„Wir verstehen die Klimakrise, aber wir fühlen sie nicht richtig“

Unser Gehirn nutzt Geschichten, um sich die Gegenwart zu erklären und mit der Zukunft zu experimentieren. Gute Geschichten darüber, wie sich die Klimakrise lösen lässt, gibt es jedoch kaum. Warum ist das so, Samira El Ouassil?

vom Recherche-Kollektiv Klima & Wandel:
16 Minuten
Porträtfoto von Samira El Ouassil: Frau mit dunklem langen Haar schaut lächelnd in die Kamera, im Hintergrund eine beige Steinmauer

Samira El Ouassil, wir denken ja gerne über uns selbst, dass wir vernunftbegabte Wesen sind. Sie erklären im Buch „Erzählende Affen“, das Sie zusammen mit dem Journalisten Friedemann Karig geschrieben haben, dass uns Narrative mehr überzeugen als vernünftige Argumente. Warum ist das so?

Friedemann und ich vertreten die These, dass wir Menschen zur Gattung Homo narrans zählen, also eher erzählende Affen als vernunftbegabte Wesen sind. Wir nutzen Geschichten, um Informationen besser zu verarbeiten. Sie bleiben dann in unserem Gehirn leichter haften und bewegen uns emotional mehr.

Wie schaffen Geschichten das?

Narrative Strukturen verwandeln Informationen in sinnliche Erfahrungen, die uns prägen. Abstrakte und schwer verständliche Inhalte „rutschen“ sozusagen durch unser neuronales Netz, weil sie sich nicht gut mit dem verbinden lassen, was wir durch unsere Sinne gelernt haben. Unser Gehirn entwickelt sich durch sinnliche Erlebnisse und speichert diese als Erinnerungen. Diese Erfahrungen und Erinnerungen dienen uns als Anker, die uns helfen, neue Informationen in das einzusortieren, was wir schon über die Welt wissen – oder zu wissen glauben. Narrative wirken dabei wie Schablonen, die mit Erfahrungen und Erinnerungen arbeiten. Sie helfen uns, unsere Wirklichkeit besser zu begreifen.

Ich verstehe das noch nicht ganz. Haben Sie mal ein Beispiel?

Am Anfang der Pandemie hat sich die Realität für uns in einer Weise verändert, die überhaupt nicht greifbar war. Unser Gehirn hatte es mit einem abstrakten Virus zu tun, das sich in Form von Inzidenzen und anderen schwer verständlichen Zahlen ausdrückte. Wir hatten keine Bezugspunkte oder Vergleichswerte dafür. Schließlich waren wir mit so etwas zum ersten Mal konfrontiert. Im Grunde war die Pandemie so, als ob uns jemand sagt: „Jetzt merk dir mal schnell 100 Zahlen, die keine weitere Bedeutung für dich haben. Es sind keine Jahreszahlen, mit denen du bestimmte Ereignisse verbindest oder Telefonnummern von Freunden.“ Das war aber viel zu unkonkret und deshalb haben sich viele Menschen davon total überwältigt gefühlt.

Die Ereignisse erschienen also unwirklich, weil sie keine zusammenhängende Geschichte ergaben, die wir mit bereits bekannten Geschichten vergleichen konnten?

Ja genau. Es gab viel Rationales, aber wenig sinnlich Erfahrbares. Es blieb alles sehr vage. Sowas verleitet dazu, sich in psychologische Taktiken zu flüchten, wie Verdrängung und Verleugnung. Dann wird man anfällig für Falschinformationen oder für zu einfache Lösungen, die nicht funktionieren können. Wir hatten in der Pandemie sozusagen eine Wahrnehmungslücke. Das gleiche gilt auch für die Klimakrise. Auch sie ist für uns narrativ nicht verfügbar. Das ist ein Problem, weil es uns am Handeln hindert.

Moment, wie hängen denn Geschichten mit dem Handeln zusammen?

In dem Moment, wo es für uns zu abstrakt wird, fehlt uns der Antrieb, etwas an einer Situation zu ändern, von der wir wissen, dass sie zu unserem Nachteil ist. Allein zu wissen, wie wir in einem bestimmten Moment richtig handeln, erzeugt noch keine Motivation es auch zu tun. Geschichten können dann den entscheidenden Impuls liefern.

Was genau braucht es, damit sich durch eine Geschichte mehr Motivation zum Handeln einstellt?

Wir brauchen emotionale Anknüpfungspunkte, die uns mit der Welt verbinden. Wenn diese Anknüpfungspunkte nur aus abstrakten Informationen bestehen, vor allem solchen, die sich auf die ferne Zukunft beziehen, wird es schwierig, unser Verhalten in der Gegenwart zu verändern.

Dabei hing unser Überleben schon immer davon ab, dass wir vorausplanen und strategisch handeln. Menschen mussten Vorräte für den Winter anlegen, damit sie nicht verhungern. Das mussten sie rechtzeitig tun, im Sommer, also zu einer Zeit, in der Essen im Überfluss vorhanden ist und man sich gar nicht vorstellen kann, dass sich das ändert. Bei dieser Aufgabe, also Vorbereiten auf den Winter, hilft uns unsere Erfahrung. Wir lernen schon als Kinder, was Winter bedeutet. Aber auch die Geschichten derjenigen, die im Winter schon mal Hunger gelitten haben, helfen uns. Und die Geschichten derjenigen, die sich genügend Vorräte angelegt hatten.

Geschichten ermöglichen es uns also, etwas zu lernen, ohne dass wir dafür direkt dabei sein müssen? Etwas selbst zu erleben, also wahrzunehmen oder zu erfahren, ist dann überflüssig? Verstehe ich das richtig?

Ja, Geschichten sind wie Schablonen. Mit ihnen können wir bestimmte Muster erkennen oder wiederkennen. Mustererkennung ermöglicht uns, etwas vorherzusehen. Sobald wir vorhersagen können, was bald passieren wird, können wir uns darauf vorbereiten. Wir können uns zum Beispiel besser gegen Negatives schützen oder strategisch dagegen vorgehen. Dabei kommt uns auch unser chronologisches Denken zugute. Es hilft uns, eine Zukunft vorauszudenken. Aber damit wir das tun können, müssen wir Ereignismuster erkennen, die auch zeitlich in einem wahrnehmbaren Zusammenhang stehen.

Geschichten sind wie Karten, mit denen wir uns in unbekannten Situationen orientieren können.

Samira El Ouassil

Gibt es deshalb so wenige gute Geschichten über Lösungen in der Klimakrise, weil noch nie etwas Vergleichbares in der Menschheitsgeschichte passiert ist? Das Klima hat sich schließlich noch nie so schnell erhitzt. Die Mustererkennung funktioniert nicht.

Die Klimakrise ist im Grunde ein Angriff auf uns in Zeitlupe. Sie erstreckt sich über einen ziemlich langen Zeitraum und hat unzählige Gesichter, das heißt, sie ist im Grunde nicht fixierbar. Wir verstehen zwar, dass etwas ziemlich Schlechtes in der Zukunft passieren wird, und dass wir jetzt handeln müssen, wenn wir das abwenden wollen. Aber wir sind nicht in der Lage uns vorzustellen, wie sehr eine Welt in Zukunft gelitten haben wird, wenn wir jetzt nichts tun. Also wir begreifen nicht, wie es konkret aussehen wird, wenn wir Maßnahmen nicht ergriffen haben werden.

Gibt es eigentlich in der Erzähltradition Narrative, die davon handeln, dass sich ganze Systeme verändern? Denn Lösungen in der Klimakrise haben ja sehr oft etwas damit zu tun, dass wir an Strukturen rangehen müssen, die sich über einen langen Zeitraum herausgebildet haben.

Der Soziologe Niklas Luhmann hat prominent beschrieben, dass soziale Systeme ihre eigenen Interessen verfolgen. Durch ihre innere Logik sind Systeme wie die Wirtschaft oder die Politik darauf ausgelegt, dass sie sich gewissermaßen vor allem um ihre eigenen Spielregeln kümmern, um sich selbst zu erhalten, und dabei bisweilen sehr träge auf ihre Umwelt reagieren. Anhand der Klimakrise können wir erkennen, welche Nachteile sich dadurch für die gesamte Menschheit ergeben, wenn wissenschaftliche Wahrheiten für den Machterhalt in der Politik keine Rolle spielen oder die Wirtschaft noch mit fossilen Rohstoffen Gewinne erzielen möchte.

Das sieht man zum Beispiel auch auf satirische Weise im Film „Don’t Look Up“ mit Leonardo DiCaprio und Jennifer Lawrence als Wissenschaftler:innen, die vor einem Kometen warnen. Politik, Medien, Wirtschaft – jedes System macht sein eigenes Ding und die Wissenschaftler:innen schaffen es nicht, sie zur Zusammenarbeit zu bringen. Der Komet rast auf die Erde zu und niemanden scheint es zu interessieren. Das ist ein starkes Bild für das, was wir gerade in der Klimakrise sehen.

Geschichten könnten uns eigentlich helfen, diese Wahrnehmungslücke zu schließen, aber sie funktionieren hier nicht. Denn viele Geschichten erzählen davon, wie sich Menschen an Herausforderungen anpassen können, aber nicht, wie sie diese Herausforderungen verhindern. Vor allem, wenn die Probleme durch ein System hervorgebracht werden, wird es schwierig. Revolutionen oder Systemänderungen sind schwer narrativierbar. Das läuft dann eigentlich immer über eine Heldin oder einen Helden

Wir verstehen zwar intellektuell, was die Klimakrise ist und wie Lösungen dafür aussehen müssten, aber wir fühlen es nicht.

Samira El Ouassil

Also brauchen wir Held:innen, die uns vor der Klimakatastrophe retten?

Bei Heldengeschichten gibt es eine andere Schwierigkeit. Eine Revolution funktioniert in einer Geschichte immer nur, indem wir die glorreichen Taten eines Revolutionärs miterleben, aber sie ist nie richtig erlebbar, wenn es um die ganze Gesellschaft geht.

Meistens wird der Diktator getötet und macht so Platz für einen neuen. Der Status quo bleibt aber bestehen. Wie zum Beispiel in der Geschichte „Die Tribute von Panem“, auch bekannt als „Hunger Games“. Um die Bevölkerung ruhig zu halten, müssen Jugendliche so lange gegeneinander kämpfen, bis nur noch einer übrig bleibt. In der Geschichte startet die Heldin Katniss Everdeen über drei Folgen hinweg eine Revolution und tötet am Ende die Nachfolgerin des Diktators. Die systematische Unterdrückung und Ausbeutung verändert sie dadurch jedoch nicht.

Ich glaube, dieses Problem fühlen wir ziemlich deutlich. Wir glauben doch alle nicht so richtig daran, dass uns ein Held oder eine Heldin aus dem Schlamassel retten kann, oder?

Dafür gibt es meiner Meinung nach zwei Gründe. Der eine ist, dass wir bei der Klimakrise kein Happy End erwarten können, in dem Sinne, dass sie am Ende nicht stattfinden wird. Das macht mich selbst ziemlich traurig, wenn ich das hier so ausspreche. Für Geschichten, die eigentlich die Kraft entwickeln sollen, Menschen ins Handeln zu bringen, ist es fatal, wenn das Happy End darin besteht, dass es nicht noch schlimmer wird. Aber das ist nun schlussendlich das, was erzählt werden muss, denn so sind ja die Aussichten.

Eine Geschichte, die davon handelt, dass etwas nicht ganz so schlimm wird, wie es ansonsten geworden wäre ist außerdem ziemlich unsexy, so rein dramaturgisch.

Samira El Ouassil

Der zweite Grund ist, dass wir eigentlich Held:innen brauchen, die ganz anders funktionieren, als die die wir schon kennen. Den grünen Superhelden-Verbraucher, der keine Plastiktüten benutzt, zu Fuß geht und vegetarisch lebt, gibt es schon seit den 1980er Jahren. Aber der sogenannte ökologische Fußabdruck ist ein Mythos. Er wird ja auch ganz aktiv am Leben gehalten von den Lobbyisten der Ölindustrie. Wir haben dieses Angebot dankbar angenommen, weil es kompatibel ist mit dem, was Helden normalerweise in Geschichten tun: Im Alleingang heroisch handeln. Denn es ist gar nicht so einfach, so ein Superhelden-Verbraucher zu sein in unserem Wirtschaftssystem. Das macht diesen Heldenmythos auch so attraktiv. Er gibt uns eine Form von Selbstwirksamkeit in Situationen zurück, in denen wir uns ohnmächtig fühlen.

Deshalb sind Geschichten von starken Helden so beliebt, oder? Weil wir uns selbst gerne stark und unabhängig fühlen.

Ja absolut. Aber es ist ja klar: Wir haben hier eine Jahrtausend-Herausforderung der gesamten Menschheit. Was sollen wir als Einzelne da jetzt konkret machen? Ein Held, der in dieser Geschichte das Ruder rumreißen will, hat nicht nur einen Bösewicht mit sehr erfolgreichen Narrativen vom Wohlstand durch billiges Öl und Gas gegen sich, er hat einen ganzen ökonomischen Apparat gegen sich.

Aber das ist noch nicht alles, oder? Denn ein Held, der aus unseren Reihen kommt, hat ja selbst jahrzehntelang gut gelebt, weil Gas und Öl so billig waren.

Ich denke hier haben wir es vielleicht mit einer ähnlichen Kränkung zu tun, wie sie von Sigmund Freud beschrieben wurden. Freud identifizierte drei große „Kränkungen der Menschheit“, die das menschliche Selbstverständnis erschütterten. Es gab eine kosmologische Kränkung, als wir entdeckten, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Universums ist. Es gab eine biologische Kränkung, als wir entdeckten, dass wir von Tieren abstammen. Und es gab eine psychologische Kränkung, als uns bewusst wurde, das wir von unserem Unbewussten mehr gesteuert werden als von unserem Willen.

Eine gegenwärtige Kränkung im Angesicht der Klimakrise ist, dass wir verstehen müssen, dass wir unser eigener Antagonist sind. Wir sehen uns als Held:innen unserer eigenen Geschichte und müssen nun feststellen, dass wir nicht nur gegen äußere Bösewichte kämpfen, sondern auch gegen uns selbst, wenn wir versuchen wollen, die Klimakrise zu bekämpfen.

Wir müssen verstehen, dass wir unser eigener Antagonist in dieser Geschichte sind.

Samira El Ouassil

Ist das wirklich eine so neue Kränkung? Schließlich wissen wir ja alle, dass es einen inneren Schweinehund gibt, der uns von gesundem Essen, genügend Sport und so weiter abhält oder uns dazu bringt lebensgefährliche Sachen zu machen, zum Beispiel mit dem Auto zu rasen.

Eine der vielleicht besten Eigenschaften unseres Gehirns ist seine Fähigkeit Unangenehmes zu verdrängen. Das ist ein guter Selbstschutz. Aber jetzt sehen wir ja peu a peu, was das anrichtet. Wenn wir unsere eigene Gesundheit sabotieren, hat das eine andere Qualität, als wenn man dazu beiträgt, dass woanders Überschwemmungen, Stürme und Dürren die Existenz von Pflanzen, Tieren und Menschen zerstören. Da taucht ein Gefühl auf, dass der Philosoph Günther Anders prometheische Scham nennt.

Was bedeutet es, so eine Scham zu empfinden?

Die prometheische Scham ist eine Scham darüber, dass man von der eigenen Technologie negativ übervorteilt wurde. Günther Anders hatte den Begriff angesichts eines drohenden Atomkriegs nach der Erfindung der Atomwaffen geprägt. Dahinter steckt auch ein Gefühl der Ungläubigkeit: Kann es wirklich sein, dass eine Technologie schlauer oder gefährlicher ist als wir Menschen, die diese Technologie doch erfunden haben? Und damit ist auch ein Gefühl der Panik verbunden: Ich will nicht akzeptieren, dass wir selbst schuld sind an unserem eigenen Untergang aufgrund unserer Lebensweise! Diese Scham ist ein ganz düsteres Gefühl. Total verständlich, dass der erste Reflex ist, am liebsten so zu tun, als hätte das alles nichts mit uns zu tun.

Ich stelle mir vor, dass Geschichten, in denen so schwierige Gefühle wie Scham, Panik oder Wut verhandelt werden, nicht unbedingt die erfolgreichsten sind.

Diese Gefühle werden ja vor allem durch rationales Nachdenken über die Klimakrise und ihre katastrophalen Konsequenzen ausgelöst. Dann sind wir noch anfälliger und noch dankbarer für jedwede Form von Obstruktionserzählungen. Das sind diese Erzählungen, die uns von politischer und von lobbyistischer Seite angeboten werden, um uns möglichst nicht mit dem Problem Klimakrise auseinandersetzen zu müssen. Also: Es wird alles nicht so schlimm! Oder: Die Technologie wird das schon lösen! Oder: Die anderen sind doch viel schlimmer, siehe China! Oder: So heiße Sommer hat es schon immer gegeben.

Nimmt uns die Klimakrise also auch noch unsere Möglichkeit zur Selbstwirksamkeit, weil sie das Geschichtenerzählen darüber so schwer macht?

Wir haben im Grunde zwei Krisen: die Klimakrise und die Krise, den Schmerz darüber nachvollziehen zu müssen, dass wir bis dato falsch gelebt haben. Ich glaube, beide Krisen sind nur sehr schwer mit Erzählungen aufzufangen. Und dennoch brauchen wir sie, vor allem Hoffnungserzählungen und Mobilisierungserzählungen, damit wir nicht in eine Apathie verfallen. Wir brauchen Erzählungen des Gelingens, von Menschen, die sich aufraffen und trotz Widerständen an etwas festhalten. Menschen, die sich dabei Verbündete suchen. Und wir brauchen Menschen, die sich trauen, solche optimistischen Geschichten zu erzählen. Der Regisseur Lars Jessen hat das zum Beispiel jüngst mit seinem Film „Micha denkt groß“ gezeigt. In diesem müssen die Bewohner:innen eines kleinen Dorfs im Osten letztlich versuchen, ihre eigenen Ideologien zu überwinden, um gemeinsam das Problem der Wasserknappheit zu lösen.

Geschichten können eine gedankliche, geistige, intellektuelle und emotionale Stütze sein für den Schmerz, den die Auseinandersetzung mit dem Ungeschönten erzeugen kann und erzeugen wird.

Samira El Ouassil

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