehrsmittel und je rund drei Prozent auf Rad- und Fußverkehr. In Städten wie Berlin fällt der Fuß- und Radanteil mit 40 Prozent höher aus, für das ganze Land betrachtet bietet sich aber ein ernüchterndes Bild.

Aufnahme aus der Kabine eines Passagierflugzeugs.
Wer will seinen Tag eng eingequetscht in einer fliegenden Röhre beginnen und dabei tonnenweise Treibhausgase freisetzen? Erstaunlich viele Menschen. Dabei gäbe es Alternativen.

3. Flugreisen und Kreuzfahrten boomen

Der Anteil des Flugzeugs an den Urlaubsreisen über fünf Tagen ist laut Deutschem Reiseverband von 30 Prozent im Jahr 2000 auf 40 Prozent heute gewachsen. 112 Millionen Menschen stiegen 2016 in Deutschland ins Flugzeug, das war schon ein Rekordwert. 2018 waren es bereits 122,6 Millionen Abflüge von den deutschen Hauptverkehrsflughäfen ab, vier Prozent mehr als im Vorjahr. Für 2019 wird mit einem neuen Rekord bei den Passagierzahlen gerechnet. Eine einzige Flugreise verursacht pro Passagier je nach Strecke soviel Kohlendioxid wie viele Wochen oder Monate Autofahren. Auch eine weitere Reiseform, die mit hohen Emissionen verbunden ist, boomt: Kreuzfahrten. 2005 hatten Kreuzfahrtschiffe noch eine Million Passagiere aus Deutschland, 2017 waren es 2,7 Millionen.

4. Wir produzieren den meisten Verpackungsmüll in Europa

Die Deutschen trennen zwar ihren Abfall, aber sie sind zugleich Europameister in der Produktion von Verpackungsmüll. 18,7 Millionen Tonnen davon blieben laut Umweltbundesamt (UBA) allein 2017 vom Konsum übrig. Das sind 226,5 Kilogramm pro Kopf und drei Prozent mehr als im Vorjahr. Der EU-Durchschnitt lag 2016 bei 167 Kilogramm. Zur Weltspitze zählen wir Deutschen mit 21,6 Kilogramm pro Kopf auch beim Elektroschrott. Zudem täuschen die hohen Recyclingquoten: Darunter fällt auch der Export von Plastikmüll nach Asien.

5. Die CO2-Emissionen pro Kopf sinken nur marginal

Jährlich rund 2,5 Tonnen Kohlendioxid-Emissionen pro Person halten Klimaforscher für ein weltweit verträgliches Maß, um einen gefährlichen Klimawandel noch zu vermeiden. Die Deutschen blasen aber weiterhin viel mehr in die Atmosphäre. Die Pro-Kopf-Emissionen sinken trotz Energiewende und Klimaschutzprojekten nur langsam. 2001 lagen die Emissionen mit 10,5 Tonnen pro Kopf etwas über dem Vierfachen des verträglichen Werts, heute mit 9,5 Tonnen etwas darunter. Der deutsche CO2-Ausstoß ist weiterhin deutlich höher als der EU-Durchschnitt (6,75 Tonnen pro Kopf) und der G20-Durchschnitt (6,9 Tonnen). Hinzu kommt, dass eine Mehrzahl der Deutschen es ablehnt, einen Preis für CO2-Emissionen zu bezahlen. Laut einer Umfrage des ZDF-Politbarometers vom Mai 2019 sprechen sich 61 Prozent der Deutschen gegen eine CO2-Steuer aus, darunter auch 35 Prozent der Grünen-Wähler. Experten sehen nur geringe Chance, dass mit dem im Herbst 2019 verabschiedeten Klimapaket der Bundesregierung der CO2-Ausstoß im nötigen Umfang gesenkt werden kann. Zudem stockt der Ausbau erneuerbarer Energiequellen.


Aufnahme von zu Blöcken gepressten Plastikflaschen
226,5 Kilogramm Verpackungsmüll hat jeder Bundesbürger im Jahr 2017 im Durchschnitt erzeugt,

6. Der Flächenverbrauch geht weiter

Weil die Deutschen immer mehr Raum für Wohnen, Mobilität, Arbeiten und Gewerbegebiete beanspruchen, verschwindet eine stetig wachsende Fläche unter Beton und Asphalt oder wird anderweitig Landwirtschaft und Natur entzogen. Seit 1992 ist allein die Siedlungsfläche um 7100 Quadratkilometer gewachsen, was einem quadratischen Gebiet mit 84 Kilometer Seitenlänge entspricht. Trotz aller Bemühungen liegt der Flächenverbrauch heute immer noch bei rund 61 Hektar am Tag, einem Gebiet von 1 Kilometer mal 610 Meter Größe, rund die Hälfte davon wird versiegelt. Allein von 2001 bis 2015 wurden rund 1305 km Autobahnen neu gebaut, rund 1182 km auf sechs oder mehr Fahrstreifen erweitert. Zudem wurden in diesem Zeitraum rund 2032 km Bundesstraßen aus- oder neugebaut.

7. Naturschutzausgaben für den Wert von wenigen Tassen Kaffee

Der Schutz der Natur ist den Deutschen nicht viel Geld wert. 536 Millionen Euro geben Bund und Länder derzeit jährlich für den Naturschutz aus. Das sind 6,60€ pro Person im Jahr, der Gegenwert von wenigen Tassen Kaffee. Die Bundesregierung nennt selbst eine viel höhere Zahl, die nötig wäre, nur um die verbindlichen Vorgaben der EU im Naturschutz zu erfüllen: 1,4 Milliarden Euro pro Jahr. Um allein dieses Grundniveau zu erreichen, müssten die heutigen Ausgaben verdreifacht werden – und selbst das würde noch nicht einmal garantieren, dass die Roten Listen gefährdeter Arten wieder kürzer werden oder der Insektenschwund aufhört.

Ein gepflügter Acker.
Die Artenvielfalt in Deutschland befindet sich im Sinkflug – eine Trendwende ist auch wegen der großen Nachfrage nach Billiglebensmitteln nicht in Sicht.

8. Umwelt spielt im öffentlich-rechtlichen TV kaum eine Rolle

Die Berichterstattung über Umweltthemen hat unter dem Eindruck der Massenproteste von „Fridays for Future" spürbar zugenommen. In Talkshows steht vor allem das Klimathema immer öfters im Fokus. Doch es gibt sehr viel aufzuholen: Von den vielen Milliarden Euro, die der öffentlich-rechtliche Rundfunk pro Jahr bekommt, wird nur ein Bruchteil für die Berichterstattung über Natur und Umwelt ausgegeben. Die letzte verfügbare Programmanalyse der Medienanstalten der Länder (Tabelle 25.1.) ergab, dass von der Gesamtsendezeit in der sogenannten Fernsehpublizistik bei ARD und ZDF jeweils nur rund 1 Prozent auf Umweltthemen verwendet wurden. Umweltinteresse sieht anders aus.

9. Alles bio? Nein.

Bio-Lebensmittel gelten vielen Menschen als besonders gesund und umweltfreundlich. Dass in Großstädten viele Bio-Supermärkte eröffnet haben, erweckt den Eindruck, als setze sich der Trend zur Bio-Landwirtschaft durch. Das stimmt aber nicht. Marktanteile und Wachstumsraten sind gering. Derzeit sind 11 Prozent der Betriebe zertifizierte Bio-Betriebe, sie bewirtschaften 8,2 Prozent der Agrarfläche. Und gerade dort, wo die öffentlichen Klagen über Tierwohl und Umweltprobleme am größten sind – bei der Fleischproduktion – ist der Marktanteil am geringsten: Er liegt bei rund zwei Prozent.

10. Wir verlagern Umweltprobleme ins Ausland

Die meisten Deutschen schätzen den Zustand der Umwelt in Deutschland positiv ein. In der Tat ist der Himmel heute reiner und sind die Flüsse sauberer als noch vor einigen Jahrzehnten. Doch dahinter steht auch, dass wir Umweltprobleme in andere Länder verlagern. Ein erheblicher Teil von Plastikabfällen und Elektroschrott wird exportiert, wir lassen energieintensive und umweltverschmutzende Güter anderswo produzieren – und wir importieren in riesigen Mengen Palmöl für die Lebensmittelherstellung und Soja als Tierfutter, die auf den Flächen zerstörter Regenwälder hergestellt werden. Das Ausmaß des Imports ist riesig: Für die deutschen Palmölimporte ist eine Anbaufläche doppelt so groß wie das Saarland nötig, für die deutschen Sojaimporte eine Fläche so groß wie Sachsen-Anhalt. Nur ein Teil dieser Güter wird nach Kriterien der Nachhaltigkeit erzeugt. Die Brände im Amazonas, die im Sommer 2019 für Schlagzeilen sorgten, haben auch direkt mit unserem Konsumverhalten zu tun.

Sein und Bewusstsein sind in Deutschland zwei sehr unterschiedliche Dinge. Die oft zu hörende Behauptung, wir seien übereifrige Öko-Weltmeister, während sich der Rest der Welt nicht um Natur- und Umweltschutz schere, ist auf jeden Fall ein Mythos.
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