IPCC-Bericht: „Staaten können bei ihren Verhandlungen die Klimafakten nicht mehr in Frage stellen“

Der Synthesebericht hat am Sonntag den 6. Berichtszyklus des Weltklimarats abgeschlossen. Ein Blick hinter die Kulissen zeigt, wie der Bericht entsteht und warum er so wichtig ist, obwohl alle Teilberichte vorher schon bekannt waren.

vom Recherche-Kollektiv Klima & Wandel:
4 Minuten
Jubelnde Menschen an einem Podiumstisch

Bei der 58. Sitzung des Weltklimarats (IPCC) in der vergangenen Woche in Interlaken in der Schweiz debattierten mehr als 650 Personen aus 135 Staaten und 121 Organisationen mit Beobachterstatus die Summary for Policymakers des sogenannten Syntheseberichts, der den 6. Berichtszyklus des IPCC abschließt. Mit seiner Mahnung, dass die Menschheit nur noch bis Ende des Jahrzehnts Zeit bleibt, eine teils irreversible Klimakatastrophe abzuwenden, und konkreten Handlungsanleitungen, wie das noch gelingen kann, wenn die Politik denn endlich ins Handeln findet, ist der Bericht eines der wichtigsten Dokumente unserer Zeit. Aber stand nicht das meiste davon schon in den Teilberichten, die der Abschlussbericht nun zusammenführt? RiffReporter blickt hinter die Kulissen der Entstehung und sprach dazu auch mit einem der Kernautoren des Berichts, dem Sozialwissenschaftler Oliver Geden.

Im Synthesebericht steht nichts grundsätzlich Neues, das nicht schon aus den Berichten der drei Arbeitsgruppen bekannt war. Was also ist der Zweck der Veröffentlichung?

„Es stimmt, dass dort nichts grundsätzlich anderes steht. Aber durch das Zusammenführen der Wissensbestände der Arbeitsgruppen kann schon Neues entstehen, bisweilen mit langfristigem Einfluss“, erläutert Oliver Geden, Senior Fellow der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin und Mitglied des Kernautorenteams des Syntheseberichts. Als Beispiel nennt er das Konzept der Remaining Carbon Budgets, also des CO2-Restbudgets. Es stammt aus dem Synthesebericht des 5. Sachstandsberichts und gilt inzwischen als wichtiges Politikinstrument.

Welche Funktion hat der Abschlussbericht darüber hinaus?

„Außerdem ist der Synthesebericht einer der wichtigsten explizit genannten Inputs für die künftig alle fünf Jahre stattfindende ‚Globale Bestandsaufnahme‘ unter dem Pariser Klimaabkommen“, erläutert Geden. Damit überprüfen die Staaten, ob sie auf dem vereinbarten Kurs sind. Die erste Bestandsaufnahme soll beim 28. Weltklimagipfel in diesem Jahr in Dubai abgeschlossen sein.

Die Synthese ist also mehr als die Summe der Teilbericht-Synthesen?

Ja. Beispielsweise modelliert die Arbeitsgruppe 1 die Klimapfade, Arbeitsgruppe 3 die möglichen Emissionspfade. Beide Gruppen zeigen mit ihren unterschiedlichen Modellen, dass wir irgendwanndie 1,5-Grad-Grenze erreichen. Aber erst in der Synthese entstand daraus die Aussage, dass in fast allen Modellen und Emissionspfaden die 1,5-Grad-Grenze bis 2040 überschritten wird.

Glauben Sie, dass die Politik den Synthesebericht eher liest als die bereits vorliegenden Synthesen der Teilberichte des IPCC?

„Der Synthesebericht ist viel kürzer als alle bisherigen IPCC-Berichte, auch kürzer als die Syntheseberichte der Arbeitsgruppen zusammengenommen. Die Chance, dass das wahrgenommen wird, ist deshalb größer“, begründet Geden. „Je höher man in der Politik in der Hierarchie geht, desto weniger Zeit haben die Akteure, lange Abhandlungen zu lesen, zumal viele sehr spezialisiert arbeiten.“ Allerdings ist die Zusammenfassung zum Longer Report mit rund 50 Seiten detaillierter und wahrscheinlich lesbarer als die auf zehn Seiten verdichtete Summary for Policymakers.

Plenarsaal voller Menschen
Am Freitag, 17. März 2023, sollte das Plenum zum Synthesebericht des 6. Berichtszyklus des Weltklimarats enden, doch die Gespräche zogen sich noch zwei weitere Tage hin.

Wie entsteht die Summary for Policymakers?

Die Berichte der Arbeitsgruppen sind jeweils etwa 2.000 Seiten lang und zitieren rund 80.000 wissenschaftliche Artikel, also etwa eine Million Seiten. Daraus entsteht der Synthesebericht, der dann noch einmal auf zehn Seiten als Summary kondensiert wird. Dieser Zusammenfassung müssen 190 Staaten Zeile für Zeile zustimmen. „Es ist ein Missverständnis, dass die Summary ein Kommunikationsinstrument ist“, sagt Geden. „Die Summary ist ein diplomatisches Instrument, damit die Staaten bei ihren Verhandlungen die Klimafakten nicht mehr in Frage stellen.“ Weil der Wissensstand später nicht mehr diskutiert oder verhandelt wird, werde an den Formulierungen manchmal länger gefeilt. Trotzdem muss jede Aussage darin am Ende durch das, was in den Arbeitsgruppenberichten und den Sonderberichten steht, gedeckt sein.

Worüber wurde besonders intensiv debattiert?

Darüber dürfen die Beteiligten nicht öffentlich sprechen. Geden versichert zumindest: „Es läuft vieles parallel, aber bei den Themen, an denen ich direkt beteiligt war, ist nichts rausgeflogen oder abgeschwächt worden.“ Eine offizielle Dokumentation der Arbeitstage der finalen Plenumswoche findet sich imEarth Negotiations Bulletin der Vereinten Nationen.

Gibt es innerhalb der Klimaforschung denn noch großen Dissens bei einzelnen Themen?

„Dissens gibt es in der Wissenschaft immer“, sagt Geden, „in der Arbeitsgruppe 1 aber sicher kaum noch, trotz verbleibender Wissenslücken.“ Die Arbeitsgruppen 2 und 3 beschäftigen sich stärker mit menschlichem Handeln in Reaktion auf Klimafolgen und damit, was in der Zukunft funktionieren wird. Da sei es schwer, einen sehr weitgehenden Konsens über die Wirksamkeit von Einzelmaßnahmen zu erreichen. „Es gibt aber durchaus Zukunftsfragen, die untererforscht sind“, erläutert Geden. „Etwa ob es möglich sein wird, nach einem wahrscheinlichen Überschreiten der 1,5-Grad-Marke in den 2030er Jahren die Temperatur bis zum Ende des Jahrhunderts wieder unter diese Marke zu drücken – durch netto-negative CO2-Emissionen. Oder welche Folgen der großskalige Einsatz von CO2-Entnahme-Methoden hat und welche Impacts trotz des Zurückführens der Temperatur dennoch irreversibel wären.“

Im Prinzip sagt der 6. Sachstandsbericht: „Alles, was wir beim letzten Bericht vor 8,5 Jahren wussten, wissen wir jetzt noch genauer – nur die Zeit zu handeln ist knapper geworden. Aber wenn die Politik wollte, könnten wir das Ruder immer noch herumreißen.“ Wie erlebt man als beteiligter Wissenschaftler die politische Untätigkeit? Und was kann der Abschlussbericht jetzt leisten?

„Man sollte sich als beteiligter Wissenschaftler hüten, übertriebene Erwartungen zu hegen“, sagt Geden. Dennoch sei der Bericht wichtig, weil die Summaries in den UN-Klimaverhandlungen in der Regel nicht mehr in Frage gestellt werden. „Im konkreten Fall ist der Synthesebericht auch wichtig, weil die Aufmerksamkeit für die Berichte der Arbeitsgruppen 2 und 3 im Frühjahr 2022 stark unter dem Einmarsch Russlands in die Ukraine gelitten hat.“

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