Überraschende Kehrtwende: EU-Umweltminister stimmen doch über Renaturierungsgesetz ab

Der Kursschwenk der österreichischen Umweltministerin bringt Bewegung in das Ringen um das wichtigste europäische Naturschutzgesetz seit Jahrzehnten. Eine Entscheidung könnte am Montag beim Treffen der EU-Umweltminister in Luxemburg fallen.

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Luftbild einer Landschaft voller toter Bäume.

Dieser Beitrag wurde am 16. Juni um 17.00 Uhr und am 17. Juni um 9.30 Uhr aktualisiert.

Die Umweltministerinnen und -minister der EU stimmen heute Vormittag überraschend doch über das Renaturierungsgesetz ab. Der belgische Umweltminister Alain Maron sagte, er hoffe auf eine Mehrheit. Es gehe um die „Glaubwürdigkeit“ auch der belgischen Ratspräsidentschaft. Zuvor hatte ein Kurswechsel der österreichischen Umweltministerin die Verabschiedung des europäischen Renaturierungsgesetzes doch wieder wahrscheinlicher gemacht. Leonore Gewessler (Grüne) kündigte am Sonntag an, dass sie für ihr Land dem Renaturierungsgesetz der EU entgegen früheren Aussagen zustimmen werde. Das bringt Bewegung in das politische Ringen um dieses Kernstück des Green Deal der EU. Am Freitag hatte es mit Blick auf das als entscheidend geltende Treffen der Umweltministerinnen und Umweltminister der 27 Mitgliedsstaaten am Montag in Luxemburg noch keine ausreichende Mehrheit der EU-Staaten gegeben. Aus EU-Kreisen hatte es deshalb geheißen, eine eigentlich geplante Abstimmung sei vorerst wieder von der Tagesordnung genommen worden. Es solle lediglich eine Aussprache geben. Über das Wochenende entwickelte sich dann eine neue Dynamik für die Verabschiedung.

„Das Gesetz ist fertig, es ist richtig, es ist gut – bringen wir es über die Ziellinie“

„Ich kann es nicht mit meinem Gewissen vereinbaren, dass wir diese Chance verstreichen lassen, ohne alles versucht zu haben“, begründete Gewessler ihre Entscheidung, dem Gesetz trotz Protests ihres konservativen Koalitionspartners zuzustimmen. „Das Gesetz ist fertig, es ist richtig, es ist gut – bringen wir es über die Ziellinie“, sagte sie. Nach Angaben aus EU-Kreisen müsste aber mindestens ein weiterer Staat zusätzlich mit Ja stimmen, um die erforderliche Mehrheit herzustellen. Komplizierend kommt hinzu, dass der konservative österreichische Bundeskanzler Karl Nehammer von der ÖVP seiner Ministerin die Befugnis für ein Ja abgesprochen und sogar eine Intervention beim Europäischen Gerichtshof angedroht hat.

Das Renaturierungsgesetz ist einer der wichtigsten Bestandteile des europäischen Green Deal, mit dem die Staatengemeinschaft bis zur Jahrhundertmitte klimaneutral und ökologisch nachhaltig werden will. Wird es beschlossen, wäre es das weltweit erste Gesetz, das eine ganze Staatengemeinschaft dazu verpflichtet, nicht nur die verbliebenen Reste von Natur zu schützen, sondern zusätzlich bereits zerstörte oder geschädigte Ökosysteme wieder in einen guten Zustand zu bringen. Bis zum Jahr 2030 muss dann die Wiederherstellung geschädigter Ökosysteme auf 20 Prozent der EU-Fläche eingeleitet werden. Die Vorgabe gilt für alle Ökosysteme – vom Meer bis zum Gebirgswald. Bis 2050 sollen alle geschädigten Ökosysteme in den Genuss von Renaturierungsmaßnahmen kommen. Dazu würde zum Beispiel gehören, 25.000 Flusskilometer in Europa wieder frei fließen zu lassen, Moore wiederzuvernässen und Biotope wie Hecken und Streuobstwiesen anzulegen. Auch die Begrünung von Städten angesichts zunehmender Hitzewellen ist ein wichtiges Ziel.

Auch Österreichs Kursschwenk allein reicht noch nicht aus

Um eine Mehrheit für das Inkrafttreten zu erreichen, müssen 15 der 27 Mitgliedstaaten zustimmen, die gleichzeitig 65 Prozent der EU-Bevölkerung vertreten. Gesichert ist diese Mehrheit auch mit einem Ja aus Österreich immer noch nicht. Allerdings steigen die Chancen mit dem Schritt Gewesslers deutlich. Nun würde es schon für eine Mehrheit ausreichen, wenn Belgien, das bis Ende Juni die EU-Ratspräsidentschaft innehat, sein Nein in eine Enthaltung abschwächen würde. Ob es beim Treffen der EU-Umweltministerinnen und -minister überhaupt zu einer Abstimmung kommt, steht noch nicht fest. Üblicherweise wird diese vom Ratsvorsitz angesetzt, wenn eine Mehrheit zu erwarten ist.

Bundesumweltministerin Steffi Lemke (Grüne) wirbt weiter für die Annahme des Gesetzes. Deutschland und Europa seien in der Pflicht, die Ziele des Montrealer Biodiversitätsabkommens der Vereinten Nationen umzusetzen, erklärte ihr Ministerium. Das Abkommen war Ende 2022 von knapp 200 Staaten beschlossen worden und hat zum Ziel, der weiteren Zerstörung der menschlichen Lebensgrundlagen und der drohenden Ausrottung von Arten entgegenzuwirken. Die ökologische Wiederherstellung geschädigter Gebiete gilt als unerlässlicher Beitrag dazu – und das Renaturierungsgesetz würde dazu den europaweiten rechtlichen Rahmen setzen. Analysen zufolge sind 80 Prozent der Lebensräume in der EU in einem schlechten Zustand. Wissenschaftler warnen, dass ohne entschiedene Gegenmaßnahmen in diesem Jahrhundert jede achte Art und ganze Ökosysteme von der Erde verschwinden könnten. Doch Deutschland und andere Befürworter können sich nicht damit durchzusetzen, dass nach dem Europaparlament auch die Mitgliedsstaaten grünes Licht geben.

Eigentlich war das Gesetz schon in trockenen Tüchern. In den komplizierten europäischen Mühlen hatten Ausschüsse, Mitgliedstaaten und EU-Kommission sich in mehr als zwei Jahren Verhandlungen auf einen Kompromiss geeinigt, mit dessen Hilfe die Natur in den kommenden sechs Jahren auf 20 Prozent der Fläche der EU wieder in einen ökologisch guten Zustand versetzt werden soll. Nachdem weitgehende Zugeständnisse an den Agrarsektor vereinbart und Landwirte ausdrücklich von individuellen Verpflichtungen freigestellt wurden, stimmte im Februar das Europäische Parlament mehrheitlich zu. Angesichts der europaweiten Traktoren-Proteste, die damals Schlagzeilen machten, war erstaunlich, dass auch viele konservative Politikerinnen und Politiker für das Gesetz votierten.

Widerstand von Rechtspopulist Orban angeführt

Doch dann trat Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán auf den Plan und kündigte in letzter Minute seine Unterstützung für das Gesetz auf. Seitdem steht es – denkbar knapp – ohne eine Mehrheit da. Seit Orbáns Schwenk, dem sich auch die Slowakei anschloss, gibt es zwar weiter eine ausreichende Mehrheit von 19 Staaten für das Gesetz. Zusammen repräsentieren sie statt der nötigen 65 Prozent aber nur noch knapp 63 Prozent der EU-Bevölkerung. Mit Nein gestimmt oder sich enthalten haben auch Österreich, Belgien, Finnland, Italien, die Niederlande, Polen und Schweden. Hintergrund dafür war die Angst, vor der EU-Wahl am 9. Juni bei Landwirten Stimmen zu verlieren, die an intensiven Wirtschaftsweisen festhalten wollen oder in der Renaturierung einen Angriff auf die Selbstbestimmung über Flächen sehen. Seit den Zuwächsen für Rechtspopulisten bei der EU-Wahl herrscht in vielen Ländern die Stimmung vor, dass eine progressive Umweltpolitik vorerst auf Eis gelegt wird.

Hinter den Kulissen war in den vergangenen Tagen versucht worden, für den Rat der Umweltministerinnen und Umweltminister am Montag doch noch eine Mehrheit zustande zu bringen. In einem vom irischen Umweltminister Eamon Ryan initiierten Brief fordern die Ressortchefs und -chefinnen aus 11 EU-Staaten ihre Kollegen aus den Blockadeländern auf, Rückgrat zugunsten des bereits vom Europaparlament beschlossenen Gesetzes zu zeigen. Ohne das Gesetz sei auch der Kampf gegen den Klimawandel in Europa – dem sich am schnellsten erwärmenden Kontinent der Erde – aussichtslos, argumentieren die Minister.

In Österreich könnte der Streit um das Renaturierungsgesetz zu einer Koalitionskrise führen. Vertreter der Mehrheitspartei ÖVP, die mit den Grünen die Regierung bildet, äußerten sich am Sonntag ebenso wie Vertreter von Bundesländern kritisch. Gewessler wolle „aus ideologischen Gründen mit der Brechstange für ein Gesetz stimmen, dass eine Flut an Überregulierungen und Doppelgleisigkeiten für unser Land bringen wird“, kritisierte Landwirtschaftsminister Norbert Totschnig (ÖVP), berichtete die Zeitung „Der Standard“.

Sollte sich in den Beratungen am Montag doch noch eine Mehrheit für das Gesetz abzeichnen, wie es nun mit dem Ja aus Österreich geschieht, könnte auch kurzfristig noch eine Abstimmung anberaumt werden. Für den Fall, dass im Rat der Mitgliedstaaten eine qualifizierte Mehrheit nicht zustande kommt, wird nach Angaben der belgischen Ratspräsidentschaft die zweite Lesung eröffnet. In dieser Phase kann dann der Rat einen neuen Entwurf vorlegen, zu dem dann wiederum das EU-Parlament Stellung bezieht. Das Parlament kann den Rats-Entwurf annehmen und damit in Kraft setzen oder abändern und zurück an den Rat überweisen. Das Parlament kann den Vorschlag auch rundum ablehnen – dann wäre das Renaturierungsgesetz endgültig gescheitert.

Wird der Entwurf abgeändert an den Rat zurückgeschickt, können die Mitgliedstaaten die neue Fassung annehmen und in Kraft setzen oder aber einen Vermittlungsausschuss zwischen den Institutionen einberufen. Dieser Prozess muss dann innerhalb von maximal vier Monaten abgeschlossen sein.

Wissenschaftler fordern, Landwirte für Klima- und Naturschutz zu entlohnen

Der am Freitag verkündete Verzicht auf eine Abstimmung im Rat der Umweltminister spiegelt die Unsicherheit wider, wie es nach der Europawahl mit dem Green Deal und seinen weitreichenden Plänen für den Klima- und Artenschutz weitergeht. Diese Pläne umzusetzen, würde im Naturschutz bedeuten, tief in umweltschädliche Praktiken in der Landwirtschaft einzugreifen, etwa Moorböden als Äcker zu nutzen oder Flächen weiträumig zu entwässern. Nach Ansicht von Fachleuten ist eine solche Veränderung auch nötig, um den Hochwasserschutz zu verbessern. Auch die europäischen Klimaziele können ohne eine großflächige europaweite Renaturierung nicht erreicht werden.

Landwirte wehren sich aber gegen solche Eingriffe in ihre Wirtschaftsweise. Sie sorgen sich, dass ihre Einkünfte sinken könnten und sie nicht mehr selbst entscheiden können, was sie mit ihrem eigenen oder gepachtetem Land machen können. Vorschläge aus Wissenschaft und Umweltverbänden, Landwirte stärker für Leistungen im Natur- und Klimaschutz zu entlohnen, wurden bisher nicht ausreichend in die Praxis umgesetzt.

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