Dunkelfieber

verrückt, glücksbringend, ansteckend: Radtraining bei Nacht.

7 Minuten
Straßenszene mit Frau und Mann auf Rennrädern.

Stets zur kalten Jahreszeit bricht in Münster ein seltsames Leiden aus. Das Paradoxe: Der Infekt macht fit, auch wenn die Leidenden mit Minustemperaturen kämpfen.

Trainingsgruppe in Münster, die sich im Winter abends trifft und im Dunkeln trainiert.
Organisator ist Matthias Schöpfer-Droop (Münsterland Trikot, weißer Helm, Brille).
Letzte Lagebesprechung, Mittwoch 18 Uhr 30.
Trainingsgruppe in Münster, vor dem Start.
Der RadelndeReporter (rote Jacke) klärt die Dunkelfahrer über sein Recherche-Vorhaben auf – und bittet nebenbei um Rücksicht auf den Trainingsrückstand; später werden ihn die Erfahrenen der Truppe bisweilen in Rückenwind-Schlepptau nehmen müssen.
Gruppe von Rennradfahrern in der Nacht, stehend.
„Dunkel-Organisator“ Matthias Schöpfer (links) klärt Neulinge vor dem Start über die wichtigsten Verhaltensregeln auf.

Auwei, ich bin krank; infiziert. Matthias hat mich angesteckt, dabei fühlte ich mich immun gegen so eine Art von Virus. Nun attestiere ich mir selbst: Morbus Dunkelfahrt.

Krankheitsschübe manifestieren sich im Wochenrhythmus. Leitsymptome des Morbus ist das Verlangen zu winterlichen Treffen im Dunkeln, um im Radpulk durch die Nacht zu rauschen.

Viren sind ja unberechenbar. Matthias Schöpfer befiel er vor neun Jahren: Nach dem Race Across Germany war der heute 57-Jährige besessen von der Idee, Höchstleitungen auf der Langstrecke zu bringen. Und dafür den Winter hindurch fünfmal wöchentlich zu trainieren. So mutierte in Matthias der Langstrecken- zum Dunkel-Virus.

Jeden Mittwoch – bei Wind und Wetter

Seit 2010 ebenso infiziert und so gut wie immer dabei: Torsten (Jahrgang 1958), Axel (1957), Dirk (1970), Stefan (1986). Matthias schart sie von November bis März um sich. Jeden Mittwoch, bei Wind und Wetter. Notfalls mit dem MTB. „Wir hatten auch schon einmal minus elf Grad“, berichtet Stefan, grinsend und nicht ohne Stolz, dem zum Mitmachen angereisten Reporter.

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Gemessen daran stellt der Saisonstart im November das andere Extrem dar: Am Nachmittag herrschen in Münster 14 Grad – im Schatten, den die milde Sonne tatsächlich wirft. „Das fühlt sich zwar angenehm an“, unkt das FAZ-Biowetter an jenem Mittwoch, „stellt den Körper aber vor Belastungsproben.“ Kältegeile Dunkelfahrer dürfen sich also nicht zu warm anziehen: Für Abends sind frühlingshafte 10 bis 12 Grad vorhergesagt.

Start stets 18 Uhr 35

Das wirft selbst den gewieften Matthias aus der Bahn; schnell legt er wärmende Utensilien ab, bevor es los geht. Um 18 Uhr 35 halt am Treffpunkt im Industriegebiet das Klicken von 42 Pedalen an den Fabrikwänden wider. Zwanzig Männer und zwei Frauen brausen aus der Stadt, dem nördlichen Nachthimmel entgegen.

Kaum ist die letzte Straßenbeleuchtung passiert, lechzt das Auge nach Lichtpunkten. Oben erspäht es Kleinen Bär und Polarstern. Unten verfängt es sich im Rücklicht-Rot, Scheinwerfer-Weiß und im bunten Glitter der Radreflektoren der rasenden Truppe. Dreißig Stundenkilometer im Schnitt auf den ersten 15 Kilometern: die Nacht wirkt nicht als Tempobremse.

Standard sind 82 Kilometer – ausprobieren erwünscht

Offen ist der Dunkeltreff für Alle. Heute hat sich der Radpulk gut durchmischt auf die 82-Kilometer-Strecke begeben; die Altersspanne reicht von 28 bis 59 Jahren. Da fährt der Bauzeichner neben dem Zahnarzt, auch der Weltmeister im Rückwärtslauf kurbelt mit und einige gestandene Triathleten. Keiner kann anderntags ausspannen, für Stefan zum Beispiel beginnt der Arbeitstag schon um 7 Uhr 30.

Frontalaufnahme von drei Radfahrern auf der Straße.
Mit 40 Sachen durch die Nacht: Die „Dunkelfahrer“ nördlich von Münster unterwegs.
Drei Radfahrer in frontaler Ansicht.
Die üblichen Verdächtigen im Führungstrio – Mats in der Mitte.
Spitze einer Zweiherreihe von Radlern.
Die meisten verzichten beim „Dunkelfahren“ auf eine Brille – der RadelndeReporter war froh, dass die Fernbrille den kalten Wind abschirmte.

Bis hinter Westbevern, Kilometer 20, kühlt sich die Luft nach und nach auf acht Grad Celsius ab. Mit jedem Kilometer schwindet die Mannigfaltigkeit der Sichteindrücke mehr, was andere Sinne schärft: Wechselt die Luftfeuchte von Senke=feucht auf Ortsnähe=trocken, spannt sich die Gesichtshaut wohlig. Zunehmend drückt Kühle durch die Trikotmaschen, der Spitzentrupp zieht das Tempo an. Knapp zehn Minuten lang braust die Entourage mit 40 bis 45 Stundenkilometern dahin. Schon in Brock, Kilometer 26, pendelt sich der Gesamtschnitt auf 31 Sachen ein.

Dreißiger-Schnitt: flott unterwegs!

Das Hören und Sehen vergeht dennoch Niemandem. Anstrengung plus Dunkelheit gleich verwandelte Sinneswahrnehmung: So könnte die Gleichung lauten.

Das Auge lechzt nach Fassbarem außerhalb des lichterbunten Trupps, der da durch die Nacht schnurrt: In Brock bannen erleuchtete Kirchenfenster den Blick.

Lektüre-Empfehlung zum Thema Abenteuer/Sportphilosophie:

Vorher gings an einem alten Flakturm vorbei. Einst sicherte er strategisch wichtigen Schiffsverkehr. Heute ist der Flakturm als Wohnidylle mit Rundumfenstern aufgemotzt, hinter denen das Licht in wechselnden Farben flimmert. Es scheint die kriegerische Vergangenheit seines Unterbaus zu verspotten. Krieg und Frieden: Relikte liegen auf der Trainingsroute eng beieinander. In Ladbergen queren wir eine Radstrecke, die an den Westfälischen Frieden erinnern soll.

Die Landschaft? Muss zwangsläufig im Dunkeln bleiben. Schwarzerlen, Wasser-Schwaden – was hinter Saerse in der Emsaue hinter den Alleebäumen wohnt, liest man später erst bei Wiki nach.

Straßenstark, weil Peloton

Fahrtechnisch ist das kleine Alleesträßchen lässig: Die Zweierreihe der Fahrer füllt seine Breite gänzlich aus. Das Sträßchen schlängelt sich in sanftem Auf und Ab zurück gen Süden. Zweimal lässt sich aus verstörten Gesichtern in entgegenkommenden Pkw Verstörung herauslesen: Welch überirdisches Glittermonster kommt da herangeprescht? Diese Frage lässt sich aus der Miene des Autofahrers lesen, der, entgegenkommend, lieber von der Straße auf den Grünstreifen flüchtet.

Trainingsgruppe vor dem Eingang zum Flughafen Münster
Nahe des nördlichen Wendepunktes der Traningsroute sorgt das Terminalgebäude für ungewöhnlich viel Licht auf der nächtlichen Straße.
Trainingsgruppe der Dunkelfahrer, von hinten gesehen.
Als gut sichtbarer Tross unterwegs: im Zweifelsfall mit einer Radbeleuchtung mehr als im normalen Stadtverkehr.
Abschluss des Trainingstreffs in Münster
Schön war's!
Straßenszene mit Frau und Mann auf Rennrädern.
Unterwegs mit geschärften Sinnen und höchster Konzentration.

Im leichten Gegenwind von Münster her hetzt der Trupp welkes Laub zu raschelnden Wirbeln auf. Willkommene Abwechslung fürs sich langweilende Gehör, das mit dem Rauschen des Fahrtwinds unterfordert ist. Plötzlich Tröööt, Autohupe! Unglaublich aber wahr: Erst gegen Ende der Tour erklingt einmal dieser kraftfahrende Einschüchterungsversuch.

„Klink-Klink-Klink.“ Bei Kilometer 79 schellt die schrille Warnglocke. Hundert Meter vor der Spitzengruppe senkt sich eine Bahnschranke, metallisch hallt das Rauschen der Waggonräder durch die Nacht.

Endspurt Tempo 50

Danach wollen es die Dunkelrecken nochmal wissen, treiben sich gegenseitig zur Tempospitze von 51 km/h. Hitzig sind die Köpfe innen und außen: So nah an Münster steigt die Lufttemperatur wieder auf zwölf Grad.

„Aa“ verkündet das Schild, das bei Ortseinfahrt und Kilometer 82 den Stadtbach ankündigt. Es steht nach zweidreiviertel Stunden um zehn vor halb zehn sinnbildlich für Erleichterung und Zufriedenheit: alle gut drauf, keinen verloren, niemand gestürzt. Na dann…. – bis nächsten Mittwoch!

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Postskriptum

Nun, in welchem Ausmaß progredierte denn der Morbus Dunkelfahrt?

Im Falle des Reporter ähnlich wie bei Malaria: Richtig los wird man den Erreger nicht mehr. Deswegen durchziehen auch das Lübecker Umland winters bisweilen trotzige Leuchtkegel die Dunkelheit.

PPS: Eine erste Version dieser Reportage erschien 2016 im Magazin TOUR.

Am Dunkeltreffpunkt in Münster: Organisator Matthias Schöpfer-Droop, RadelnderReporter Martin Roos & Profifotograf Philipp Hympendahl.
Am Dunkeltreffpunkt in Münster: Organisator Matthias Schöpfer, RadelnderReporter Martin Roos & Profifotograf Philipp Hympendahl.

Praktische Information „Dunkeltreff“ Münster

Dunkeltreff ist ab November jeden Mittwoch Abend am nördlichen Stadtrand von Münster, an der Bushaltestelle Wiendorf / Hengst Filter. Gestartet wird 18:35, Zitat Mats „genau nach Passieren des Busses“.

Die Teilnahme erfolgt auf eigene Gefahren – die sich winters unter den schmalen Rennradreifen natürlich schnell potenzieren. Aber die Sturzstatistik spricht für die Umsichtigkeit und Erfahrung der Dunkelathleten; nur vier Stürze in neun Jahren. Teilnehmerrekord war bislang im Jahr 2017, mit 35 Rennradler*innen im Tross.

Kommuniziert wird der Dunkeltreff u.a. über www.facebook.com/groups/413250088772202/. Die Standardroute ist einsehbar auf komoot.de/tour/105923421.

Danksagung

Der RadelndeReporter dankt Mats sowie Stefan Brechler & Torsten Neuber für exzellente Betreuung und Hilfen beim Aufschließen, immer wenn der Reporter nach kompliziertem Einhand-Manövern (Gesprächsmitschnitte) den Anschluss verlor. Danke auch an Jens Freckmann für die Temperatur- und an Nils Böckenholt für die GPS-Aufzeichnung.

Der Autor vor einem Rennradler-Monument
„Schlechtes Wetter gibt es nicht“ – hier bin ich am Ziel meiner Deutschland-Testfahrt im spanischen Guadalajara: riffreporter.de/de/gesellschaft/spaniens-osten-hinterland-post-corona-reiseziel
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