Ailton Krenak: Nachhaltigkeit ist ein kolonialistischer Mythos

Statt Praktiken des Gleichgewichts zu entwickeln, treiben Politik und Unternehmen mit dem Mythos von Nachhaltigkeit die Ausbeutung der Welt voran.

vom Recherche-Kollektiv Klima & Wandel:
11 Minuten
Indigener Aktivist Ailton Krenak (1953)

Der indigene Denker Ailton Krenak spricht über die globale Klimakrise und den Naturschutz in Amazonien, die Lüge der Nachhaltigkeit und Praktiken des Gleichgewichts.

Mehr als hundert Regierungsvertreter haben auf der Weltklimakonferenz in Glasgow (COP26) ein Ende der Abholzung der Wälder bis 2030 versprochen, auch der brasilianische Präsident Bolsonaro. Dafür sollen etwa 20 Milliarden US-Dollar an die Entwicklungsländer fließen. Wird das den Wald retten?

Der indigene Vordenker und Umweltaktivist Ailton Krenak sieht da schwarz. Die COP26 bringe keine Lösungen. Das Konzept der Nachhaltigkeit sei nichts als Augenwischerei. Mehr noch: es sei eine Verfälschung der Zukunft. Vielmehr müsse es darum gehen, das natürliche Gleichgewicht von Mensch und Natur wieder herzustellen. Zur Rettung des Amazonas verordnet Krenak dem Westen eine Diät.

Krenak ist Philosoph und Aktivist. Berühmt wurde er für seinen Auftritt vor der verfassungsgebenden Versammlung in Brasilien im Jahr 1987. Während seiner Rede bemalte er sein Gesicht mit der schwarzen Genipapo-Farbe, um gegen die Rückschritte und Angriffe auf die Rechte der Indigenen zu protestieren. Seit dem unterstützt Krenak mit seinem originären Denken die indigene Bewegung.

Vor kurzem erschien sein provokantes BuchIdeen, um das Ende der Welt zu vertagen auf Deutsch. Es enthält acht Texte, in denen Krenak die sich zuspitzende Umweltkatastrophe analysiert und kommentiert. Darin nimmt er einige unserer westlichen Konzepte auseinander: Menschheit, Vernunft und auch die Idee der Nachhaltigkeit. Er plädiert für ein umfassenderes Verständnis der Welt, in der der Mensch nicht die Spitze der Schöpfung ist, sondern eines unter vielen anderen Lebewesen, die zusammen den Planeten erschaffen.

Ulrike Prinz sprach mit dem streitbaren Autor des brasilianischen Bestsellers.

Ulrike Prinz: Ailton Krenak, was sind die Beschlüsse des Klimagipfels COP26 in Glasgow wert?

Ailton Krenak: Dieser Klimagipfel wird zu nichts führen. Solange die Lüge der Nachhaltigkeit vorherrscht, wird es kein Klimaabkommen geben. Wir werden immer noch extreme Wetterereignisse haben: Stürme, Tsunamis und andere Katastrophen und Ungleichgewichte, Viren miteingeschlossen. Erst pandemische Krankheiten werden zu einer Umstrukturierung des globalen Finanzsystems führen und einen Bruch mit der Nachhaltigkeitsstrategie herbeiführen.

Im westlichen Verständnis bezeichnet Nachhaltigkeit eine Entwicklung, welche die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne künftige Generationen an der Befriedigung ihrer Bedürfnisse zu hindern. Warum ist das Konzept der Nachhaltigkeit Ihrer Meinung nach eine Lüge?

Die Bedeutung des Konzeptes liegt in der Rechtfertigung eines Ausbeutungsmodells. Wie kann man die Ausbeutung unendlich fortführen? Durch die Einführung der Nachhaltigkeit, die allein wirtschaftlich definiert wird. So wird es immer weitergehen, bis zur Erschöpfung. Wenn die fossilen Brennstoffe zur Neige gehen, gehen wir zur Windenergie über, wenn die Windenergie nicht mehr funktioniert, gehen wir zu irgendeiner anderen Energieart über.

Dieser Diskurs glaubt, dass die Biosphäre des Planeten aus einer formbaren Masse besteht und versteht nicht, dass wir es mit einem Ökosystem zu tun haben. Dieses riesige terrestrische Ökosystem gerät aus den Fugen, wenn man nur einen Punkt verschiebt.

Die Lüge der Nachhaltigkeit ist der Kern der kolonialen ausbeuterischen Idee

Aber die Wirtschaft glaubt, sie könne an einem Ort herumwühlen, eine Ölquelle bohren, Öl fördern, es verarbeiten, unzählige Dinge herstellen und das könne nachhaltig sein. In diesem Sinne ist die Rede von der Nachhaltigkeit ein Mythos, ein räuberischer Mythos und eine Lüge. Sie rechtfertigt sich selbst, denn sie ist der Kern der kolonialen, ausbeuterischen Idee.

Wenn dieser Gedanke von der Erde zum Mars wandert, wird er immer wieder dasselbe Loch bohren und behaupten, dass es nachhaltig sei. Wir wissen, dass das unmöglich ist. Wenn ich also sage, es ist ein Mythos, dann ist es ein Mythos, der dem Raubtierkapitalismus dient. Es ist ein räuberischer Mythos.

Vom Überflug sieht man auf den Regenwald hinunter, aus dem mosaikartige Stücke herausgeschlagen wurden im Gebiet unkontaktierter Indigener im Bundesstaat Pará.
Das Gebiet Ituna Itatá im Bundesstaat Pará wird von unkontaktierten Indigenen bewohnt. Es war in den letzten zwei Jahren am stärksten von illegaler Abholzung und dem Vordringen von Landräubern betroffen.
Berge der Espinhaço-Gebirge von Minas Gerais.
Das Espinhaço-Gebirge von Minas Gerais war Ziel des Goldrausches im 18. Jahrhundert. Seit 2005 gehört es zum Unesco Kulturerbe. Mehr als die Hälfte der gefährdeten Tier- und Pflanzenarten in Minas Gerais sind hier zu finden.
Die indigene Führerin Claudette Labonté aus französisch Guiana  hält ein Plakat mit der Forderung „Amazonia 80×25“ in der rechten Hand.
Die indigene Führerin Claudette Labonté aus französisch Guiana wurde von den Aktivistinnen der Organisation AVAAZ als lebendige Version „Die Freiheit führt das Volk“ von Eugène Delacroix' in Szene gesetzt. Es vergleicht den Kampf der Indigenen und ihre Anwesenheit auf dem Kongress in Marseille mit dem „Sturm auf die Bastille“ der französischen Revolution.
Ein kleines Totenkopfäffchen guckt durch die Blätter.
Ein kleines Totenkopfäffchen im Nationalpark Yaguas, Peru.
Eine Rinderherde steht inmitten des Rauchs der Brände in der Region Nova Fronteira in Novo Progresso, Brasilien
Der Regenwald ist durch massive Abholzung stark bedroht. Im brasilianischen Amazonas treibt vor allem die Viehzucht die Abholzung an. Novo Progresso, Brasilien