Buchtipp für Vogel-Begeisterte: Mit Scott Weidensaul auf Schwingen um die Welt

Milliarden von Zugvögeln legen Jahr für Jahr enorme Strecken zurück. In seinem neuen Buch lüftet der amerikanische Vogelkundler Scott Weidensaul einige der Geheimnisse des Vogelzugs.

vom Recherche-Kollektiv Flugbegleiter:
6 Minuten
Links: Buchcover von „Auf Schwingen um die Welt – Die globale Odyssee der Zugvögel“. Das Cover zeigt einen Vogelschwarm vor einem schneebedeckten Berg. Rechts: Ein Mann mit Brille und Baseballmütze hält eine große weiße Eule mit gelben Augen in den Händen.

Ihre Rufe höre ich selbst durchs geschlossene Fenster: Immer wenn im Herbst und im Frühjahr die Kraniche über mein Büro ziehen, wird mein Herz ganz weit. Damit bin ich vermutlich nicht allein. Man muss kein ausgewiesener Vogelfan sein, um den Schwärmen der Zugvögel sehnsüchtig hinterher zu schauen und in Gedanken mitzureisen.

Für alle, denen es ähnlich geht, hat der Verlag hanserblau in diesem Herbst genau das richtige Buch im Programm. Es ist die Übersetzung des New York Times Bestsellers „A world on the wing: The global odyssey of migratory birds”, das im Original zuerst 2021 erschienen ist. Darin stellt der US-amerikanische Vogelkundler Scott Weidensaul viele neue Erkenntnisse aus der Erforschung der Zugvögel vor.

Wie Technologie Faszination noch vergrößert

Auch wenn Vögel immer noch ganz klassisch beringt werden – die Ornithologie hat in den vergangenen Jahrzehnten außerordentlich von der Entwicklung neuer Technologien profitiert. Sender und Datensammler wurden immer kleiner, so dass inzwischen selbst winzige Kolibris Mini-Funksender-Rucksäcke auf ihren Reisen tragen können, mit deren Hilfe ihre Routen erfasst werden. Und Radarmessungen registrieren nicht nur Regen, sondern auch die unzähligen Vogelschwärme, die im Frühjahr und Herbst im Schutz der Dunkelheit über unsere Häuser hinweg ziehen. Quasi in Echtzeit lassen sich die Zugvögel so auf ihren Wegen verfolgen. Wer insgeheim befürchtet, dass die neuen Technologien das immer noch geheimnisumwobene Naturschauspiel zu sehr entzaubern, kann nach Lektüre von Weidensauls Buch beruhigt sein: Die neuen Erkenntnisse vergrößern vielmehr die Faszination für das Phänomen Vogelzug.

Anschaulich beschreibt der Autor, der selbst seit Jahrzehnten Vögel erforscht, wie die modernen Forschungsansätze unter anderem helfen, die unglaublichen Leistungen der Zugvögel besser zu verstehen. Den längsten, bislang (!) bekannt gewordenen Nonstop-Flug unter den Zugvögeln unternimmt die Pfuhlschnepfe. Daten von einem Sensor auf dem Rücken verrieten erst kürzlich, dass die Tiere in der Lage sind, mehr als 12.000 Kilometer zwischen Alaska und Neuseeland nonstop zu fliegen.

Weiß-grau gescheckte Schnepfenvögel mit mittellangem Schnabel und einer schwarzen Halskrause stecken ihre Schnäbel in das flache Wasser auf einer Wattfläche. Rechte: Peter Prokosch, Grida
Anadyrknutts, auch Große Knutts genannt, beim Fressen im Watt des Gelben Meeres. Die Art steht als stark gefährdet auf der internationalen Roten Liste.

Enorm flexibel – aber nicht unbedingt bei ihren Rastplätzen

Bei ihren enormen Flugstrecken hilft Zugvögeln auch die Anpassungsfähigkeit ihres Stoffwechsels. Anadyrknutts verbrennen beispielsweise während ihres 5000 Kilometer langen Nonstop-Flugs im Frühjahr – er führt von Australien nach China und Korea – nicht nur ihre gesamten Fettreserven, sondern greifen zur Energiegewinnung für ihre Flugmuskulatur sogar ihre inneren Organe an. Wenn sie an ihren Rastplätzen am Gelben Meer ankommen, pfeifen sie buchstäblich aus dem letzten Loch und müssen für den Weiterflug ins sibirische Brutgebiet erst mal wieder Futter tanken.

Ähnlich wie das Wattenmeer der Nordsee ist das Gelbe Meer einer der wichtigsten Zugvogel-Rastplätze der Welt. Eindeichung, Landgewinnung und menschliche Nutzung haben diesem entscheidenden Zwischenstopp für viele Vogelarten dramatisch zugesetzt. Mit konkreten und drastischen Konsequenzen: Als in Saemangeum in Südkorea 2006 ein 35 Kilometer langer Deich zwei große Flussmündungen dauerhaft von der Flut abschnitt, verschwanden von einem Jahr aufs andere rund 70.000 Anadyrknutts – die Zahl der Vögel, die in diesem Teil des Gelben Meeres gerastet hatten, ein Fünftel des weltweiten Bestands.

Als Autor von mehr als 30 Naturbüchern verbindet Scott Weidensaul in seinem Buch geschickt Reportageteile, an denen er vor Ort in die lokale Vogelwelt eintaucht, mit dem aktuellen Stand der Forschung zu den betreffenden Arten. Am Gelben Meer macht er sich während des Vogelzugs mit ortskundigen Kolleginnen und Kollegen auf die Suche nach „Löffelchen“, den Löffelstrandläufern. Die vom Aussterben bedrohte Art mit dem außergewöhnlich geformten Schnabel hat sich in den vergangenen Jahren in China zu einer Galionsfigur für den Naturschutz entwickelt. Die Begeisterung für diese Art hilft bei den Bemühungen, das Gelbe Meer zu schützen und als Rastplatz für Zugvögel zu erhalten.

Ein Vogel mit hellem Bauch, gescheckten Flügeln, orange-braunem Kopf und einem schwarzen Schnabel, der vorne wie ein Löffel aussieht, steht zwischen niedrigen Pflanzen. Im Hintergrund Kiesel auf dem Boden. Rechte: Christian Zöckler, GRID-Arendal
In seinem Buch beschreibt Scott Weidensaul, wie der Löffelstrandläufer zu einer Gallionsfigur wurde bei den Bemühungen, das Gelbe Meer als Rastplatz für Zugvögel zu erhalten. Auf diesem Foto von Christian Zöckler ist die hochgradig gefährdete Art in ihrem Brutgebiet im äußersten Nordosten von Sibirien zu sehen.

Vogelschutz: Wissen hilft, Prioritäten zu setzen

Scott Weidensaul zeichnet ein klares Bild vom Ausmaß der Bedrohung, denen Zugvögel weltweit ausgesetzt sind – aufgrund von Jagd, Pestiziden, Lebensraumverlusten und Klimawandel. Zugleich aber vermittelt er an vielen Stellen seines Buchs Botschaften der Hoffnung.

So können Sender, Geolokatoren und Co. auch beim Schutz von Zugvögeln helfen. Das illustriert Weidensaul unter anderem am Beispiel von Walddrosseln. Früher hatte man vermutet, dass diese Art ausschließlich auf zusammenhängende, dichte Wälder angewiesen sei. Doch Senderstudien ergaben, dass das allein zum Schutz dieser Art nicht ausreicht. Denn für die Jungdrosseln sind nach dem Flüggewerden noch andere Lebensräume lebenswichtig, nämlich dichtes Gebüsch und Gestrüpp an Feld- oder Waldrändern. Diese Habitate lassen sich mitschützen. Die Zeit vor dem Herbstzug entscheidet oft über das Überleben des Nachwuchses; für die Fitness der Elternvögel sind dagegen die Wochen im Frühjahr vor dem Abflug in die Brutgebiete kritisch. Beides erfährt inzwischen mehr Aufmerksamkeit von Forschenden. So lässt sich für immer mehr Vogelarten ein kompletteres Bild ihres Lebens auf Wanderschaft zeichnen.

Ein Singvogel mit schwarzem Gesicht, hellgrauer Kappe und orangeroter Brust sitzt auf einem Ast. Rechte: Anne Preger
Wie wirken sich die Bedingungen im Winterquartier auf die Brut im Sommerquartier aus? Dieser Frage geht Weidensaul in einem seiner Kapitel nach. Einer Studie zufolge führt ein feuchter Winter in der Sahelzone in Afrika bei Gartenrotschwänzen zu einem früheren Beginn der Nistsaison und größeren Gelegen in Großbritannien.

Vergiss Popup-Läden in Fußgängerzonen – Popup-Feuchtgebiete bringen‘s

Bürgerwissenschaftsprojekte wie eBird, bei denen man Vogel-Sichtungen per App an eine zentrale Datenbank meldet, helfen Naturschutzorganisationen, neue Wege zu gehen und mit begrenzten Mitteln Vögel auf dem Zug gezielt zu unterstützen. Weidensauls erhellendes Beispiel dafür ist das Central Valley in Kalifornien. Das Tal ist ein wichtiger Rastplatz für viele Zugvögel, doch von den ursprünglichen Feuchtgebieten existieren nur noch rund fünf Prozent. Dank der Massen an Vogelbeobachtungsdaten, die über die eBird App gemeldet werden, wissen Naturschutzorganisationen relativ genau, in welchen Wochen des Jahres Zugvögel sich im Central Valley aufhalten. Über finanzielle Anreize konnten sie etwa im Jahr 2014 Landwirte dazu bringen, nennenswerte Flächen von Reisfeldern in der Region zur richtigen Zeit mit der passenden Menge Wasser so zu flach zu fluten, dass Küstenvögel dort Nahrung suchen können. Diese zusätzlichen temporären Feuchtgebiete wurden von den Vögeln sofort angenommen.

Ein spannender Blick über den mitteleuropäischen Tellerrand

Außer ans Gelbe Meer und nach Kalifornien nimmt Weidensaul seine Leserinnen und Leser an diverse andere Orte außerhalb von Mitteleuropa mit – unter anderem nach Alaska, Kanada, Indien, in die Karibik und nach Zypern. So gewährt er viele Einblicke in das Phänomen Vogelzug jenseits des deutschsprachigen Raums: Dank übersichtlicher Grafiken im Buch vermitteln sich die Zugrouten der besprochenen Vogelarten direkt.

Viele der besprochenen Arten kommen in Mitteleuropa nicht vor, sind also in den hiesigen Vogelbestimmungsbüchern meist nicht zu finden. Zum Glück bietet der Bildteil im Buch unter anderem Fotos von Michigan- und Goldflügel-Waldsängern, von Rotrücken-Zimtelfen und Präriebussarden. Ansonsten findet man im Text erwähnte Arten auch schnell im Netz. Wer gerne das ornithologische Brettspiel Flügelschlag spielt, wird sich freuen, in Weidensauls Buch mehr über die ein oder andere nordamerikanische Art auf den Spielkarten zu erfahren.

Weidensauls Buch ruft in Erinnerung, dass auf der ganzen Welt rund um die Uhr Fachleute den Vogelzug erforschen und Strategien entwickeln, um bedrohte Arten besser zu schützen. Insofern liegt es vermutlich in der Natur der Sache, dass Scott Weidensaul seinen Kolleginnen und Kollegen auch namentlich die Ehre zukommen lassen will, die ihnen für ihre Arbeit gebührt. Damit weist sein Buch allerdings streckenweise eine Namensdichte und Zahl von handelnden Personen auf, die mit einer epischen Fernsehserie wie Game of Thrones durchaus mithalten kann. Meine Vermutung: Man genießt das Buch etwas mehr, wenn man sich davon frei macht, alle Namen behalten zu müssen.

Weltreise auf dem Sofa

Mein Fazit: Scott Weidensauls Buch ist überaus lesenswert für alle, die sich für die Geheimnisse des Vogelzugs interessieren. Als US-Amerikaner bietet der Vogelkundler gerade für Leserinnen und Leser in Mitteleuropa eine spannende Perspektive auf dieses weltweite Naturschauspiel, das uns als Menschen immer wieder zu überraschen vermag. Die passende Lektüre fürs Sofa nach einer herbstlichen Vogelexkursion, und mit Sicherheit auch ein gutes Geschenk für diejenigen Menschen in der Familie und im Freundeskreis, die eigentlich schon ganz viele Naturbücher im Regal stehen haben.

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