Gefühle versus Gewissheiten in der Pandemie: Fürchtet euch – nicht

Corona-Berichte zwischen Panik und verfrühter Hoffnung

vom Recherche-Kollektiv Corona:
7 Minuten
Ein junger Mann sitzt mit Angst im Gesicht während der Covid-19 Pandemie auf einem Sofa und liest Nachrichten auf seinem Smartphone.

RiffReporter arbeitet beim Thema Corona mit Übermedien zusammen, dem unabhängigen Magazin für Medienkritik. Wir veröffentlichen gemeinsam Artikel, die sich mit der Berichterstattung über Pandemie und Covid-19 beschäftigen.

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November-Blues, dunkle Tage – und dazu die Meldungen über steigende Infektionszahlen, den möglichen Mangel an Intensivbetten und mehr Todesfälle. Brechen wir die Welle? Was, wenn nicht? Die Schulen dicht? Und dann?

Die Lage ist angespannt. Auch in vielen Medien. Eine gewisse Atemlosigkeit ist zu spüren. Einige Meldungen tendieren in Richtung Panik, andere stürzen sich euphorisch auf „Stopps“, „Trendwenden“ und vor allem „den Impfstoff“.

Auf und nieder, immer wieder

„Corona-Albtraum ‚Triage‘ – was würde das Horror-Szenario bedeuten?“, titelt „ruhr24.de“, das zur Ippen-Gruppe gehört. „Deutsche Kliniken vor Corona-Kollaps – warum uns eine Triage droht“, schreibt die „Neue Osnabrücker Zeitung“, und „Euronews“ sorgt sich: „Covid-19-Triage – wer wird aussortiert?“.

Triage, Horror, Kollaps – und mitten hinein fragt „Focus online“ am 11. November: „Gute Nachrichten? Zahl der Covid-19-Intensivpatienten wächst langsamer.“ Äh … was?

Wer über Schlagzeile und Teaser hinausliest, erfährt hier immerhin die Meinungen von Experten, die noch keine Entwarnung geben: Es könne verschiedene Gründe dafür geben, warum sich die Intensivstationen gerade etwas langsamer füllen. Es sei viel zu früh, daraus schon jetzt den Schluss zu ziehen, die neuen Kontaktbeschränkungen, die seit Anfang November gelten, würden sich bereits auswirken.

Dass sie es tun, wünscht sich sicher jeder. Und auch „Zeit online“ klingt hoffnungsfroh und nimmt am 10. November das ersehnte „gestoppt“ in den Text:

„Zahl der Neuinfektionen steigt im Vergleich zur Vorwoche kaum – Die Gesundheitsämter melden etwa 16.000 neue Covid-19-Fälle. Im Vergleich zum Montag der vergangenen Woche ist das Wachstum beinahe gestoppt.“

Aber eben nur „beinahe“.

Am Donnerstag derselben Woche, dem 12. November, liegt Deutschland wieder bei 21.866 Neuinfektionen. Das sind knapp 2.000 mehr als am Donnerstag zuvor. Lothar Wieler, der Chef des Robert-Koch-Instituts (RKI), gibt sich an diesem Tag dennoch vorsichtig optimistisch: Die Lage sei weiter sehr ernst, der Anstieg der Neuinfektionen zwar nicht mehr so schnell, es gebe Hoffnung, aber noch keine Trendwende. Ob die Maßnahmen des „Lockdown light“ etwas bringen, werde sich frühestens ab Mitte November zeigen.

Wie verpackt man Wissenschaft in Titel und Teaser?

Durch die Pandemie werden Medien mit Wissenschafts- und Medizinthemen geflutet wie kaum jemals zuvor. Einerseits ist das gut, andererseits stecken Redakteurinnen und Redakteure in einem Dilemma: Schlagzeilen und kurze Teaser sollen die Leserinnen und Leser in den Text ziehen. Doch nicht selten sind sie es, die in den Köpfen hängen bleiben, zumal manche dann gar nicht den Artikel lesen. Schwierig. Denn verständlich über den Statistik-Wust zur Ausbreitung von Sars-CoV-2 oder über die Wirksamkeit von Medikamenten zu berichten, fällt schon schwer, wenn man in einem Artikel 6.000 Zeichen hat. Noch viel schwieriger ist es, wissenschaftliche Erkenntnisse korrekt in Überschriften oder Text-Happen zusammenzufassen.

Die Flut von Nachrichten kann mit der Zeit zu einer Art Corona-Müdigkeit führen. Für Leserinnen und Leser wird es immer schwieriger, zu filtern: Was ist wichtig? Was zählt das, was ich gerade mitbekommen habe, wenn kurz darauf beim Scrollen eine gegenteilige Schlagzeile vorbeifliegt? Und hat die Nachricht überhaupt eine Halbwertszeit bis zum nächsten Morgen?

Beispiel: die Nerze. „Dänemark könnte ein neues Wuhan werden“, schreibt das „Handelsblatt“ am 12. November. „In Dänemark springt Corona zwischen Menschen und Nerzen hin und her“, meldet der MDR. Corona-Viren, die zwischen Mensch und Tier hin- und herspringen? Bei solchen Zeilen kann einem schon ein kalter Schauer über den Rücken laufen.

Doch bald darauf die Entwarnung: Die taz zitiert den Virologen Christian Drosten, der vermutet, dass sich das von den Nerzen auf den Menschen zurückgesprungene Virus womöglich schlechter vermehre. Damit würde sich die neue Virusvariante quasi totlaufen. „Keine Gefahr durch Mutationen – Virologen: das mutierte Coronavirus bei Nerzen stellt wohl keine Gefahr für die Impfstoffentwicklung dar“, schreibt die Zeitung.

Hoffnungsbotschaft: Der Impfstoff ist da!

Womit wir bei den Meldungen zu den Impfstoffen angekommen sind: Die Freude über die positiven Testergebnisse der Impfstudien mit dem neuen RNA-Impfstoff gegen das Coronavirus ist absolut verständlich. Bedienen die Schlagzeilen doch die Hoffnung, dass die Pandemie endlich bald vorüber ist.

Irritierend war allerdings, wie diese ersten zaghaften Ergebnisse einer Impfstudie der Mainzer Firma Biontech und des amerikanischen Partners Pfizer umjubelt und gefeiert wurden. Als hätte Deutschland die Fußballweltmeisterschaft gewonnen und ein Stürmer mit Migrationshintergrund den Siegtreffer erzielt.

Immer wieder war zu lesen oder zu hören, der Impfstoff habe eine 90-prozentige (später sogar eine 95-prozentige) Wirksamkeit. Das ist in der Tat sehr vielversprechend, bei einer Grippeimpfung beispielsweise geht man (zumindest für ältere Geimpfte) lediglich von einer Wirksamkeit von 50 Prozent aus.

Unklarheiten werden ausgeblendet

Aber: Es handelt sich bei den am 9. und 18. November veröffentlichten Daten um Zwischenergebnisse. Wir wissen noch nicht, ob alle Altersgruppen gleich gut von der Impfung profitieren. Wir wissen noch nicht, wie lange der Impfschutz anhält. Wir wissen noch nicht, welche Nebenwirkungen es im Einzelnen gab und welche Langzeit-Nebenwirkungen auftreten können – und es lässt sich zu diesem Zeitpunkt eben auch noch nicht sagen, ob die Impfung nur symptomatische Erkrankungen verhindert oder tatsächlich vor einer Infektion schützt.

Rachel Silverman vom Center for Global Development macht darauf aufmerksam, dass der Biontech/Pfizer-Impfstoff für die reichen Länder zwar eventuell ein „game-changer“ werden könnte. Die USA haben sich bereits 600 Millionen Dosen, Europa 300 Millionen Dosen und Japan 120 Millionen Dosen gesichert. Für Länder mit mittlerem oder niedrigem Einkommen sieht Silverman aber Schwierigkeiten, überhaupt zeitnah etwas vom Impfstoff abzubekommen. Ein anderes Problem sei, die empfindliche Vakzine, die bei minus 70 Grad Celsius aufbewahrt werden müsse, vor Ort wirksam verabreichen zu können.

Der zweite vor dem ersten Schritt

Einige Schlagzeilen und Artikel in den Tagen nach der Erfolgsmeldung von Biontech/Pfizer scheinen die Schwierigkeiten und Fragen komplett auszublenden. Stattdessen wird über die erfolgreich ausgehandelten Verträge und Lieferabschlüsse dieses „zu 90% wirksamen Impfstoffes“ berichtet. „Coronavirus – EU-Vertrag über Impfstoff ausgehandelt“, „EU-Kommission: Vertrag über Biontech-Impfstoff fertig“. „Die Zeit“ schreibt in ihrem Newsletter gar:

„Könnte es sein, dass dieses vermaledeite Jahr 2020 gerade noch die Kurve kriegt? Die EU-Kommission hat einen Vertrag zur Lieferung des Impfstoffs zu Ende verhandelt, wie heute bekannt wurde. Alle 27 Länder bekommen zeitgleich Zugriff auf 200 Millionen Impfdosen BNT162b2 – mit Option auf 100 Millionen weitere. 150 Millionen Europäer könnten damit ab Frühjahr geimpft werden. Mit dieser Aussicht lässt es sich doch gleich besser durch den Winter bibbern.“

Nun aber langsam! Ja, es ist wichtig, wie der oder die Impfstoff(e) (zum Glück wird ja an mehreren geforscht) verteilt werden. Es muss Menschen geben, die sich darüber rechtzeitig Gedanken machen. Aber viel, viel wichtiger ist es, dass der Impfstoff, den wir da bekommen, von geeigneter Qualität und sicher ist. Dafür gibt es leider erst nur Hinweise. Es sind vielversprechende Hinweise, keine Frage – auch der US-amerikanische Pharmahersteller Moderna vermeldete zuletzt als Zwischenergebnis eine 94,5-prozentige Impfeffektivität seines mRNA-Impfstoffes. (Sogleich scheint der Höhenflug von Biontech beendet. „Der Aktionär“ stichelt: „Moderna hat ins Schwarze getroffen – kann Biontech hier noch mithalten?“)

Alle diese Hinweise auf eine hohe Wirksamkeit der RNA-Impfstoffe kommen zurzeit von den Herstellern der Ware und nicht von einer unabhängigen Expertenkommission. Eine Fokussierung allein auf Fragen der Lieferung, Verteilung, Impfstrategie ist Verdrängung. Wer im Zusammenhang mit dem Impfstoff nur noch über diese Themen berichtet, macht den zweiten vor dem ersten Schritt. Was ja irgendwie auch verständlich ist, nach monatelangen Einschränkungen, Verzweiflung der Gastronomen, Sorgen um die Lieben – und vielen Erkrankten und Toten. Wir brauchen diesen Hoffnungsfunken, aber zurzeit ist es eben nur ein Funke, mehr nicht.

Die Zulassung von „womöglich“ und „eventuell“

Ja, wir befinden uns in einer schwierigen Situation. In einer Situation, die Geduld erfordert und in der sich teilweise auch Ratlosigkeit ausbreitet. Jetzt gilt es auszuhalten, dass es Ungewissheiten gibt, selbst und gerade in der Wissenschaft. Die „Möglicherweises“, „Eventuells“ und „Womöglichs“ dieser Tage mögen nicht knackig genug für Schlagzeilen sein. Für ehrliche, gute Informationen jenseits der Sensation sind sie jedoch unverzichtbar – sonst droht ein Vertrauensverlust bei Leserinnen, Hörern und Zuschauerinnen.

Eine Möglichkeit wäre, den Mut zu haben, auf dramatisierende „Reizworte“ zu verzichten, die das Auf und Ab von Hoffnung und Erschrecken nur noch verstärken. Und: auf längere Überschriften setzen! Die „Frankfurter Rundschau schrieb neulich: „Schützt Rauchen vor Corona? Regensburger Forscher wollen neuen Zusammenhang gefunden haben“. Sie hätte auch schreiben können: „Rauchen schützt vor Corona!“ – hat sie aber nicht. Keine angebliche Sensation, sondern eine Frage und kurze Einordnung. Platz für Zweifel. Sowas muss man dann auch nicht später mit einer gegenteiligen Schlagzeile einfangen.

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