Die schönste Art sich zu bewegen: Warum gemeinsam tanzen mehr ist, als miteinander zu reden

Kaum eine Art der Bewegung kann so viel Positives bewirken: Freude und Flow. Tuchfühlung und Nähe. Nebenbei werden zugleich Herz und Kreislauf in Schwung gehalten, Koordination und Körperwahrnehmung geschult.

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Es ist ein junger Mann in Seitenansicht in entspannter Tanzpose zu sehen.

Wer glaubt, Tanz sei Fitness, der hat noch nicht richtig getanzt. „In einer Tanzstunde kannst du dein Leben verändern“, wusste schon der renommierte britische Choreograf und Tänzer Royston Maldoom. Und im Orient heißt es frohlockend und warnend zugleich, Tanz wirke wie Champagner. Die moderne Forschung würde hinzufügen: Und er schützt mehr als jede andere Freizeitbeschäftigung nachweislich vor Demenz.

Der Grund ist: Tanz ist beileibe nicht nur Sport. Flinke Schritte auf dem Parkett sind längst nicht nur Beschleunigung des Herzschlags und Work-out. Tanz ist eine besondere Form der Begegnung zwischen den Menschen: Sie bewegen sich synchron und aufeinander abgestimmt. Tanz überträgt sich durch Imitation in der Gruppe. Tanz ist damit eine soziale Praktik und auch körperlich-emotionale Harmonie über politische Standpunkte hinweg. Je nach Tanzstil, etwa im Paartanz oder bei der Contact Improvisation, kommen sich Menschen außerdem auch körperlich ganz nah.

Tanzen verbindet die Menschen hormonell

All das hat Folgen schönster Art, jedenfalls, wenn sich die Tanzenden nicht grob unsympathisch sind. „Beim gemeinsamen und synchronen Gestikulieren werden neurokognitive Prozesse ausgelöst, die uns ein Zugehörigkeitsgefühl geben“, sagt Julia Christensen, Neurowissenschaftlerin am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik in Frankfurt. Sie selbst wurde in klassischem Ballett ausgebildet und tanzt heutzutage leidenschaftlich gerne Tango Argentino.

In ihrem Buch „Tanz ist die beste Medizin“ führt Christensen aus: Atmung und Herzschlag miteinander tanzender Personen gleichen sich an. Nicht nur der Rhythmus der Musik bringt die Tanzenden zueinander, auch ihre inneren leiblichen Rhythmen harmonisieren sich. Deshalb fühlen sich Menschen, so fremd sie einander sein mögen, verbunden, wenn sie zusammen tanzen. Das ist weder Esoterik noch Einbildung, sondern für Forschende wie Christensen über die Hormonspiegel messbar: Bindungshormone wie Prolaktin und Oxytozin werden freigesetzt. Sie sorgen auch für ein Gefühl der Entspannung und des Glücks im und nach dem Tanz. Mehr noch als in komplizierten westlichen Tanzpraktiken kommt der einende Charakter eines gemeinsamen Tanzes in traditionellen und einfachen Tänzen zum Tragen. Wer einmal dutzende Menschen jeden Alters in Tibet gemeinsam und auf der Straße zur Musik tanzen gesehen hat, bekommt eine Ahnung davon: Sie wirken beglückt und voll Gefühl in jeder Bewegung. Sie scheinen über ihre Bewegungen miteinander zu sprechen.

Eine alte Sprache der Menschheit und der Singvögel

Tatsächlich ist Tanz eine universelle Sprache des Menschen, wie Neurowissenschaftlerinnen wie Christensen mittlerweile wissen: Jene Regionen im Gehirn, die uns rhythmische Bewegung ermöglichen, sind dieselben, die unseren Sprechapparat und Kehlkopf steuern. Die Fähigkeit zur Musik zu tanzen und miteinander zu sprechen, haben eine gemeinsame neurologische Basis.

Unter allen Tieren können nur die Singvögel tanzen, also zum Beispiel Amsel, Drossel, Fink und Star. Unsere nächsten Verwandten, die Menschenaffen zeigen allenfalls ein rhythmisches Schwanken. Für mehr Groove fehlt ihnen das Taktgefühl. Was die Singvögel im Balztanz ritualisiert haben, ist beim Menschen eine der ältesten Formen der non-verbalen Kommunikation: Tausende Varianten an Solo-, Paar- und Gruppentänzen haben sich in verschiedenen Kulturen herausgebildet.

Der Körper als Gefäß der Gefühle

Und noch etwas ist dem Tanz eigen. Er ist Ausdruck der Gefühle. „Sonst werden Gefühle im Sport unterdrückt. Selbst im Yoga werden sie letztlich reguliert. Oder sie werden genutzt, um etwa den Gegner im Mannschaftssport zu besiegen“, erklärt Christensen. „Im Tanz aber sind sie willkommene Quelle der Kreativität und des Ausdrucks. Melancholisch von der Musik berührt, bekommen die Bewegungen einen subtil anderen Charakter, der den Betrachter auch emotional erfasst. Ob jemand schwermütig tanzt oder heiter, macht einen Unterschied, den auch Laien wahrnehmen. Es ist dieser emotionale Ausdruck von Tanz, der besonders magisch wirkt. 90 unbedarften Betrachtern gefielen jene Videoclips, die Christensens Team ihnen präsentierte, besonders gut, in denen Tanzende bewusst ihre Gefühle ausdrückten. Dabei war ihnen nicht klar, dass sie in erster Linie auf den emotionalen Gehalt und nicht auf die Ästhetik der Bewegungen reagierten.

Zugleich wirkt Tanz immer auch auf die Gemütslage der Tanzenden. Er kann erheben – bis zur Euphorie, ja, sogar bis zu Ekstase, wie die Trancetänze verschiedener Kulturen verdeutlichen. Für die Forschenden sieht es sogar ganz danach aus, als würde Tanz, gleichgültig welcher Art, immer die Stimmung heben. Christensen ließ 66 Probandinnen und Probanden verschiedene einfache Armbewegungen nachmachen, die entweder ein Avatar oder ein echter Tänzer am Bildschirm vormachte. Dabei sollten sie die Bewegung einmal freudig und einmal traurig gestimmt ausführen. Die Tanzpraxis dauerte knapp 20 Minuten. Die Neurowissenschaftlerin bemerkte: Es machte keinen Unterschied, ob die Personen am Bildschirm von einer echten Person oder vom Avatar angeleitet wurden. Aber, ob sie sich beim Bewegen glücklich oder traurig fühlten, wirkte sich auf ihre Verfassung nach der Tanzeinheit aus. Nach freudigem Tanz waren sie motivierter und packten eine nachfolgende Aufgabe leichter an.

Traurig zu tanzen hatte nicht diesen leistungssteigernden Effekt. “Es könnte aber sein, dass es für Menschen, die tatsächlich gerade traurig sind, erleichternd ist, dem Gefühl im Tanz Ausdruck zu verleihen„, gibt Christensen zu bedenken. “Das wollen wir jetzt weiter untersuchen. Wir wissen bereits, dass Tränen während des Tanzes reich an Prolaktin sind und damit die zwischenmenschliche Bindung fördern – anders als Tränen beim Zwiebelschneiden."

Susanne Donner tanzt Raqs Sharqi mit einem schlichten Holzstock.
Susanne Donner tanzt Raqs Sharqi mit Stock

Gut für die Menschenkenntnis

Im Tanz wird der Körper sehr feinstimmig koordiniert, mithin bis in die Finger etwa im klassisch indischen Bharatanatyam. Besonders tiefgehend ist der Tanz des Ostens Raqs Sharqi, in dem die Wirbelsäule, Becken und Brustkorb in Schwingung versetzt werden. Daran könnte es liegen, dass Tanz grundsätzlich die Innenwahrnehmung, die sogenannte Introzeption, schult. An 20 professionellen Balletttänzerinnen konnte Christensen zeigen, dass sie ihren eigenen Herzschlag viel genauer spüren als andere Personen. Je länger sie tanzten, umso genauer war ihre Innenschau. „Nicht Yoga und nicht Meditation können die Selbstwahrnehmung in dieser Weise fördern, nur Tanz“, urteilt Christensen.

Mit dieser feinen Körperwahrnehmung geht einher, dass Tanzerfahrene ihre Gefühle besser spüren und regulieren können. Zugleich können sie auch die Stimmungen ihrer Mitmenschen treffender erfassen. Verwunderlich ist das eigentlich nicht, sind sie doch gebildet im Tanz als Leibsprache, die den Körper als Gefäß der Gefühle nutzt.

Tanzen verbessert den Gemütszustand von Kranken wie Gesunden

Das geht so weit, dass Personen, die ihren Körper nicht richtig spüren, in besonderer Weise vom Tanz profitieren. Das Gefühl, nicht im eigenen Leib zuhause zu sein, bezeichnen Psychologinnen und Psychologen als Depersonalisation. Sie ist ein Merkmal vieler psychischer Erkrankungen, besonders von Traumata und Depressionen. Die empfohlene medizinische Behandlung aus Verhaltenstherapie und Medikamenten spricht die Beziehung zum eigenen Körper jedoch gar nicht direkt an. Der Psychiater Bruno Müller-Oerlinghausen geht gar davon aus, dass die mangelnde Berücksichtigung der körperlichen Ausprägung psychischer Erkrankungen der Grund ist, weshalb moderne Therapien nicht sonderlich effektiv sind. „In Jahrzehnten meiner Praxis habe ich so viele depressive Patienten gesehen, deren Körper verhärtet sind, die sich nicht spüren und Berührungen nicht richtig wahrnehmen, die sich wenig geschmeidig und schwerfällig bewegen. Darauf muss eine Therapie eingehen, sonst kann sie nicht erfolgreich sein.“

In diesem Wissen entwickelte der Psychologe Guido Orgs vom University College London eigens zwei Tanztrainings für Betroffene. „Eines war eine Art Zumba-Kurs: die Tanzbewegungen waren sehr konkret. Das zweite leitete Tanzbewegungen aus den eigenen Körperempfindungen ab und verlangte mehr Introzeption und Achtsamkeit.“

Orgs hat selbst eine Ausbildung in zeitgenössischem Tanz an der Folkwang Universität der Künste genossen und einige Jahre als Profitänzer gearbeitet, ehe er sich der Psychologie zuwandte. 44 Erkrankte und 36 Gesunde meldeten sich für das zweiwöchige Tanzexperiment. „Das Überraschende war, dass alle – auch die Gesunden – sich in vielen psychologischen Dimensionen deutlich verbesserten: Dazu gehört, dass sie achtsamer wurden. Sie fühlten sich wohler und konnten sich besser spüren“, schildert Orgs. Die konkreten Bewegungen des Zumbaprogramms fielen den meisten allerdings etwas leichter, als den Fokus auf die eigene Körperwahrnehmung zu legen.

Wie effektiv verschiedene Tanzstile die Gesundheit befördern, will Julia Christensen nun in einer gerade angelaufenen groß angelegten Studie genauer ergründen. Sowohl Amateure als auch Profis können an der Onlinebefragung teilnehmen.

Tanzhemmung in Deutschland

Doch in Deutschland führt Tanz neben Kunst und Musik ein Nischendasein. Nur drei Prozent der hiesigen Bevölkerung tanzen. Die Tanzscheu hat ihre Wurzeln auch im Christentum und in der Aufklärung, die beide Körper und Geist als getrennte Einheiten betrachten. Das Geistige beziehungsweise das Geistliche wurde aufgewertet, das Körperliche als triebhaft abgelehnt. In anderen Denkschulen und auch Kulturen bilden Körper und Geist jedoch eine Einheit. Diese historischen Kontexte, in denen ganz unterschiedliche Tanzstile entstanden sind, wirken bis heute fort.

Wer jedoch die kulturelle Hemmung überwunden und das Tanzen für sich entdeckt hat, tritt in eine andere Beziehung zum eigenen Körper und zu den Mitmenschen. Für jene, die der Praxis jahrelang treu bleiben, entwickelt sie sich zu einer großen Quelle der Gesundheit und Lebensqualität. Orgs betont: „Niemand muss tanzen. Aber jene, die tanzen, ernten immer Früchte, umso mehr, je länger sie dabei sind.“

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