Von großen und kleinen Expeditionen: Wo die wilden Riesenquallen wohnen

Geschenk-Tipp: Das Kinderbuch „Auf der Suche nach der geheimnisvollen Riesenqualle“ ist – so der Untertitel treffend – eine „magische Reise zum Nordpol“. Die Forscherin Dr. Morley möchte herausfinden, ob es die scheue Riesenqualle wirklich gibt oder ob das Tier ein Mythos ist. Mit ihrem Team begibt sie sich in die Kälte. Bald stellt sich die Frage: Wer beobachtet hier eigentlich wen? Eine Rezension im Dialog.

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Mindestens vier Fünftel des Titelbildes sind dunkelblaues Wasser, in das die Riesenqualle tief hineinragt und auf dessen Blau sich das Weiß der Titelschrift gut abhebt. Das obere Fünftel zeigt Eislandschaft und Schnee, vorn Dr. Morley und die Qualle, weit im Hintergrund das Forschungsschiff.

Die RiffReporter-Autorin Susanne Wedlich und ihre Kollegin Christiane Enkeler lasen zeitgleich ein neues Bilderbuch für Kinder, in dem eine Forscherin auf Expeditionsreise geht: „Auf der Suche nach der geheimnisvollen Riesenqualle“ von Chloe Savage. Während der Lektüre tauschten sie ihre Eindrücke aus. Nach den Besprechungen eines Kinderbuchs zum Schlaf, eines zum Slow Travelling und eines zum Werkzeuggebrauch bei Tieren erscheint damit bereits unsere vierte Rezension der etwas anderen Art. Hier das Gesprächsprotokoll – eine klare Verschenk-Empfehlung.

Liebe Susanne, was für ein schönes Buch haben wir uns da zum Besprechen ausgesucht!

Ja, Christiane – und ich bin verliebt! Ich behaupte, es ist gar nicht möglich, der quallenverrückten Dr. Morley, ihrem Team und der arktischen Riesenqualle zu widerstehen. So viel sei zur Story verraten: Das Tier ist kein Mythos, sondern existiert. Wir sehen die Qualle auch auf dem Cover.

Christiane: Du bist ja Biologin: Gibt es die Qualle wirklich???

Susanne: Lass es mich so sagen: In der Realität hat man sie noch nicht gefunden. Aber im Buch…

Christiane: Auf dem Umschlag hat sie wunderschön glänzende Tentakel, die wie die Schneeflocken und Titelbuchstaben vor dem dunkelblauen Himmel glänzen und schimmern.

Susanne: Überhaupt sind alle Bilder im Buch wunderbar ruhig. Ich bin darin versunken. Es gibt auch viele Details zu entdecken. Manche Bärte und Mützen haben mich sehr an Tentakel erinnert – ich glaube, man geht so sehr mit der Story mit, dass man irgendwann nur noch Quallen sieht. Diese kleinen Besonderheiten erleichtern natürlich auch die Orientierung angesichts der ansonsten meistens dick vermummten Mannschaft.

Christiane: Das klare und dabei sehr kontrastreiche Farbkonzept hat mich begeistert: die Arktis, der Himmel, das Wasser in Blau, die Forscher und Forscherinnen und das Schiff in Orangerot. Dabei trägt Dr. Morley immer etwas Grünes. So sticht sie auch auf den zurückhaltenden Wimmelbildern immer wieder heraus.

Eine Doppelseite zeigt im Querschnitt, wie das Schiff von innen aussieht: Man kann in jede Kammer gucken.
Einige Doppelseiten in dem Bilderbuch funktionieren wie Wimmelbilder: Man weiß gar nicht, wohin man zuerst gucken soll – überall passiert gerade etwas. Für welchen Anlass backt der Koch die riesengroße Torte? Was hat Dr. Morley auf ihren Karten an der Wand notiert? Was ist das für eine Kiste, die geöffnet auf dem Bett des Crew-Mitgliedes liegt?

Susanne: Die Farbgebung ist tatsächlich interessant. Das rote Schiff und das rot gekleidete Team kontrastieren sehr mit der arktischen Landschaft. Und auch das Grün ist wirklich ein Hingucker: bei Dr. Morley, den atemberaubenden Nordlichtern – und einem wundervoll schleimigen Algenblob.

Christiane: Die ersten beiden Seiten sind eine Art Übersicht in Bildern, die Kinder an Bord holen, die noch nicht lesen können. Wir sehen links das Schiff mit vielen Flaggen, vor dem sich das Team aufgebaut hat…

Susanne: …und über die Mannschaft in Reih und Glied habe ich gelacht. Sie sind so dick in Winterkleidung eingepackt, dass nur die Augen rausgucken. Ich habe dann auch fast ein bisschen gefroren.

Christiane: Rechts ist zu sehen, was man für eine Expeditionsfahrt in die Kälte alles braucht, darunter natürlich dicke Winterkleidung bis hin zur Pudelmütze, aber auch Zahnbürsten und wissenschaftliche Geräte wie Laptops. Die ganze Geschichte hat auch einen feinen Humor. Auf den Notebooks der Forscher:innen ist zum Beispiel kein Apfel als Hinweis auf die Marke zu sehen, sondern eine kleine Qualle.

private Schwarz-Weiß-Aufnahme der Autorin und Illustratorin Chloe Savage: eine junge Frau mit kinnlangen, eher kurzen krausen dunklen Haaren und einem dunklen Pulli
Der Verlag schreibt über die Autorin: „Chloe Savage wuchs in Stevenage, England auf. Sie studierte Illustration an der 'Cambridge School of Art' und arbeitete zunächst für die Oper, Film und Fernsehen. Während sie auf Terminplänen herumkritzelte, entdeckte sie ihre Leidenschaft für die Illustration.“

Susanne: Schön ist auch die Erzählung und wie sich der Spieß umdreht. Sehr schnell ist nicht mehr klar, wer wem nachspürt. Die Autorin Chloe Savage hat eine einfache, passende Bildsprache gefunden. Wir folgen der Mannschaft von der anfänglichen Aufbruchsstimmung bis zum Frust, wenn praktisch jede einzelne Stirn gerunzelt ist – und Köpfe im erschöpften Tiefschlaf auf dem Notebook ruhen.

Christiane: Das ist mir auch aufgefallen. Die Körpersprache der Figuren ist sehr ausdrucksstark. Man kann ihre Begeisterung spüren, gerade wenn sie arktischen Tieren wie den Narwalen, den Belugas und den Orkas begegnen. Man fühlt mit, wenn die Mannschaft langsam müde wird und sich an Bord Unzufriedenheit breitmacht. Auch die Enttäuschung von Dr. Morley ist mit den Händen zu greifen, wenn sie im dunklen Taucheranzug mit hängenden Schultern unter Wasser immer tiefer zu sinken scheint.

Susanne: Vielleicht sollten wir aber gleich klarstellen, dass die Geschichte nicht schlecht ausgeht. Es gibt eine Art Happy End, das den Kindern viel Raum lässt, den Faden weiterzuspinnen. Ich finde das fantastisch gelöst.

Über dem Forschungsschiff sind in der Nacht grüne Polarlichter erschienen. Dr. Morley (oder ein anderes Besatzungsmitglied) schaut nach oben zum Himmel. Daher kann sie auch die Riesenqualle direkt unter ihr nicht sehen, die ebenfalls hinauf zum Himmel blickt. Auf der anderen Seite des Schiffes sieht man jemanden auf Knien und mit einem Ring in der Hand einen Heiratsantrag machen…
Auf jeder Doppelseite gibt es auch ohne Text viel zu entdecken und ganz viele Anknüpfungspunkte, um weiter zu erzählen.

Christiane: Die Geschichte bietet so viel Fläche, so viele Figuren und Gegenstände, die Eltern und Kinder gemeinsam suchen, finden, besprechen und selbst weitererzählen können – hast du übrigens den Heiratsantrag gesehen?

Susanne: Nein, das habe ich verpasst, ich muss gleich noch einmal nachschauen. Vielleicht hat mich der Vogel abgelenkt, der auf einer anderen Seite einen Schneemann anturtelt.

Christiane: Das Buch ist auf jeden Fall eine ideale Gute-Nacht-Geschichte zum Vorlesen, findest du nicht?

Susanne: Das stimmt. Es wird Kindern ab etwa vier Jahren und ihren Eltern gefallen, so eine wunderbare Erzählung von Menschen und Natur, die sich auf Augenhöhe begegnen. Ich finde, die Geschichte passt fürs ganze Jahr, zu Ostern und auch zu Weihnachten und zum Geburtstag sowieso.

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